Jürgen Kuczynski zu ehren
Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin
Es ist für mich eine Ehre besonderer Art, zu einer Ehrung Jürgen Kuczynskis beitragen zu dürfen. Nach einem gewissen Zögern haben die zuständigen Behörden eine kleine, schöne Grünanlage nach ihm benannt, womit die Erinnerung an sein Leben und Werk auch in der Nähe seines von ihm und seiner Familie im letzten Halbjahrhundert bewohnten Hauses in Berlin-Weißensee über die Zeiten hin wachgehalten bleibt. Also eine auf Permanenz angelegte Ehrung.
Wann ist solch eine Ehrung richtig? Sie ist dann richtig, wenn derjenige, der ehrt, zugleich derjenige ist, der dadurch geehrt wird, dass er den zu Ehrenden ehrt! Dank also nicht nur der lnitiativgruppe, die mit Geduld und Geschick ihr Begehren nach acht langen Jahren zum Erfolg führen konnte, sondern auch den Politikern in Pankow, die zum Teil über ihren Schatten zu springen hatten, um diesen Erfolg zu ermöglichen. Wenn schon von Dank die Rede ist: Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsmisere soll nicht unerwähnt bleiben, dass der 1936 vor den Nazifaschisten fliehende deutsche Jude und Kommunist Kuczynski mit seiner Familie in England Zuflucht fand.
Um es - aus gutem Grund! - wissenschaftlich falsch auszudrücken: Jürgen Kuczynski ist ein Wissenschaftler ohne Vergleich. Er war eine in jedem Sinn des Wortes singuläre Persönlichkeit. Des Wissenschaftlers Visitenkarte ist bekanntlich die Bibliographie seiner Publikationen. Kuczynskis 1924 einsetzende Veröffentlichungsliste, mit dem Paukenschlag seiner ersten Monographie: »Zurück zu Marx« von 1926, verbucht mehr als 4.500 eigene Schriften. Darunter eine »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« in vierzig Bänden (letzte Bearbeitung: 1960-1972), sodann »Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften« in zehn Bänden (1975-1978), ferner eine fünfbändige »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« (1980-1982, Nachtragsband 1985), sowie, unterschiedlich betitelt, an die zehn Bände Memoirenliteratur. Allein die von ihm verfassten mehr als einhundert Monographien aufzuzählen, würde die mir zugebilligte Redezeit um ein Mehrfaches überschreiten. Sein Gedächtnis wie seine Gedanken scheinen sich ohne das mühselige Zwischenstadium des Schreibens in Gedrucktes verwandelt zu haben. ln seinem kleinen Büchlein von 1989 »Alte Gelehrte« findet sich der besonders schöne Satz: »Das Alter dürstet nach einer zweiten Geburt«. Und so hat er dann, als er bereits über Neunzig war, seinem Tagebuch anvertraut, im nächsten Jahr wieder ein Buch veröffentlichen zu müssen. Er hatte ja sonst nichts zu tun.
Es gibt in der deutschen Wissenschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts niemanden, der mit solch einer Publikationsquantität aufwarten und der mit der Breite seiner produktiv bearbeiteten Interessengebiete, zu der übrigens auch das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst gehört, mithalten kann. Dafür hat er den Vorwurf eines gelegentlichen Dilettantismus in Kauf genommen. Eigentlich dürfte keiner sich anmaßen, Jürgen Kuczynski umfassend wissenschaftlich zu beurteilen. Gemessen an ihm sind wir anderen ja alle nur Scheuklappenwissenschaftler. Wissenschaftler sind eitel. Das sage ich, der ich selbst Wissenschaftler zu sein beanspruche. Aber Kuczynski wusste auch: er ist kein Genie. Er lebte nicht von einem einzigen, eben dem bahnbrechenden Einfall seines Denkens. Er lebte von der Permanenz seiner Arbeit wie von der Universalität seines Wissens. Aber nicht nur der Umfang seiner Forschungsobjekte ist einmalig in der deutschen Wissenschaftslandschaft; es gibt auch kaum jemanden, zu dessen Lesepublikum gleichermaßen die Theoretiker seines eigentlichen Faches, diejenigen ganz anderer Fächer, aber auch die Nichtwissenschaftler gehören, das Volk im besten Sinne des Wortes. Sein »Dialog mit meinem Urenkel«, 1977 geschrieben, von höchster Stelle sechs Jahre auf Eis gelegt, erzielte nach 1983 binnen fünf Jahren zehn Auflagen.
Niemand möge glauben, dass ich Kuczynski als einen Graphomanen dequalifizieren möchte. Das war er nicht! Arbeit - das war sein erstes Lebensbedürfnis! Sie war ihm Freude, war ihm Vergnügen, war ihm eigentlicher Lebensgenuss, bisweilen aber auch, wie er einmal bekennt, Lebenstrost. Dass dieses »labor ipse est voluptas!« als seine Maxime gelten kann, bestätigt auch ein von ihm überlieferter Gedankenaustausch mit Marguerite, seiner Frau: gegen ihren entschiedenen Protest habe er einmal sogar erwogen, den Freiheitsweg aus dem Leben zu wählen, sollte er arbeitsunfähig werden. Bei dieser Gelegenheit gesagt: Man kann ohnehin über Jürgen nicht sprechen, ohne über Marguerite zu sprechen, die nicht nur die getreue Hüterin ihres Mannes, sondern selbst produktiv war: ihre Editionen aus der französischen Wissenschaftsgeschichte sind unüberholt. Freilich ist ihre anderweite Bemerkung zu ihm auch wahr: »ln der Zeit, in der ich eine Anmerkung zustande bringe, produzierst Du ein ganzes Buch«.
Er war jedoch nicht nur ein großartiger Schreiber. Er war auch ein großartiger Redner. Gehörte er doch zu jener Minderheit, die sich der Tugend des Freisprechens befleißigen. Warum wohl? Nicht, weil er zu faul war, ein Manuskript anzufertigen, oder weil nicht ablesen konnte, sondern weil er wirken wollte. Er war nicht in erster Linie darauf erpicht, das Gedächtnis seiner Zuhörer zu strapazieren, er wollte vor allem ihr Denken beeinflussen, wollte sie zum Nach-, Mit- und Weiterdenken anregen, selbst um den Preis, Widerspruch zu ernten. Er, der keine Schwierigkeiten hatte, Säle zu füllen, gehörte zu den ganz seltenen Menschen, denen es gegeben ist, die Überzeugungen anderer zu verändern. Er vermochte es, liebgewordene Urteile von anderen als Vorurteile zu enttarnen. Eingreifendes Denken war ihm vergönnt.
Kuczynskis Überzeugungskraft wie seine Glaubwürdigkeit lebten davon, dass sein Marxismus nicht angelernt war, sondern erlebt und erforscht. Deshalb hatte er auch weder vor den Widersprüchen in der Gesellschaft noch vor den Gegensätzen zwischen den Denkenden Angst. lm Gegenteil, er genoss den Meinungsstreit, besonders den unter Marxisten. Er bot Andersdenkenden ein zusätzliches Forum innerhalb seiner eigenen Monographien, indem er sie aufforderte, ihre seinen Auffassungen entgegengesetzten Meinungen als Anhang zu seinem eigenen Text abzudrucken. Wenn es um Meinungsstreit ging, kannte er weder Freunde noch Verwandte. »Wendehälse sind ebenso feige, wie Dogmatiker dumm sind«, kann man bei ihm lesen. Um der Wahrheit willen, wie er sie sah, urteilte er über die von ihm Kritisierten selten ausgewogen, zuweilen ungerecht; auch gegenüber sich selbst. Er ist eigentlich immer angeeckt. Traurig war es für ihn nur, wenn es bei seinen Genossen war; bei denen, mit denen er glaubte, ein gemeinsames Ziel zu haben. So ist es ihm vor der Kehre gegangen, und warum sollte es ihm nach der Kehre anders gehen? Es war ein Stück seines Lebensinhalts, anzuecken.
Dem trefflichen Relief, das nun den Jürgen-Kuczynski-Park ziert, wurde, auf Beschluss von Politikern, von denen nicht erwartet werden sollte, dass sie seine gelehrten Abhandlungen gelesen oder gar verstanden haben, in gehörigem Abstand eine Tafel beigefügt, auf der neben anderem mitgeteilt wird, dass Kuczynski für die einen ein Vermittler des Prinzips Hoffnung, doch für andere ein Beschwichtiger des schwierigen Lebens in der DDR und des staatlichen Machterhalts gewesen sei. Man könnte natürlich einwenden, dass dann auch in Berlins Unter den Linden dem Denkmal Friedrichs, des sogenannten Großen, eine Tafel beigefügt werden müsste, dass nur des Preußenkönigs Siege in Aggressionskriegen ihn zum »Großen« gemacht haben. Doch in Kuczynskis eigenen Memoiren gibt es viel härtere politische Urteile über sich selbst als auf dieser Tafel stehen. ln einem speziellen Entschuldigungskapitel seines »Fortgesetzten Dialogs mit meinem Urenkel« von 1996 zieh er sich elender politischer Dummheit, weil er ungeachtet tausender Mängel das Gesellschaftssystem verteidigt habe, anstatt dieses System ungeachtet seiner tausend Erfreulichkeiten zu kritisieren.
In unserem »Age of Extremes« war der bekennende Kommunist Kuczynski ein Extremist. Unmäßig in der Lebensführung wie im Urteil, im Lob wie im Tadel, auch in dem seine Selbsteinschätzung betreffend. Göttliche Unbescheidenheit nebst menschlicher Bescheidenheit paarten sich bei ihm mit chinesischer Höflichkeit, übersteigertem Zeitgeiz und einem unbeschreiblichen Einfühlungsvermögen in die Sorgen anderer. Er war mutig, er war frech, er war schlitzohrig (was eigentlich alle wussten!), und seine Gedanken hatten zumeist einen Hintergedanken. Bis zum letzten Atemzug verstand er sich als ein fröhlicher Marxist, als Querdenker, als linientreuer Dissident, als treuer Rebell. Einer seiner Memoirenbände endet mit einer Frage an ihn selbst: »War J. K. auch ein glücklicher Mensch?« Seine Antwort lautete: »Er war so glücklich, wie es die historischen Zustände zuließen.« lch möchte auch eine Frage stellen: »Jürgen, warst Du ein kluger Mensch?« Er würde meine Frage billigen, nicht jedoch meine Antwort, denn die lautet: »Er war klüger, als die Zeitumstände es ihm erlaubten!«
Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:
2015-08: Weitling – »Begründer des deutschen Kommunismus« (Engels)
2014-11: Grundsätzliches zum Rechtsstaat
2014-06: Juristisches zum Krim-Konflikt