Juni 1953
Stefan Heym (1913-2001)
Die Stimme aus dem Lautsprecher, verhalten und korrekt, sprach von den Ereignissen in Ost-Berlin, von drohendem Generalstreik. Das weitere Programm des Senders, so erklärte die Stimme, werde nach Bedarf unterbrochen werden, um dem Hörer die jeweils neuesten Nachrichten über die Entwicklung sowie Kommentare zu bringen.
"Stell's ab."
Ein leises Klicken, dann Stille. Witte dachte an den leeren Tisch, der auf dem Platz vor dem Haus der Ministerien zurückgeblieben war; die Jacke, die das Mädchen sich vom Leib gerissen hatte, lag immer noch darauf. Und dann die gespenstische halbe Stunde, in der nichts geschah, vom Hause her nichts, von der Demonstration her nichts, man wartete, keiner wußte, worauf, die Leute fingen an wegzugehen, und er hoffte, vielleicht verläuft sich alles doch wieder. Aber schließlich wurden die Anführer aktiv, der Zug formierte sich von neuem und marschierte ab, mit sämtlichen Transparenten und Nieder mit den Normen! rufend, obwohl der Minister erklärt hatte, die Normerhöhung werde zurückgezogen; es ging auch gar nicht mehr um die Normen. [...]
"Wissen Sie", sagte er, "es gibt Tage, da treffen sich die Linien der Entwicklung wie im Brennpunkt einer Linse, und auch das, was wir nicht wahrhaben wollen, wird sichtbar."
Sie nickte mehrmals, wie um zu betonen, daß sie ihn durchaus verstünde.
"Wir haben eine Niederlage erlitten"‚ fuhr er fort, "und einen Sieg errungen, beides. Sieg und Niederlage sind relative Begriffe; alles hängt davon ab, was wir aus unserem Sieg machen, und wieviel wir aus unsrer Niederlage lernen."
"Ja", sagte sie, "darauf kommt es wohl an."
Er blickte auf; aber jede Ironie war ihr fern. "Heut in der Stadt", sagte er, "hat mir einer vorgehalten: Hättet ihr früher auf uns gehört, dann wäre vieles nicht geschehen. Sie kennen mich, Fränzchen, ich halte von Statuten und Verfassungen nur insofern etwas, als man sie mit Leben erfüllt. Aber vielleicht könnte man ins Statut unsrer Partei einen Artikel aufnehmen, der die Schönfärberei verbietet und die öffentliche Verehrung einiger Genossen, und der alle Mitglieder zu furchtloser Kritik verpflichtet und jeden bestraft, der diese Kritik zu unterdrücken sucht ..."
Der Kessel begann zu singen; sie goß den Tee auf.
"Andererseits macht, wer zum Umdenken mahnt, sich selten beliebt", fuhr er fort. "Die Weltgeschichte hat sich den Spaß erlaubt, von uns zu verlangen, daß wir den Sozialismus in einem Drittel eines geteilten Landes aufbauen, und das mit Menschen, die sich den Sozialismus keineswegs alle gewünscht haben. Wieviel von der Abneigung gegen die Partei hat seinen Grund nicht in ihren Fehlern, sondern in ihren Zielen?"
Sie wurde rot, vor Eifer, oder weil sie sich geehrt fühlte, daß er ihr so schwer zu beantwortende Fragen stellte. Aber er schien keine Antwort erwartet zu haben. Sie hörte ihn vor sich hin lachen: "Das ist ein hübscher Gedanke - vielleicht sollte die Regierung sich ein anderes Volk wählen. Aber auch das Volk kann sich keine andere Regierung wählen; eine andre Regierung wäre keine Arbeiterregierung. Was bleibt als Möglichkeit: vielleicht andere Arbeiter in die Arbeiterregierung ... Fränzchen, Sie haben Ihre Zigarette ausgehen lassen."
Sie wurde verlegen. Er hielt ihr das Päckchen hin; sie lehnte dankend ab, beschäftigte sich mit Tassen und Untertassen, legte ihm eine Serviette auf den Schreibtisch, alles sollte sauber und nett sein, soweit es sich machen ließ.
"Trotz ihrer Fehler und Mängel", sagte er, "es gibt nur die eine Partei, nur die eine Fahne. Ich meine das nicht als Freibrief für all die Feiglinge, Dummköpfe, Schönfärber und Beamtenseelen‚ an denen es bei uns in der Partei nicht mangelt. Ich meine es als Verpflichtung für Genossen mit Herz, aus dieser Partei ihre Partei zu machen ..."
Sie goß ihm den Tee ein. "Trinken Sie, Kollege Witte"‚ sagte sie, "das beruhigt unge-mein."
Er dankte ihr, drückte seine Zigarette aus, trank. Dann sprang er auf und begann, hin und her zu gehen. "Wir vereinfachen so gerne: die Arbeiter, unsere Menschen, die Jugend, die Klasse - als wären es lauter Schafherden‚ die man hierhin treiben kann oder dorthin. In Wirklichkeit sind das alles Menschen, Einzelwesen‚ im Falle der Arbeiterklasse geeint nur durch eines: ihre Stellung in der Gesellschaft, im Arbeitsprozeß. Aber das garantiert noch kein einheitliches Verhalten. Die einen haben heut gestreikt‚ die andern nicht; was wissen wir, wie viele Faktoren das Bewußtsein beeinflussen ... Die Arbeiterklasse, sagen wir, sei die führende Klasse und die Partei die führende Kraft der Klasse. Offensichtlich muß es Menschen geben, die stellvertretend auftreten für die führende Klasse und deren führende Kraft. Aber wer verhindert, daß sie, stellvertretend, nur noch sich selbst vertreten? ... Mit der Macht darf nicht gespielt werden, hat neulich einer gesagt, ein führender Genosse. Spielt der mit der Macht, der danach strebt, ihr eine breitere Grundlage zu geben? Kader sind gut, Polizei ist nützlich, noch wichtiger aber sind das Verständnis und die Unterstüt-zung der Massen ... Natürlich muß man auch den Mut haben, das Unpopuläre zu tun. Die Minderheit von heute wird zur Mehrheit von morgen, wenn sie die Logik der Geschichte auf ihrer Seite hat. Ich weigere mich zu glauben, daß Menschen, die moderne Maschinen bedienen und den Produktionsablauf beherrschen, nicht imstande sein sollten - wenn man sie richtig informiert -, über die eigne Nasenspitze hinaus zu blicken."
Er blieb stehen, trank den lauwarmen Rest Tee in seiner Tasse. Ich hab den Eindruck, Fränzchen, ich rede zuviel." [...]
Aus "5 Tage im Juni", Fischer Taschenbuch Verlag, Januar 1977, S. 162 und 260-262. Erstveröffentlichung in der DDR: 1989. - Geboren am 10. April 1913, wäre der Schriftsteller, Kämpfer gegen den Faschismus und parteilose Sozialist Stefan Heym, der Alterspräsident des 13. deutschen Bundestages, in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden.