Kein Ende der Krise ohne radikalen Kurswechsel
Dr. Sahra Wagenknecht
DIE LINKE, die Krise und der Europawahlkampf
Für ein Ende der Finanz- und "Eurokrise" ist ein sofortiges Ende der Bankenrettungen und ein Umbau des Geld- und Kreditsystems ebenso notwendig wie die Rückkehr zu einem soliden Wachstum, das dauerhaft durch Umverteilung und eine Stärkung der Masseneinkommen gesichert werden muss. Insbesondere die Ablehnung weiterer Bankenrettungen und der Bankenunion muss im Europawahlkampf von DIE LINKE deutlich vertreten werden, sonst wird die AfD als gefährliche national-liberale Partei weiter gestärkt.
Strangulierung der Masseneinkommen als Metaebene der Finanz- und "Eurokrise"
Inzwischen liegt der Beginn der heißen Phase der Finanzkrise mit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers fünf Jahre zurück. Zuvor, in den Jahren vor dem großen Knall, hatte sich lautlos eine gigantische Blase am amerikanischen Immobilienmarkt aufgebaut. Es gab jedoch durchaus Ökonomen, die auf die drohende Gefahr hingewiesen hatten, so wie der gerade gekürte Wirtschaftsnobelpreisträger Robert J. Shiller alias "Dr. Doom". Doch solange die Preise unaufhörlich stiegen, wollte sich niemand die gute Laune mit dunklen Prognosen verderben lassen. Wer von stark wachsenden Vermögen und der laxen Kreditvergabe profitierte, schenkte Kassandrarufen kein Gehör.
Die Ignoranz half allerdings auf Dauer nicht. Irgendwann musste die Illusion, dass überproportional wachsende Schulden grenzenlos bedient werden können, an der Realität zerplatzen. Jetzt konnte nicht mehr verdrängt werden, dass das Wirtschaftswachstum auf Pump gewesen war. Und zwar ganz offensichtlich kalkuliert von der herrschenden Elite eingesetzt, um so ihren Raubzug, die ständige Umverteilung von unten nach oben, zu kaschieren. Denn trotz abnehmender Masseneinkommen konnte mit der Kreditblase die Wirtschaft wenigstens vorübergehend weiter wachsen - auch wenn das Wachstum niedriger ausfiel als in den vorangegangenen Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Der Beginn des neoliberalen Regimes lässt sich an den langen Zahlenreihen der US-Wirtschaft ablesen. Das Verhältnis zwischen Verschuldung und Wirtschaftsleistung war drei Jahrzehnte lang, zwischen 1950 und 1980, nahezu unverändert geblieben. Erst ab Beginn der Amtszeit Ronald Reagans im Jahr 1981 begannen die Schulden sehr viel schneller zu wachsen als die reale Wirtschaft. In der Konsequenz führte dies dazu, dass sich der Quotient aus Gesamtverschuldung und BIP mehr als verdoppelte und im Zuge der Immobilienblase einen vorläufigen Höhepunkt erreichte.
Den Preis für dieses neoliberale "Wachstumsmodell" in Form von Bankenrettungen, enorm steigender Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit zahlte die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der folgenden Wirtschafts- und Finanzkrise. Nicht nur in den USA. Die stark gestiegene öffentliche Verschuldung wurde und wird von Bundeskanzlerin Merkel als Begründung missbraucht, um den europäischen Krisenstaaten extreme Kürzungen der Löhne, Renten und Sozialausgaben zu diktieren. Im Kern ist die Eurokrise damit ein Wurmfortsatz der globalen Finanzkrise. Deutschland kommt dabei jedoch eine Sonderrolle zu, die zusätzlich berücksichtigt werden muss.
Deutscher Sonderweg dank Eurozone
Ein kümmerliches Wachstum trotz strangulierter Masseneinkommen lässt sich außer mit einer extremen Ausweitung der Kreditmenge noch auf eine andere Art erzielen: durch gigantische Exportüberschüsse. Mit der Einführung des Euros im Jahr 2000 begannen die deutschen Handelsüberschüsse stark zu steigen. Das war kein Zufall, denn mit der gemeinsamen Währung konnten die anderen Länder der Eurozone sich nicht mehr mit Abwertungen ihrer Währung gegen die aggressive Steigerung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit schützen. Die Entwicklung der Reallöhne zeigt, dass Deutschland das gnadenlos ausnutzte. In Frankreich beispielsweise stiegen die Reallöhne je Arbeitnehmer in den Jahren zwischen 2000 und 2010 um 12 Prozent. Das entsprach einem moderaten Anstieg, der ziemlich genau der Ausschöpfung des verteilungsneutralen Spielraums entsprach, also der Produktivitätsentwicklung zuzüglich der Zielinflationsrate. In Deutschland dagegen wurde dieser Spielraum bei weitem nicht ausgeschöpft. Im Gegenteil: Der durchschnittliche Reallohn nahm zwischen 2000 und 2010 sogar um rund 4,5 Prozent ab. Mit der Agenda-2010-Politik unter Rot-Grün mit Hartz IV, Leiharbeit und Werkverträgen wurde dieser Weg derartig forciert, dass die aufsummierten Außenhandelsüberschüsse zwischen 2000 und 2010 auf über eine Billion Euro anstiegen.
Mit Merkels Kürzungsdiktat in der Eurozone hat sich die Situation inzwischen verändert. Es sind Tendenzen erkennbar, dass Deutschland von dem einen in das andere neoliberale Wachstumsregime gewechselt ist. Denn in diesem Jahr spielt die Bedeutung der Außenhandelsüberschüsse für das deutsche Mini-Wachstum keine Rolle mehr. Das wird nun stattdessen durch einen Kredit- und Immobilienboom erzeugt, der im Zusammenhang mit den historischen Niedrigzinsen der Europäischen Zentralbank gesehen werden muss. In den Krisenländern dagegen haben sich die Außenhandelsbilanzen zwar verbessert. Die Verbesserung ist aber eine direkte Folge der dortigen Sozial-, Renten- und Lohnkürzungen. Die Importe sinken, weil die Menschen erheblich weniger Geld zur Verfügung haben, und die Exporte steigen teilweise aufgrund der niedrigeren Löhne, weil sich damit die preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten verbessert. Aufgrund der geringen Bedeutung des Außenhandels für die gesamte Wirtschaftsleistung kann damit aber in einigen Krisenländern bisher noch nicht einmal die Rezession beendet, geschweige denn ein solides Wirtschaftswachstum erreicht werden. Ein Herauswachsen aus den Schulden ist so nicht möglich.
Um die Krise dauerhaft zu beenden, müssen drei Dinge geschehen: Erstens müssen die gesamtwirtschaftlichen Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung wieder auf ein tragfähiges Niveau reduziert werden. Zweitens muss der zukünftige Geldschöpfungsprozess wieder öffentlich kontrolliert werden, damit zukünftige Kreditmengenexzesse unterbunden werden können. Und drittens muss das neoliberale Wachstumsmodell durchbrochen und durch eine Stärkung der Massenkaufkraft ersetzt werden.
Trojanisches Pferd Bankenunion
Bereits in Bezug auf den ersten Schritt der skizzierten Herangehensweise zur Bewältigung der Krise ist die herrschende Politik jedoch meilenweit von einer Lösung der Krise entfernt. Um die gesamtwirtschaftlichen Schulden zu reduzieren, sind eine kombinierte Anwendung aus einem Schuldenschnitt bei überschuldeten Staaten und einer konsequenten Haftung von Eigentümern und Gläubigern bei Bankenpleiten nötig. Merkel und ihre Freunde in der EU behaupten dagegen, dass mit der angestrebten Einführung einer Bankenunion auf europäischer Ebene verhindert werden könnte, dass zukünftig Banken mit Steuergeldern gerettet werden müssten. Diese Behauptung bezieht sich auf den Abwicklungsmechanismus für Banken (SRM = Single Resolution Mechanism), der neben dem einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus (SSM = Single Supervisory Mechanism) unter dem Dach der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem einheitlichen Einlagensicherungssystem eine von drei Säulen der Bankenunion sein soll.
Doch schon allein die europäische Verlagerung der Bankenaufsicht auf die EZB ist problematisch. Was ist, wenn die EZB eine Bank aus aufsichtsrechtlichen Gründen schließen müsste, sie aber aus geldpolitischen Gründen mit Notfallhilfen am Leben erhalten will? Noch schwerwiegender erscheint allerdings, dass der Entwurf der SRM-Verordnung, also des Abwicklungsmechanismus für Banken, Regelungen enthält, die in der Konsequenz dazu führen werden, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einem gigantischen Bankenrettungsschirm mutiert. Das hat mehrere Gründe. Erstens enthalten die Regeln für den "Bail-in" - also in welcher Höhe Eigentümer und Gläubiger haften müssen - derartig viele Ausnahmen und Optionen, dass es in der Praxis so zu keiner ausreichenden Beteiligung der Gläubiger kommen wird. Zweitens wird der angestrebte europäische Bankenrettungsfonds, der aus Abgaben der Finanzinstitute gespeist werden soll, in den nächsten Jahren keine Summe erreichen, die zur Bewältigung einer Bankenkrise nötig wäre. Drittens sind als Folge der aktuellen Krise die faulen Kredite in den europäischen Bankbilanzen gigantisch. Sie werden in einigen Studien auf bis zu tausend Milliarden taxiert. Aus diesen drei Punkten folgt, dass der Abwicklungsmechanismus im Rahmen der aktuell diskutierten Bankenunion ein trojanisches Pferd ist, mit dem in Wirklichkeit die bisher als sogenannte Hilfsprogramme getarnten Bankenrettungen auf europäischer Ebene institutionalisiert werden sollen. Die Kosten der Bankenrettung werden damit weiterhin den europäischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern aufgezwungen.
DIE LINKE und der Europawahlkampf
Obwohl die jahrelange Dauerkrise das neoliberale Regime mit seinem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus in eine zunehmende Legitimationskrise zu führen scheint, werden die unpopulären Bankenrettungen in gigantischem Ausmaß weiterbetrieben - nur verdeckt. DIE LINKE muss dagegen gerade im Europawahlkampf klar und öffentlich wirksam Stellung beziehen. Sonst überlässt sie die Menschen mit ihrer berechtigten Wut anderen Parteien.
Wie zum Beispiel der AfD. Sie ist eine national-liberale Partei, die den Ausleseprozess des Marktes verherrlicht und das neoliberale Regime radikal verteidigt. Im Weltbild der Partei muss der "Leistungsträger" vor den "Nutzlosen" geschützt werden. Deshalb soll Arbeitslosen nach dem Vorschlag von Konrad Adam, Vorstandsmitglied der AfD, in Anlehnung an einen alten Vorschlag von Hayek das Wahlrecht entzogen werden. Die Verachtung des Schwachen ist ein geistiges Bindeglied zwischen Neoliberalismus und völkischem Nationalismus. DIE LINKE und die AfD befinden sich daher ideologisch klar in einem antagonistischen Verhältnis. So gesehen erschien die Sorge von Anfang an unverständlich, dass DIE LINKE mit der AfD in einen Topf geworfen werden könnte, nur weil einige Forderungen in Bezug auf die "Eurokrise" ähnlich sind. Der Hintergrund und das den Forderungen zugrunde liegende Politikverständnis bleiben schließlich völlig anders. Trotzdem verzichtete DIE LINKE im Bundestagswahlkampf bei ihren Themen-Plakaten darauf, zu Bankenrettungen und Euro-Krise Stellung zu beziehen - und das, obwohl sie im Bundestag als einzige Partei die sogenannten Rettungspakete konsequent abgelehnt hatte. Stattdessen plakatierte zu diesem Thema dann die AfD mit Slogans wie "Die Griechen leiden. Die Deutschen zahlen. Die Banken kassieren." Bei der Wahl wanderten 340.000 Stimmen, das entspricht 30 Prozent der insgesamt verloren gegangenen Stimmen, zur AfD. Bei der kommenden Wahl gilt es, hier anzusetzen. Um die verloren gegangenen Stimmen zurückzugewinnen und DIE LINKE zu stärken. Nur wenn das gelingt, kann die AfD zukünftig klein gehalten und in ihrer Gefährlichkeit wirksam bekämpft werden.
Dr. Sahra Wagenknecht ist Stellvertretende Parteivorsitzende und Erste Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag