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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Kapitalismus und Demokratie, das ist keine Liebesheirat

Dr. Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

Sahra Wagenknecht hielt auf der XXI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 9. Januar 2016 eine etwa 50minütige programmatische Rede. Wir veröffentlichen daraus [1] eine Passage, in der sie die fortschreitende Entdemokratisierung in Europa beschreibt:

(...) Jetzt ist gerade wieder gesagt worden, Die Linke müsse doch, schon um die Gefahr eines Rechtstrends in Deutschland zu verhindern, mehr für »Rot-Rot-Grün« werben. (…) Ich finde diese Ansicht merkwürdig. Was hat den Rechtstrend europaweit in erster Linie gestärkt, oder was ist in vielen Ländern vorgefallen, in denen rechte Parteien stark geworden sind? Es ist vorgefallen, dass linke Parteien in Regierungen gegangen sind und keine linke Politik gemacht haben und deswegen sehr, sehr viele Menschen enttäuscht waren – und dann rechten Rattenfängern auf den Leim gegangen sind. Das haben wir in vielen Ländern erlebt. Ich erinnere nur beispielsweise an Italien. Da gab es auch mal eine Partei, die wirklich links war und sehr viele Hoffnungen auf sich zog. Das war damals die Rifondazione. Es hat ein halbes Jahr Regieren gebraucht, um diese Partei quasi dem Erdboden gleichzumachen. Bis heute ist die italienische Linke nicht wieder auf die Beine gekommen. (…) Wenn wir in Deutschland etwas gegen den Rechtstrend, den es ja hier inzwischen auch schon ganz massiv gibt, tun wollen, dann wäre [es] das letzte, dass die Linke in einer Regierung ihre Glaubwürdigkeit verspielt. (…)

2013 fehlte in Europa 50 Millionen Menschen das Geld, um ihre Wohnungen zu beheizen oder unvorhergesehene Ausgaben zu tätigen. (…) Die Jugendarbeitslosigkeit ist bekannt: zwischen 40% in Italien und 60% in Spanien, dazwischen Griechenland 50%. Das heißt: Eine ganze Generation hat überhaupt keine Perspektive. (...)

Aber auch in Europa ist die Krise nicht für alle ein Desaster. Die Zahl europäischer Milliardäre hat sich allein seit 2009 verdoppelt. Und damit ist natürlich auch klar, dass hier nicht einfach nur Krise ausgelebt wird. Sondern, hier wird ein Programm durchgezogen. Hier wird ein Programm durchgezogen, mit dem die europäischen Gesellschaften umgebaut werden, und zwar so, wie man es ohne die Krise niemals geschafft hätte. Aber es ist nicht die Krise, die die Leute verarmt, es ist nicht die Krise, die die Milliardäre dazu bringt, sich zu verdoppeln. Sondern es ist die Politik, die wir heute in Europa erleben und die die Weichen so stellt, um die zu entmachten, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen und die immer reicher zu machen, die auf ihren großen Kapitalpolstern sitzen. Das ist die europäische Politik, die Politik in den einzelnen Ländern Europas, aber es ist auch die Politik in den europäischen Institutionen. Es gehört nämlich beides zusammen. Und so erst hat man Europa zu einem solchen neoliberalen Projekt gemacht. (...)

In Europa ist es aber noch schlimmer. Man braucht nicht nur Partner, man braucht Rahmenbedingungen, um überhaupt wieder Handlungsspielräume zu haben und einen gewissen Grad an Souveränität, um andere Prioritäten überhaupt setzen zu können. Und genau das ist es, was sich in fast 30 Jahren, in denen das verfolgt wurde, immer mehr verengt hat: die Spielräume, die einzelne Regierungen überhaupt noch haben, um andere Maßstäbe und andere Prioritäten, und eine nichtliberale Politik durchzusetzen. Das hat man sehr bewusst gemacht und ich glaube, das war auch eines der wesentlichen Projekte, die zumindest seit dem Mastricht-Vertrag in Europa dahinterstehen. Und zwar geht es im Kern darum, Politik zu entdemokratisieren. Nicht nur auf die indirekte Weise, (also indirekt haben wir eine Entdemokratisierung schon allein auf Grund der Machtverhältnisse) sondern:

Es geht nicht nur um [die] faktische Entdemokratisierung, die gibt es ja im Kapitalismus immer. Sondern es geht darum, tatsächlich das, was an formaler Demokratie in den einzelnen Ländern erkämpft wurde, durch internationale Verträge und übernationale Institutionen so weit einzuschnüren, dass die Politik quasi immunisiert wird gegen Wahlentscheidungen. Also, die Leute können dann wählen, was sie wollen, aber die Politik hat kaum noch eine Chance, etwas anderes durchzusetzen als eine Politik, die den Interessen der Kapitaleigner dient.

Und das ist tatsächlich ein Projekt, das älter ist als die EU. Natürlich, das ist etwas, das hat der Kapitalismus, seit er diese formalen, demokratischen Formen hat. (…) Kapitalismus und Demokratie, das ist keine Liebesheirat, sondern eine Zwangsehe – immer gewesen. Man hat ihm sozusagen Demokratie abgerungen, die demokratischen Institutionen. Und es hat auch etwas damit zu tun, dass Kapitalismus natürlich bedeutet, dass in der Wirtschaft die Rendite das ausschlaggebende Kriterium ist. Und Demokratie bedeutet, dass die Interessen der Mehrheit sich durchsetzen. Ja, wenn die Interessen der Mehrheit sich durchsetzen, oder je mehr sie das tun, desto schlechter ist natürlich die Kapitalrendite. Denn die Mehrheit kriegt keine Kapitalrendite, die Mehrheit steht auf der anderen Seite – also, es passt nicht zusammen. Ein wirklich demokratischer Kapitalismus ist eigentlich einer, der sich aufhebt. (…)

Und deshalb hat man immer wieder Mechanismen gesucht, um Politik Handlungsmöglichkeiten zu nehmen. Im 19. Jahrhundert [gab es in Europa] noch Stände- und Klassenwahlrecht und vermögensabhängige Stimmabgabe. Da war sozusagen von der Seite des Kapitalismus die Welt noch heil. (…) In den USA war es anders, dort bestand allgemeines Wahlrecht. Und dort hat sich ein Trick etabliert, den wir heute auf andere Art immer wieder erleben und auch kennen. Nämlich über Gerichtsentscheidungen – wir kennen das in Europa über den EuGH – politische Entscheidungen die eigentlich demokratisch legitimiert waren, aufzuheben. Und zwar wurden in den USA vom Obersten Gerichtshof in der Regel mit Verweis auf Vertragsfreiheit und Unverletzbarkeit des Eigentums elementare Dinge, die einzelne Bundesstaaten in den USA versucht haben, im Interesse der Arbeitnehmer zu regeln, immer wieder aufgehoben. Es wurde zum Beispiel gesagt: Es widerspricht der Vertragsfreiheit eines Eigentümers und seinem Eigentumsrecht, wenn er seinen Arbeitnehmern nicht vorschreiben darf, dass sie gefälligst in keiner Gewerkschaft zu sein haben. Oder es wurden auch Gesetze aufgehoben, worin es um Mindestlöhne oder Begrenzung der Arbeitszeit ging. Es war damals eine Rechtssprechung des Obersten Gerichtshofs, des Suprime Court der USA, die gesagt hat: Das darf die Demokratie nicht. Die darf nicht anfangen, im Arbeitsrecht oder in der Wirtschaft zu regulieren.

Im 20. Jahrhundert ist natürlich vieles trotzdem erkämpft worden. Da gab es ja auch irgendwann die Einsicht, dass es zumindest eine Sozialbindung des Eigentums geben kann und vieles andere mehr. Das heißt, wir haben dann nach dem Zweiten Weltkrieg in gewisser Hinsicht schon formale Demokratien gehabt, also demokratische Strukturen, allgemeines Wahlrecht und auch Regeln der Politik, die sich ja durchaus in die Wirtschaft eingemischt haben. Und das war die Zeit, als der liberale Fundamentalist August von Hayek anfing, darüber nachzudenken, was man dagegensetzen kann, weil er das Gefühl hatte, das geht schlecht aus. Also, je demokratischer das wird, desto schlechter für die Kapitalrendite – also brauchen wir ein Projekt, das dieses Rad wieder zurückrollt. Und er hat interessanterweise in einem Aufsatz als Projekt für Europa tatsächlich transnationale europäische Strukturen empfohlen, die es dann schaffen, den einzelnen Ländern bestimmte Rahmen vorzugeben, so dass sie nicht mehr eine Politik machen können, die nicht neoliberal ist. Das ist im Grunde das, was spätestens seit dem Maastricht-Vertrag das europäische, das EU-Projekt, kennzeichnet. (…) Dann kam der Euro (...)

So, wie der Euro konstruiert wurde, war er bewusst konstruiert, Lohndumping in Euro-Europa zu befördern. Das war der Hintergrund und war kein Zufall und kein Nebenprodukt. Und das bedeutet aber natürlich für Europa: Wir haben nicht nur deshalb neoliberale Politik in Europa, weil wir neoliberale Regierungen haben, das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass wir auch deshalb neoliberale Politik haben, weil wir neoliberale Verträge und neoliberale Institutionen etabliert haben, die jetzt auch Regierungen, die eigentlich was anderes wollen, Vorschriften machen können und davon auch weidlich Gebrauch machen. Wir haben es doch alle in Griechenland erlebt. Also, in Griechenland ist ja nun der Beweis erbracht worden, dass man heutzutage für Staatsstreiche keine Panzer mehr braucht, sondern dass es reicht, wenn man Mario Draghi an seiner Seite hat und die Banken. So kann man im Grunde eine Regierung wirklich völlig auflaufen lassen. Und das heißt natürlich auch, und ich finde, darüber müssen wir als Linke diskutieren, wenn wir über die Aufgaben von Linken in Europa und Deutschland diskutieren: Es gibt ohne einen Plan B in Europa derzeit keine linke Politik. Und die Probleme Griechenlands würden sich genauso in Spanien, in Portugal oder in anderen Ländern stellen, weil die Institutionen so geschaffen wurden, um diesen Regierungen alle Möglichkeiten zu nehmen. (…)

Es ist auch Kern einer Linken, diese europäischen Verträge, so wie sie gemacht wurden, in Frage zu stellen. Oder ich würde sogar noch weitergehen, weil man immer sagt, das sei dann antieuropäisch. Für mich ist Demokratie ein ganz elementarer europäischer Wert. Verträge, die die Demokratie aushebeln, sind antieuropäisch. Diese EU ist antieuropäisch, und ich finde, das sollten Linke aussprechen.

Natürlich gibt es sogar noch Schlimmeres als die europäischen Verträge, und das noch Schlimmere, das machen allerdings zur Zeit auch die europäischen Institutionen oder treiben es voran, auch die deutsche Regierung: Das sind sogenannte Freihandelsverträge von der Art TTIP und CETA. Das ist dann natürlich sozusagen die ultimative Verwirklichung des Hayek-Programms, weil das bedeutet, dass die Demokratie gar nichts mehr und die Konzerne alles zu sagen haben. (...) Wenn man Demokratie verteidigen will, muss man solche Verträge kompromisslos ablehnen. (…)

Anmerkung:

[1] Vollständig nachzuhören in: www.rosa-luxemburg-konferenz.de/de/videos.