Karl Marx weiterdenken!
Dr. Ingeborg Dummer, Berlin
Als wir den 200. Geburtstag von Karl Marx begingen, war deutlich zu spüren, was Marx vielen Menschen bedeutet: Abkehr vom kapitalistischen System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Marx gab und gibt Menschen in der ganzen Welt Hoffnung auf eine friedliche, freie, gerechte und solidarische Gesellschaftsordnung. Aber reicht es heute, ihn zu verehren und zu lesen?
Als Kommunist und Revolutionär erkannte er früh, dass die Grundlage jeder Gesellschaft die Ökonomie ist. Deshalb konzentrierte er sich in England auf die ökonomische Wissenschaft und knüpfte an die bereits mehr als 100 Jahre vorliegenden ökonomischen Erkenntnisse und Überlegungen an, von denen die bekanntesten die von Adam Smith und David Ricardo sind. Mit seinem Hauptwerk »Das Kapital« legte er die Funktionsweise des kapitalistischen Systems bis in alle Einzelheiten dar und machte klar, dass der gesamte Reichtum der Gesellschaft aus der Arbeit der Arbeiter stammt. Der Reichtum der kapitalistischen Eigentümer an Produktionsmitteln stammt aus dem unbezahlten Teil der Arbeit- dem Mehrwert.
Im »Kapital« entwickelte Marx seine Werttheorie und damit Gesetzmäßigkeiten, die sich im Zusammenleben der Menschen bei arbeitsteiliger Produktion objektiv durchsetzen, und zwar relativ unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Nach Fertigstellung dieses grandiosen Werkes untermauerte er seine Erkenntnisse mit der Erörterung der Auseinandersetzungen in ökonomischen Schriften seit dem 17. Jahrhundert [1].
Er hätte noch ein solch arbeitsreiches Leben benötigt, um darzulegen, wie eine Gesellschaft ohne Kapitalismus ökonomisch funktionieren müsste. Diese Aufgabe musste er der Nachwelt überlassen.
Hat das die Nachwelt verstanden? Die Nachwelt hatte und hat reichlich damit zu tun, das Marxsche Werk zu lesen und noch einmal zu lesen, um die Zusammenhänge und von Marx herausgearbeitete ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Marx selbst hat einmal aus seiner Werttheorie die Schlussfolgerung gezogen, dass »nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Produktion die Wertbestimmung vorherrschend in dem Sinn (bleibt), daß die Reglung der Arbeitszeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die verschiedenen Produktionsgruppen, endlich die Buchführung hierüber, wesentlicher denn je wird«. [2]
Wurden diese Zeilen immer überlesen? In der ganzen Zeit des ersten sozialistischen Versuchs wurden sie nicht erwähnt. Generationen von Ökonomen und Politikern haben daran gearbeitet. Aber Marx muss weitergedacht werden!
Wohl als Erster hat es W. I. Lenin getan. Nachdem die Macht der Bolschewiki erkämpft worden war, begriff Lenin, dass das normale tägliche Leben der Menschen weitergehen musste. Die Menschen mussten essen, wohnen, arbeiten usw. Demzufolge mussten zur Befriedigung dieser normalen menschlichen Bedürfnisse Gebrauchsgüter hergestellt werden. Lenin erkannte diese Notwendigkeit, ging bei Marx in die Lehre und entwickelte seine »Neue ökonomische Politik« (NÖP). Er legte damit klar, wie auf der Grundlage des Volkseigentums an Grund und Boden, an Betrieben und Anlagen planmäßig und rationell produziert werden müsse.
Leider war auch Lenin nur ein Mensch. Er wurde krank und verstarb, bevor er die NÖP durchsetzen konnte. Die ihm folgten verstanden diese Ökonomie offenbar nicht, so dass die Wirtschaft der Sowjetunion nur unter großen Schwierigkeiten vorankam. Diese Leninsche NÖP war der erste Schritt zu einem ökonomischen System für die vom Kapital befreite Gesellschaft.
Nach dem Sieg der Sowjetarmee über dem Hitlerfaschismus konnte in der sowjetischen Besatzungszone und in anderen europäischen Ländern auch der Kapitalismus überwunden werden. Die Enteignung der kapitalistischen Betriebe ging hier im Osten Deutschlands durchaus demokratisch vor sich. Die Belegschaften stimmten jeweils über ihre Eigentümer ab. Nach den bitteren Kriegs- und Faschismuserfahrungen war klar, dass sich die Mehrheit für Enteignung entschied und es wurde mit aller Kraft ein neues Leben aufgebaut, Planwirtschaft eingeführt und viel gelernt.
Werttheorie von Marx
Schon in folgenden Jahren musste arbeitsteilig produziert und ausgetauscht werden, was die Anwendung der Werttheorie von Marx erforderlich gemacht hätte. Der gesellschaftliche Reproduktionsprozess in seinen vier Phasen: Produktion, Zirkulation, Distribution und Konsumtion – wie von Marx für den Kapitalismus beschrieben – war weiterhin notwendig. Jetzt musste dieser Prozess jedoch gesellschaftlich beherrscht werden.
Die Wertrechnung wurde weder in der Sowjetunion noch in der DDR beachtet. Man kann den Eindruck haben, die Werttheorie von Marx wurde in der DDR nur von wenigen Ökonomen verstanden. Einer von ihnen war Fritz Behrens, sowie sein Mitarbeiter Arne Benary.
Diese beiden traten vor allem für die Gestaltung der Warenpreise nach ihren Werten ein, wie es die Wertrechnung erfordert. Dafür wurden sie als »Revisionisten« kritisiert. Fritz Behrens wurde 1962 seiner Funktion in der Akademie der Wissenschaften enthoben.
In der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurde auf Initiative Walter Ulbricht eine Gruppe von Ökonomen gebildet, die ein »Neues ökonomisches System« (NÖS) entwickelten, welches vor allem den Wirtschaftseinheiten etwas mehr Selbständigkeit gab. Dies löste bei Ökonomen und anderen Funktionären große Begeisterung aus.
Wenig später wurde das System noch ergänzt und dann »Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL) genannt. Über dieses System wurde ein wichtiges Buch veröffentlicht.
Das war ein weiterer Schritt, anzuerkennen, dass im Sozialismus Warenproduktion herrscht. Damit eine arbeitsteilige Produktion möglich ist, muss Warenproduktion und Warenaustausch, also Handel, Geld, Kredit usw. stattfinden.
Bevor er das »NÖSPL« umsetzen konnte, wurde Ulbricht krank und verstarb. Gingen nun die Nachkommen diesen Weg weiter? Nein, im Gegenteil! Das Buch über das NÖS wurde aus dem Verkehr gezogen. Die Ökonomen, welche daran mitgearbeitet hatten, wurden zum Teil von ihren Funktionen entbunden. Begründet wurde das manchmal damit, dass in diesem Werk die Erfahrungen der Sowjetunion nicht genügend berücksichtigt worden seien.
Auf dem Parteitag der SED 1971 wurde eine neue »Wirtschafts- und Sozialpolitik« verkündet, die mit der Marxschen Werttheorie kaum etwas zu tun hatte. In dieser hatte Marx jedoch die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten einer Waren produzierenden Gesellschaft akribisch erforscht und dargelegt.
Es gehört heute zur Allgemeinbildung, dass die Menschen vor Jahrtausenden schon erkannten, dass der Einzelne mit seiner Kraft mehr Dinge herstellen kann, als er selbst verbraucht; seien es nun Nahrungsmittel, Kleidung oder anderes. So begann die Arbeitsteilung. Jeder erarbeitete das, was er am besten konnte. Damit wurde es natürlich notwendig, die Produkte untereinander auszutauschen. Aus der Arbeitsteilung ergaben sich also der Warenaustausch, Marktbeziehungen, Geld usw. Erst aus dieser einfachen Warenproduktion entwickelte sich das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches die Grundlage für die kapitalistische Gesellschaftsordnung darstellt.
Die alten Kommunisten erstrebten eine Gesellschaft, die allen Menschen ein glückliches Leben sichert: frei von Ausbeutung, frei von allen Fesseln und Zwängen und in brüderlicher Verbundenheit miteinander. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diese Losung der französischen Revolution hatte alle erfasst. Das Kommunistische Manifest gab den arbeitenden und ausgebeuteten Menschen Orientierung für den Kampf um eine klassenlose Gesellschaft.
Diese Kommunisten leiteten nach dem Sieg der Sowjetarmee über den Hitler-Faschismus 1945 im Osten Deutschlands den Wiederaufbau an. Sie kamen z.T. aus der Emigration, z.T. auch als Überlebende aus den Konzentrationslagern; letztere ausgemergelt, aber ungebrochen. Alle hatten den Willen, nun eine bessere Welt aufzubauen, die ihren großen Idealen entsprach.
Der Mehrwert und das Eigentum an Produktionsmitteln
1946 vereinten sich die Kommunisten mit den Sozialdemokraten zur Sozialistischen Einheitspartei (SED). Bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen wurden die sozialen Verhältnisse dennoch so gut gestaltet, dass sich das kapitalistische Westdeutschland veranlasst sah, eine »Soziale Marktwirtschaft« einzuführen.
Der Warenaustausch war jedoch noch nicht alles, was in einer auf den Kapitalismus folgenden Gesellschaft von der Werttheorie anzuwenden ist. Selbstverständlich wird auch in einer sozialistischen Gesellschaft Mehrwert produziert. Dank der veränderten Eigentumsverhältnisse kommt nun dieser Mehrwert nicht mehr einzelnen Personen oder Personengruppen, sondern der gesamten Gesellschaft zugute. Der Mehrwert ist nichts anderes als der ökonomische Ausdruck der Schöpferkraft des Menschen. Der Mensch ist das einzige Wesen, welches mit seiner Arbeit mehr Wert hervorbringt, als er selbst zur gleichen Zeit verbraucht. Die Arbeitskraft des Menschen ist also allein die Kraft, die alles erzeugt, vermehrt, voranbringt und weiterentwickelt. Es ist nicht Gott und auch nicht das Geld, was alles schafft, sondern die Natur und die Natur des Menschen.
Die Arbeitskraft ist der Begriff für die Fähigkeiten des einzelnen Menschen, die ihren Wert bestimmen. Zur Werttheorie gehören natürlich auch die Löhne. Sie sind zu zahlen, damit der Arbeiter seine Arbeitskraft reproduzieren kann. Die Arbeitskraft ist eine eigenständige Wertform, die man mittels Löhne mit Waren austauschen muss. Sie ist aber keine Ware. [3]
Abschließend bleibt die Feststellung, dass die Marxsche Werttheorie eine historische Leistung darstellt, die den Weg in einen entwickelteren Sozialismus und vielleicht weiter hätte ebnen können. Es gehört zur Tragik der Entwicklungsgeschichte des Menschen, dass so die Chancen, in fast einem Drittel der Erde über den Kapitalismus hinaus zu gehen, verspielt wurden.
Aus dem Fehlen einer Werterechnung lernen
Als 1949 die DDR gegründet war, wurde die Planwirtschaft aufgebaut. Eine gute Grundlage waren die Fünfjahrpläne. Allerdings wurde damals die Planwirtschaft als Gegensatz zur Marktwirtschaft aufgefasst. Mit der Überwindung des Kapitalismus glaubte man, auch die Warenproduktion und den Warenaustausch auf dem Markt hinter sich lassen zu können. Das aber war ein Grundfehler des sozialistischen Versuchs.
Es war vor allem zentrale Planung, die den Betrieben oft detaillierte Produktionsziele vorgab, was die Möglichkeiten der Produktion einengte. Mit dem Neuen ökonomischen System (NÖS) sollte das korrigiert werden, was leider nicht realisiert wurde. Ein entscheidender Mangel der Planwirtschaft war allerdings das Fehlen der Werterechnung, wie es Marx verlangte.
Werte sind zwar abstrakte Größen, doch in ihren konkreten Erscheinungsformen, wie Kosten, Preise und Löhne, sind sie annähernd zu ermitteln und ihre Beachtung ist erforderlich, um z.B. die Rentabilität der Volkswirtschaft zu erhalten. Damit hätte die Verschuldung der DDR vermieden werden können, was neben mangelnder Demokratie eine objektive Ursache ihres Versagens war.
Im Übrigen wurden in der DDR bedeutende Erfahrungen in der Planung gesellschaftlicher Unternehmen gesammelt. Der langjährige Wirtschaftswissenschaftler Klaus Steinitz, in der DDR auf dem Gebiet der Planung tätig, hat seine reichhaltigen positiven und auch negativen Erfahrungen in mehreren Büchern dargelegt. [4] Die von ihm dargestellten Erfahrungen, verbunden mit der Marxschen Werttheorie, könnten eine realistische Theorie der sozialistischen Ökonomie begründen.
Und was soll nun mit den Idealen des Kommunismus werden? Es wird höchste Zeit, diese Ideale wieder in das reale Leben zurückzurufen und zu konkretisieren. Wir sprechen von einer sozialistischen Gesellschaft.
Frieden und Schutz der Umwelt – was gibt es Dringenderes? Früher nannte man es friedliches Zusammenleben der Menschen im Einklang mit der Natur, d.h. friedliches Zusammenleben der Menschen, auch international. Rüstung und Militär wären dann nicht mehr notwendig. Also: Abrüstung statt Aufrüstung!
Freiheit bedeutet heute vor allem: Freiheit von der Herrschaft des Geldes, des Großkapitals. Gesellschaftliches Eigentum an den großen Produktionsstätten, der Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Infrastruktur. Das Geld spielt seine Rolle als Wertausdruck und Vermittler des Austauschs. Gerechtigkeit heißt: die Menschen an gleichem Maßstab zu messen. Auf ökonomischem Gebiet kann das nur der Wertmaßstab sein.
Bei gesellschaftlichem Eigentum der Produktionsmittel und zunehmender Beherrschung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses können sich die Lebensverhältnisse der Menschen allmählich mehr angleichen, wobei sich ihre individuell unterschiedlichen Anlagen, Kräfte und Fähigkeiten weiter entfalten können.
Die Menschen könnten freundschaftlich und respektvoll miteinander umgehen. Die organisierte Arbeit jedes gesunden und erwachsenen Menschen für und in der Gesellschaft wird bei gesellschaftlicher, sozialistischer Produktionsweise nicht nur zur Selbstverständlichkeit, sondern mehr und mehr zum Lebensbedürfnis, weil sich durch diese Teilnahme die Kräfte und Fähigkeiten des einzelnen Menschen am besten entwickeln können. Die gesellschaftliche Anerkennung des durch Erfahrung und Bildung steigenden Wertes der Arbeitskraft und ihre ökonomische Beherrschung werden dafür sorgen, dass alle Menschen weitgehend ohne materielle Sorgen leben können.
Die Menschen können alles haben, was sie zum Leben brauchen, müssen aber nicht Alles haben wollen. Voraussetzung eines solchen idealen Zusammenlebens bleibt jedoch, dass wir gemeinsam im 21. Jahrhundert den Frieden und die Umwelt retten können. Die dazwischen verbleibende Zeit sollte jedoch u.a. genutzt werden, um die Kenntnisse und das Verständnis der Marxschen Werttheorie zu festigen und durch ökonomische Bildung zu verbreiten.
Anmerkungen:
[1] Siehe »Theorien über den Mehrwert«; MEW Bd. 26 Teil 1-3.
[2] K. Marx: »Das Kapital« in MEW 25, S. 859.
[3] Darüber habe ich in den Broschüren »Die Arbeitskraft – eine Ware?« (1997) und »Gerechte Verteilung« (2012), die beide im VSA-Verlag in Hamburg erschienen sind, geschrieben.
[4] So z.B. Klaus Steinitz: Zukunftsfähiger Sozialismus im 21. Jahrhundert – Herausforderungen an eine sozial-ökologisch nachhaltige gesellschaftliche Produktionsweise (2018, VSA-Verlag) und Klaus Steinitz / Dieter Walter: Plan – Markt – Demokratie Prognose und langfristige Planung in der DDR, Schlussfolgerungen für morgen (2014, VSA-Verlag).