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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Kaschpar mit dem roten Herzen

Erfahrungen eines langen und intensiven Lebens als Schriftsteller und Dramaturg

Armin Stolpers Kaschpar ist, wie Manfred Hockes Archie, eine markante eigenständige Kunstfigur. Beide haben sie, trotz signifikanter individueller Unterschiede, ihre tiefsten Wurzeln in Breslau; und beide sind sie äußerst kritische, links orientierte und streitbare Zeitgenossen. Armin Stolpers "Theaternarr" Kaschpar assoziiert eine Reihe literarischer Figuren: so den Kasper des Puppentheaters oder Gerhart Hauptmanns Kasper-Puppe nebst ihren gesellschaftskritischen Versen, den Schwejk von Jaroslav Hasek oder auch Kalle aus Bertolt Brechts "Flüchtlingsgesprächen" bzw. die philosophischen Narren von Gerhard Branstner. Keine von ihnen dient jedoch als unmittelbares Vorbild, geschweige denn als eine Schablone für Stolpers originären Kaschpar, diesen urwüchsigen Kerl schlesisch-lausitzscher Prägung mit seiner festen und parteinehmenden Bindung an die deutsche Wirklichkeit der Gegenwart. In ihm, der, wie Archie, stark autobiographische Züge trägt, aber weit davon entfernt ist, eine Autobiographie zu sein, realisieren sich die Erfahrungen eines langen und intensiven Lebens als Schriftsteller und Dramaturg.

Der eigentliche Ursprung der Kaschpar-Figur findet sich bei dem oberschlesischen Autor August Scholtis und in dessen Roman "Ostwind". Ihr kleiner Spielzeugbruder sitzt bei Stolpers auf dem Sofa: "... eine Puppe ... hat auf eine rote Zipfelmitze, hat eine rote Mund, hat eine rote Halstuch und auch rote Stiefelchen ... ist eine gute Mensch". Kaschpar mit dem roten Herzen charakterisiert sich selbst als ein "Anti-Egoist". Als politischer Mensch sieht er sich als "evangelisch-katholische Laienbruder in Orden von unvereinigte Rote in ganze Welt". Seine "biedsinnige Geschichten, die er ganz lustig findet", sind leidenschaftliche Beiträge zum tagtäglichen Kampf der Linken für eine menschlichere, eine sozialistische Welt.

Eingeteilt ist das Buch "Kaschpar Theater" in drei Konvolute, die wiederum 66 Geschichten mit 6.666 Einfällen, Fakten, Beobachtungen, Urteilen, Schlußfolgerungen, Verrissen, Lobpreisungen ... enthalten. Eine Überfülle! Einzelheiten zum Inhalt anzuführen, ist geradezu unmöglich, wenn man bedenkt, daß hier mindestens ein halbes Jahrhundert, gespalten durch die so genannte Wende, widergespiegelter widersprüchlicher Wirklichkeit konzentriert und überaus erzählfreudig reflektiert wird: Vielfältige zwischenmenschliche Beziehungen, nachwirkende Konflikte, bewegende Emotionen – alles unvermittelt in lebendige, farbenfroh bewegte Bilder gebracht. Das ureigentliche Problem dieses Buches ist jedoch seine eigenwillige Sprache. Diese, eine Erfindung Armin Stolpers, zeigt sich als aus dem Hochdeutschen geschlüpfte Form, die dem Wasserpolnischen (Stolper spricht vom "Wasserpolackischen") zustrebt – und dies vornehmlich in ihrer Grammatik und in der Wortwahl, dabei saloppe umgangssprachliche und auch vulgäre Ausdrücke sowie alltägliche originalsprachige Fügungen aus dem Polnischen einschließend. Für den Leser, der zunächst verblüfft vor diesem Phänomen steht, heißt das Übertragung von Form und Inhalt des Erzählten in die gewohnte hochdeutsche Norm, was eigentlich eine doppelte Lektüre erfordert.

Hinzu kommt eine weitere Besonderheit. Stolper hat zwischen der Autoren- und der Figurenrede bewußt keine deutliche Grenze gezogen und obendrein die Erzählhaltungen vermischt. – Außerordentlich mitteilungsreich sind die Dialoge und Monologe, die Kaschpar führt. Auffallend ist seine ererbte Fähigkeit, vom Hundertsten ins Tausendste zu verfallen und dabei dennoch das gesteckte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. In einer der Selbstbetrachtungen Kaschpars, die einen Blick auf seine Herkunft, seinen Lebensweg und auch seine Sprache freigibt, heißt es: "Na scheen, kennte Kaschpar sagen, habe er nicht nur zwei, sondern sogar mehrere Nationalitäten; sei er Schlesier, also Esterreicher, dann Preiße, dann Junge von Ostzone und später in DDR und schließlich heimgeholt ins Reich, also Bundesdeitscher ..." Es ist im übrigen eine bemerkenswerte Leistung des Autors, dieses unterhaltsame Sprachexperiment auf 445 Seiten ohne zu erlahmen und konsequent erzählerisch durchgehalten zu haben. Armin Stolpers "Kaschpar Theater" ist ein außerordentliches Buch, das einen gesellschaftskritisch und kulturgeschichtlich größeren Tiefgang besitzt, als es der erste Blick hinein vermuten läßt. Obwohl seine Lektüre sicherlich nicht jedermanns Sache sein dürfte, bereitet es Lust und Freude, dem Kaschpar unvoreingenommen zu begegnen und sich mit diesem "plebejisch-schlesischen, deutschen demokratischen Menschen" ernsthaft zu befassen.

Bernhard Igel, Aus: "Unsere Zeit", 8. April 2011.
Armin Stolper: Kaschpar Theater, GNN Verlag, Schkeuditz 2010, 445 Seiten, 19 Euro, ISBN 978-3-89819-344-3.