John Schehr – 90. Todestag
Stephan Jegielka, Berlin
März 1921 in Hamburg. Die Polizei hatte wieder ein Massaker unter den Hamburger Arbeitern angerichtet, als vor einem Demonstrationszug von darüber aufgebrachten Werftarbeitern mit Ernst Thälmann und John Schehr an der Spitze ein Panzerwagen der Polizei mit einem herumkrakelenden Polizeioffizier vorfuhr. Thälmann: »Warum schreet de so, Jonny?« Schehr zurück: »De het Angst«. Thälmann lachend: »Genau«. [1] Eine bezeichnende Szene des freundschaftlichen Verhältnisses von Thälmann zu Schehr, aber auch über die Ähnlichkeit ihrer proletarischen Persönlichkeiten, die die Führung der KPD damals maßgeblich prägten und somit das soziale Wesen der Partei verkörperten. Es war daher auch kein Zufall, dass Schehr nach Thälmanns Verhaftung 1933 auf Beschluss der Komintern zum Nachfolger als Parteivorsitzender ernannt wurde. [2]
100 Jahre später. In der fünften Etage des Karl-Liebknecht-Hauses, der Zentrale der Partei DIE LINKE, sind die beiden populären Führer der KPD wieder vereint. Wenn man die breitläufigen, von grünen Kachelwänden gesäumten granitenen Treppenstufen hinaufsteigt und die durch sechs in einem Rechteck angeordneten quadratischen Fenster lichtdurchflutete Etage erreicht, blickt zur linken Wandseite Ernst Thälmann, in dem bekannten Gemälde von Willi Sitte, auf den zur rechten Wandseite in dem von Walter Womacka’s Werk verewigten John Schehr. Etwas verschämt, denkt man sich, hat die Parteiführung die beiden Arbeiterführer dorthin unters Dach verbannt, als ob man sich
dieses Erbes gerne entledigen würde, aber es doch nicht kann, ist die Geschichte der Partei doch untrennbar mit den beiden kommunistischen Arbeiterführern verbunden. [3]
Mit Thälmann von der USPD zur KPD
Wer war John Schehr? Er wurde 1896 als Kind einer Arbeiterfamilie in Altona geboren. Mit 16 Jahren wurde er Mitglied der SPD. Während des Krieges trat er zur USPD über. Schon in dieser Zeit gehörte er zum engeren Kreis um Ernst Thälmann. Er war Mitglied der USPD (Linke), die sich 1920 mit der bis dahin eher sektiererisch agierenden KPD vereinigte und mit ihren damit nun 300.000 Mitgliedern zu einer revolutionären Massenpartei heranwuchs, einer Partei, die den Erfordernissen der damaligen Lage entsprach. [4] Die damalige Stimmung in der Gesellschaft schilderte die Reaktion so: »Ganz allgemein war in der Bevölkerung eine starke bolschewistische Agitation zu bemerken.« [5]
In der Tat taumelte Deutschland in dieser Zeit, insbesondere durch den Versailler Raubfrieden bedingt, von Krise zu Krise, bevor 1924 eine relative Stabilisierung des Kapitalismus einsetzte, die vor allem aus einem massiven Kapitalimport aus den USA resultierte, der jedoch schon der nächsten Krise den Weg bereitete. Davor rechnete die revolutionäre Linke nicht zu Unrecht auf den »deutschen Oktober«, und diese Zeit erzog die Kader in der Partei, die die KPD in den folgenden Jahren maßgeblich prägen sollten. [6]
Altona – von der Novemberrevolution zum Hamburger Aufstand
Der als Schlosser in der Hamburger Werft arbeitende Schehr übernahm in der damals noch eigenständigen Stadt Altona eine führende Rolle in der KPD. Altona war die Arbeiterstadt des Nordens und die Bevölkerung zeigte sich gegenüber der Reaktion nicht selten als besonders renitent. In der Revolutionszeit kam es in Altona zu bewaffneten Aufständen, so dass das Ebert-Noske-Regime den Belagerungszustand verhängen musste. [7] Seit 1919 regierte in Altona ein Bündnis SPD/DDP. Die KPD hatte ihre Hochburg im sogenannten »Abruzzenviertel«, das an St. Pauli und den Hafen grenzte. In dieser dicht bewohnten heruntergekommenen Altstadt wohnten vor allem die unteren Schichten der Arbeiterklasse. Das Krisenjahr 1923, mit Inflation und rasant steigernder Arbeitslosigkeit, erfasste in seiner ganzen Wucht auch Altona. Selbst die herrschenden Kreise Deutschlands gingen von der Möglichkeit eines »äußeren und inneren Zusammenbruchs« aus. Während des Hamburger Aufstandes griffen daher auch die Altonaer Arbeiter zur Waffe. John Schehr bewährte sich in diesen Kämpfen. Die tiefe Verwurzelung der KPD in der Altonaer Bevölkerung zeigten die Wahlen 1924. Die KPD zog mit zehn Sitzen in die Altonaer Stadtverordnetenversammlung ein und wurde damit drittstärkste Fraktion. Eines ihrer Mitglieder wurde John Schehr. [8]
Aufstieg in der Partei
Auf dem X. Parteitag der KPD vom 12. bis 17. Juli 1925 in Berlin, der von der Auseinandersetzung zwischen dem westlichen Kurs Ruth Fischers und der Komintern geprägt war, wurde John Schehr mit Unterstützung Thälmanns als Kandidat in das ZK gewählt und folgend neben Ernst Thälmann und Ernst Schneller in die Delegation der KPD zum Besuch beim Exekutiv-Komitee der Komintern gewählt. [9] Über die Zwischenstation als Unterbezirksleiter (UB-Leiter) von Harburg-Wilhelmsburg wurde er 1927 Organisatorischer Leiter (Orgleiter) des Bezirkes Wasserkante. Als Delegierter des XI. Parteitags in Essen wurde Schehr erneut als Kandidat in das ZK gewählt. Wichtigstes Zeichen des Parteitages war die Orientierung der Partei auf die Unterstützung des Kurses der Sowjetunion und die Entlarvung der imperialistischen Kriegsplanungen gegen den ersten sozialistischen Staat der Erde. [10] In der »Wittdorf-Affäre« stand er fest an der Seite Thälmanns. Auf dem berühmten Weddinger (XII.) Parteitag 1929, der im Zeichen des »Blutmai« stand, wurde Schehr als Kandidat des ZK bestätigt. [11] 1930 wurde er Politischer Leiter (Polleiter) der Bezirksleitung Niedersachsen. Zu dieser Zeit erfasste den Weltimperialismus eine tiefe zyklische Krise. Auch in Deutschland kam es zu schweren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen. Es war die Zeit der Anheizung der Widersprüche. Die Herrschenden versuchten durch einen Faschisierungskurs der Lage Herr zu werden. Der bürgerliche Parlamentarismus wurde liquidiert, »Präsidialkabinett« folgte auf »Präsidialkabinett«. Auf den Straßen regierte der Terror der Faschisten gegen die Arbeiterschaft, es entwickelte sich ein latenter Bürgerkrieg. In dieser stürmischen Zeit rückte John Schehr in den engsten Kreis um Ernst Thälmann. 1932 kam er als nachrückender Abgeordneter der KPD in den Preußischen Landtag und wurde erstmalig in den Reichstag gewählt. Im selben Jahr wurde er Mitglied des ZK, Sekretär des ZK und Politbüromitglied und somit praktisch zum »Stellvertreter Thälmanns«. Zudem war er Mitglied einer Kommission, die die Partei auf die Illegalität vorbereiten sollte. [12]
In der Illegalität
Nach der Einsetzung Hitlers als Reichskanzler durch das Finanzkapital und zwei Tage vor der Terrorwahl am 5. März 1933 wurde Ernst Thälmann verhaftet. John Schehr folgte ihm als Parteivorsitzender. Unter seiner Führung gelang es der KPD unter großen Opfern die illegale Organisation in Deutschland zu stabilisieren, ohne dabei jedoch den Offensivgeist, den diese Generation prägte, zu verlieren. Dieser revolutionäre Optimismus in der Zeit des blutigen faschistischen Terrors wird heute von den »Spätgeborenen« oft belächelt. Damit legte aber die Partei den moralischen und organisatorischen Grundstein, auf dessen Basis die KPD in den Jahren der Hitlerdiktatur ihren Widerstand ununterbrochen fortsetzen konnte. [13]
Verhaftung und Ermordung
Am 9. November 1933 wurde John Schehr durch einen Verrat des Spitzels Alfred Kattner durch die Gestapo verhaftet. Trotz schlimmster Folter, er verlor dabei ein Auge, blieb Schehr standhaft. Von ihm kam gegenüber seinen Peinigern kein Wort über die Organisation, seine Mitarbeiter und seine politische Funktion über die Lippen. Aus Rache für die Erschießung des Spitzels im Auftrag der KPD verschleppte die Gestapo John Schehr, Erich Steinfurth, Eugen Schönhaar und Rudolf Schwarz aus dem berüchtigten Foltergefängnis Columbiahaus, stoppte auf der Fahrt zum Wannsee den Wagen und erschoss sie am 1. Februar 1934 hinterrücks in einem naheliegenden Waldstück. [14]
Gedenken an John Schehr – bis heute
In der DDR wurde das Andenken an John Schehr stets und auf vielfältige Weise gewahrt. [15] Auf der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde erhebt sich im Innenhof der Ringmauer der bekannte Stein mit der Inschrift »Die Toten mahnen uns«. Einer der zehn ihn umringenden Gedenkplatten ist John Schehr gewidmet. Jedes Jahr werden im Januar in dem von der Partei DIE LINKE organisierten Gedenken an die Ermordung von Karl und Rosa durch die Reaktion von tausenden Besuchern in der Gedenkstätte unzählige rote Nelken abgelegt, viele davon säumen die Gedenkplatte von John Schehr. Bis heute findet die zu diesem Gedenken gehörende traditionelle LL-Demo mit über zehntausend Teilnehmern ihren Abschluss an der Gedenkstätte. Somit wird auch jedes Jahr John Schehr geehrt. [16]
Schließen wir mit Willi Bredel: »Ernst Thälmanns beste Kampfgefährten, einer nach dem anderen sanken sie dahin. So furchtbar es für Ernst Thälmann auch gewesen sein musste, die Tapfersten der deutschen Arbeiterbewegung während seiner elfeinhalbjährigen Kerkerhaft verbluten zu sehen, er hat sich ihrer und sie haben sich seiner wahrlich nicht zu schämen brauchen; sie haben wie Helden gekämpft und sind wie Helden gestorben.« [17]
Anmerkungen:
[1] Hortzschansky, Günter: Ernst Thälmann – Eine Biographie, Berlin, 1982, S. 117.
[2] 1927 waren 70 Prozent der Mitglieder Industriearbeiter. Czichon, Eberhard und Marohn, Heinz: Thälmann Ein Report BD1, Berlin 2010, S. 296. Weber, Hermann: Deutschland, Russland, Komintern – Dokumente (1918-1943) BD2, Berlin 2015, S. 1165.
[3] Diese kommunistische Traditon der Partei ist den Bürgerlichen weitaus mehr bewusst als so manchem Genossen. »Die SED/PDS/Linkspartei. Nach gut 77 Jahren und 7 Monaten reif für die Abwicklung!«, BILD 3.12.2023.
[4] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Chronik BD 2, Berlin 1966, S. 96.
[5] Von Rabenau, Friedrich: Seeckt – Aus seinem Leben 1918-1936, Leipzig 1940, S. 120.
[6] Zeugenbericht des sowjetischen Konsuls in Hamburg in: Bayerlein, Bernhard H.: Deutscher Oktober 1923, Berlin 2003, S. 264-273.
[7] Schulte-Varendorff, Uwe: Die Hungerunruhen in Hamburg im Juni 1919, Hamburg 2010, S. 97-102.
[8] tom Dieck, Johannes: Kulturpolitik in Altona der Ära Brauer, in Jahrbuch Demokratische Geschichte 22/2011, S. 66-68. Weber, Kommunisten, S. 655. Dreetz, Dieter: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland 1918 – 1923, Berlin 1988, S. 274. Von Rabenau, Seeckt, S. 329.
[9] Fischer, Ruth: Stalin und der deutsche Kommunismus, Frankfurt am Main 1948, S. 542-546. Czichon: Report, S. 203. Tjaden, K. H.: Struktur und Funktion der »KPD-Opposition« (KPO), Erlangen 1970, S. 50. Weber, Kommunisten, S. 655.
[10] Tjaden, Struktur, S. 63.
[11] Ernst Thaelmann, Der Weg zur Freiheit in: E. Thaelmann Bd. 3, Köln 1975, S. 11. Die KPD errang bei den folgenden Wahlen 1930 13,1 Prozent und mit 1,33 Mio. Stimmen 40 Prozent mehr als 1928. In Berlin siegt erstmals die Partei. Chronik, S. 259-260.
[12] Weber, Kommunisten, S. 656. Merson, Allan: Kommunistischer Widerstand in Nazideutschland, Bonn 1999, S. 39.
[13] Merson, Widerstand, S. 54-56 und S. 109-114, 1999.
[14] Weber, Kommunisten, S. 656. Sassnig, Ronald: Thälmann, Wehner, Kattner, Mielke. Schwierige Wahrheiten in: UTOPIE kreativ, H. 114 (April 2000), S. 372.
[15] Froh, Klaus: Chronik der NVA, der Grenztruppen und der Zivilverteidigung der DDR 1956-1990, Berlin 2010, S. 202. So trug das Mot.-Schützenregiment MSR-24 seinen Ehrennamen.
[16] Voßke, Heinz: Geschichte der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin Friedrichsfelde, Berlin 1982, S. 80. URL: http://www.ll-demo.de.
[17] Bredel, Willi: Ernst Thälmann, Berlin 1951, S. 170.
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