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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

"Jetzt oder nie!" - Zum 95. Jahrestag der Entfesselung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914

Dr. Eckhard Müller, Berlin

 

Am 28. Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand zusammen mit seiner Frau in Sarajevo, Landeshauptstadt der 1908 von Österreich-Ungarn annektierten ehemals türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina, Opfer eines Attentats. An diesem Tag jährte sich zum 525. Male die Schlacht auf dem Amselfeld, in der im Jahre 1389 ein serbisches Heer ottomanischen Truppen unterlegen war und damit die jahrhundertlange Unterdrückung der Serben begonnen hatte. Die Tat, verübt von zwei jungen Bosniern serbischer Nationalität, wurde zum Vorwand, der den Ersten Weltkrieg auslöste.

Friedensdemagogie und Kriegsvorbereitung

Im Mord von Sarajevo erblickten die herrschenden Kreise in Wien, insbesondere aber auch in Berlin, eine günstige Gelegenheit, ihre Expansions- und Hegemonialbestrebungen gewaltsam in die Tat umzusetzen. Niemals, so hatte der deutsche Militärschriftsteller und General a. D. Friedrich von Bernhardi in seinem in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg weit verbreiteten Buch "Deutschland und der nächste Krieg" gefordert, dürfe die Erhaltung des Friedens der Zweck der Politik sein. Krieg sei zu betrachten als ein Grundgesetz aller "gesunden Entwicklung" im Leben der Völker, die beengt seien und nur mit dem Mittel des Krieges die notwendige Ausweitung und weltpolitische Betätigung erreichen könnten, hätten nicht nur das Recht, sondern geradezu die "Pflicht zum Kriege" [Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg. Stuttgart-Berlin 1912, S. 14.]. Der 100. Jahrestag der Völkerschlacht zu Leipzig und das 25jährige Thronjubiläum Wilhelms II. 1913 wurden benutzt, um nationalistische Leidenschaften anzustacheln. Bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen und deshalb vom Widerspruch zwischen seiner wachsenden ökonomischen Macht und mangelnden Möglichkeiten ihrer politischen, expansiven Ausnutzung zu besonderer Aggressivität getrieben, verfolgte das Deutsche Reich Ziele, die angesichts der weltweiten imperialistischen Widersprüche letztlich nur mit militärischer Gewalt durchsetzbar waren. Die Vorbereitung auf offene Gewalt äußerte sich seit Gründung des Deutschen Reiches 1871 in forcierter Aufrüstung, in den Flotten- und Heeresvorlagen sowie in Planungen und Maßnahmen zur Vorbereitung der Jugend auf einen Eroberungskrieg und anschwellender chauvinistischer Propaganda. Die Bestrebungen des deutschen Imperialismus, mit relativ friedlichen Mitteln wie Staatsanleihen, Kompensationen oder staatlichen Garantien zur Förderung des Kapital- und Warenexportes, einen "Platz an der Sonne" zu erringen und die Entente zu sprengen, waren im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende gescheitert. Während sich die Gegensätze zwischen den Großmächten in Europa weiter zuspitzten, mußte das Deutsche Reich eine Machtverschiebung zu seinen Ungunsten befürchten. Seine Hauptexpansionsrichtung nach dem Balkan und Kleinasien wurde durch eine Kapitaloffensive der Entente gefährdet; die finanziellen Möglichkeiten des deutschen Finanzkapitals reichten nicht aus, den Rivalen Frankreich und Großbritannien wirkungsvoll Paroli zu bieten und zugleich die Türkei und die Balkanstaaten in ökonomischer Abhängigkeit zu halten. Österreich-Ungarn, der einzige bedeutende Bundesgenosse, war latent von einem Machtschwund und vom Zerfall des Vielvölkerstaates bedroht. Im Großen Generalstab befürchtete man, je länger man mit einem Präventivkrieg wartete, daß das Deutsche Reich den durch die Wehrvorlage 1913 nochmals ausgebauten Rüstungsvorsprung gegenüber Frankreich und Rußland einbüßen würde. In einem vom Auswärtigen Amt lancierten fingerten Interview, das am 20. Juni 1914 im "Berliner-Lokal-Anzeiger" publiziert wurde, hieß es unverblümt: Die Erlangung "hinreichende[r] Absatzgebiete für die mächtig aufstrebende deutsche Industrie" sei ein Problem, das "mit bloßer Friedensliebe nicht aus der Welt zu schaffen" sei. [Ist Deutschland kriegslüstern? In: Berliner-Lokal-Anzeiger, Morgenausgabe, 20. Juni 1914.] Diese Aggressivität des deutschen Imperialismus war von einer raffiniert betriebenen Friedensdemagogie begleitet, die ausnutzte, daß trotz vielfältiger Spannungen und Konfliktsituationen seit 1871 in Mitteleuropa der Frieden bewahrt worden war. Das Deutsche Reich wurde als von feindlichen Mächten eingekreist dargestellt, Wilhelm II. als "Friedenskaiser" glorifiziert, der die Scharfmacher des Alldeutschen Verbandes oder des Deutschen Wehrvereins dämpfe.

Ihren Höhepunkt erreichte diese im In- und Ausland schwer durchschaubare Doppelstrategie von Kriegsvorbereitung und Friedensdemagogie nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo. Am 3. Juli versah Wilhelm II. die Nachricht seines Wiener Botschafters vom 30. Juni, die herrschenden Kreise Österreich-Ungarns hätten den Wunsch, die Gelegenheit zu benutzen, um gründlich mit den Serben abzurechnen, mit der forschen Randbemerkung: "Jetzt oder nie!" [Zit. nach: Dokumente zur deutschen Geschichte 1914-1917. Hrsg. von Dieter Fricke. Bearb. von Willibald Gutsche, Berlin 1976, S. 22.] Diese kaiserliche Marginalie war keine unverbindliche Deklamation. Der Krieg war aber nicht vom Zaune zu brechen, ohne daß sich das Räderwerk der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Bündnissysteme in Bewegung setzte. Während die Reichsregierung der Weltöffentlichkeit gegenüber den Anschein einer ungestörten Berliner Urlaubsstimmung erweckte, drängte sie insgeheim die Regierung der verbündeten Doppelmonarchie, unverzüglich den in Wien schon lange erwogenen Plan eines kriegerischen Vorgehens gegen Serbien zu verwirklichen. Es war ihr bewußt, daß ein kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien ein militärisches Eingreifen Rußlands zur Folge haben mußte, das einer Machtverschiebung auf dem Balkan nicht tatenlos zuzusehen bereit war. Sie wußte auch, daß in diesem Fall das mit dem Zarenreich verbündete Frankreich zu militärischem Eingreifen schreiten konnte und daß dann auch mit einem Kriegseintritt des französischen Bundesgenossen Großbritannien und infolgedessen mit einem Weltkrieg gerechnet werden mußte. Zwar hoffte sie wie in den Marokkokrisen 1905 und 1911, ihre Hegemonialpläne durch eine Politik am Rande des Krieges oder mit einem "lokalisierten Krieg" verwirklichen zu können, doch zielte die Berliner Regie objektiv auf einen "großen Krieg".

Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg

Wie in Berlin und Wien drängten zu dieser Zeit in den Hauptstädten der anderen europäischen Großmächte einflußreiche Teile der herrschenden Klassen auf eine kriegerische Lösung der imperialistischen Gegensätze. Der französische Sozialist Jean Jaurès, der am 31. Juli 1914 von einem Chauvinisten in Paris ermordet wurde, legte am 7. März 1895 den bürgerlichen Kammerdeputierten den Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus mit den Worten dar: "Ihre Gesellschaft ist immer gewalttätig und chaotisch. Selbst wenn sie den Frieden will, selbst wenn sie sich im offensichtlichen Zustand der Ruhe befindet, trägt sie den Krieg in sich wie die Wolke das Gewitter." [Zit. nach: Johannes Glasneck: Zur Rolle von Jean Jaurès im Antikriegskampf der II. Internationale. In: Der Platz der II. Internationale in der Geschichte der Arbeiterbewegung (!889-1914). Karl-Marx-Universität Leipzig 1989, S. 140.] Aus der Verwurzelung des Krieges im kapitalistischen System schlußfolgerte er jedoch nicht, daß er unabwendbar sei, solange dieses System noch besteht. Es ging ihm darum, der Arbeiterbewegung ihre Möglichkeiten bewußt zu machen, den Krieg zu bekämpfen, bevor er ausbricht: "Es gibt kein ehernes Gesetz des Krieges, das eine proletarische Aktion wankend machen könnte", schrieb er aus Anlaß der ersten Marokkokrise 1905 in der "l’Humanitè" und im "Vorwärts" und fuhr fort: "Weder ist das Proletariat stark genug, daß es die Sicherheit des Friedens hätte, noch ist es so schwach, daß es vor der Unvermeidlichkeit des Krieges stände. In dieser Unentschiedenheit der Verhältnisse und diesem instabilen Gleichgewicht der Kräfte vermag das Handeln der Menschen sehr viel." [Zit. nach: Ebenda, S.141.] August Bebel warnte am 5. Dezember 1911 nach der zweiten Marokkokrise 1911 in einer Reichstagsrede vor der Gefahr eines Weltkrieges und verwies darauf, "daß die Kolonialpolitik immer neue Reibungsflächen schafft, daß das Drängen der großkapitalistischen Entwicklung nach immer weiterer Ausdehnung des internationalen Marktes zu gewaltsamen Zusammenstößen mit anderen Mächten führt und daß damit allmählich zwischen den verschiedenen Mächten, die auf dem internationalen Markt in Konkurrenz treten, es zu immer größeren Reibungen kommt, bis schließlich der Weltkrieg die letzte Folge ist." [August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 8/2. Reden und Schriften 1906 bis 1913. Bearb. von Anneliese Beske und Eckhard Müller, München 1997, S. 611.] Bereits in seinen Reichstagsreden im November 1911 hatte Bebel die Abschaffung jeglicher Geheimdiplomatie gefordert und zugleich betont, daß sich die Rivalitäten des Deutschen Reiches mit Großbritannien und Frankreich weiter verstärken würden. Karl Liebknecht enthüllte 1913 und 1914 im Reichstag die internationale Verflechtung der Rüstungsindustrie. In seinem unvollendeten Manuskript "Die Internationale der Rüstungsindustrie" hielt er dazu fest: "Die Waffen- und Munitionsfabriken und ihr Anhang in Deutschland sind mit österreichischen, belgischen, französischen und russischen Firmen zusammengeschlossen; sie haben den ganzen Erdball in Interessensphären zur Exploitation unter sich verteilt. Wie sonst die Ausnutzung von Bodenschätzen Gegenstand von kapitalistischen Abmachungen ist, so hier die Ausbeutung des Völkerhasses ... Diese Räubergesellschaft ist eben international wie die Räubermoral. Sie ist einfach eine Eigenschaft der hochkapitalistischen, imperialistischen Weltentwicklung." [Zit. nach Erna Herbig: Über Karl Liebknechts unveröffentlichtes Fragment "Die Internationale des Rüstungskapitals". In: Karl Liebknechts Vermächtnis für die deutsche Nation. Berlin 1962, S. 105 und 110.]

Geheimdiplomatie in der Julikrise 1914

Die entscheidende Verantwortung für die Entfesselung des Ersten Weltkrieges luden die herrschenden Kreise des Deutschen Reiches auf sich, indem sie der Kriegspartei in Wien im Sommer 1914 eine Blankovollmacht für ein gewaltsames Vorgehen gegen Serbien gaben.

Um den Krieg zu rechtfertigen, wurde in Einvernehmen mit der deutschen Reichsregierung festgelegt, in Gestalt eines Ultimatums vom 23. Juli solche weitgehenden Forderungen an Serbien zu stellen, die eine Ablehnung voraussehen ließen. Noch bevor die serbische ablehnende Antwort vorlag, konzentrierte sich die Kriegsentfesselungstaktik der deutschen Reichsregierung, Rußland in den Augen der Öffentlichkeit als Kriegsschuldigen erscheinen zu lassen. Das zielte darauf, den imperialistischen Eroberungskrieg ganz allgemein als Verteidigungskrieg zu tarnen. Auf diese Weise wollte Reichskanzler Bethmann Hollweg die in der deutschen Sozialdemokratie noch wirksame, für das 19. Jahrhundert zutreffende, inzwischen jedoch längst überholte Rolle Rußlands als Hort der Reaktion in Europa ausnutzen, um die Sozialdemokratie "mitzukriegen". [Siehe Bernhard Fürst von Bülow: Denkwürdigkeiten. Bd. 3, Berlin 1931, S. 459.]

Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn an Serbien den Krieg, daraufhin rief Rußland am 30. Juli für den 31. Juli die Mobilmachung aus.

Die deutsche Reichsregierung nahm die russische Generalmobilmachung zum Anlaß, selbst den Zustand drohender Kriegsgefahr auszurufen. Am 1. und 3. August erfolgten die Kriegserklärungen des Deutschen Reiches an Rußland und Frankreich, an deren Seite Großbritannien am 4. August in den Krieg eintrat. Binnen acht Tagen eskalierte der Balkankonflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn zum großen europäischen Krieg. Das Pulverfaß europäischer Machtrivalitäten, das sich in Jahrzehnten aufgebaut und zunehmend an Schärfe gewonnen hatte, explodierte.

Die akute Kriegsgefahr war infolge der Geheimdiplomatie erst am 24. Juli durch das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien öffentlich geworden. Bis dahin hatten sich die Volksmassen von den Friedensbeteuerungen des Kaisers und des Reichskanzlers täuschen lassen. Die Vorspiegelung einer "Urlaubsidylle" der Reichsregierung diente ebenso dazu, die werktätigen Massen des eigenen Landes zu desorientieren, die besonders zu Zeiten akuter Kriegsgefahr wie während der beiden Marokkokrisen, bei der Annexion Bosniens und Herzegowinas und während der beiden Balkankriege 1912 und 1913 durch machtvolle Massenaktionen wesentlich zur Verhinderung der Eskalation dieser Konflikte zu einem Weltkrieg beigetragen hatten. Der dichte Schleier der Täuschungsmanöver verbarg das tatsächliche Ausmaß der Julikrise von 1914 und den festen Willen der herrschenden Klassen zum gewaltsamen Vorgehen. Angesichts der Empörung, die nun in großen Teilen der Arbeiterklasse gegen die Wiener Kriegsprovokation laut wurde, sah sich der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie am 25. Juli genötigt, Stellung zu nehmen. In einem Aufruf forderte er von der deutschen Regierung, ihren Einfluß auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens auszuüben. Aber der Aufruf erschien zu einem Zeitpunkt, als die kriegsauslösenden Entscheidungen der zivilen und militärischen Stellen der deutschen Reichsregierung bereits gefallen waren, und er richtete sich allein gegen Österreich-Ungarn. Im Aufruf wurde es unterlassen, die Anwendung aller zu Gebote stehenden Mittel anzudrohen. An den folgenden Tagen begann eine Welle von Antikriegsdemonstrationen, die bis zum 30. Juli andauerten und an denen fast eine halbe Million Menschen teilnahmen. Ihren Höhepunkt hatten diese außerparlamentarischen Manifestationen gegen einen Krieg am 28. Juli. Am gleichen Tag schrieb Rosa Luxemburg in ihrem Artikel "Der Friede, Dreibund und wir": "Den Regierungen und den herrschenden Klassen muß gezeigt werden, das heutzutage ohne das Volk und gegen das Volk keine Kriege mehr geführt werden können. Ihnen muß gezeigt werden, daß es sich für diejenigen, die einen Weltkrieg gegen den ausgesprochenen Willen der Volksmassen unter welchen Vorzeichen auch anzuzetteln wagen, um Kopf und Kragen handelt." [Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Bd. 3. Juli 1911 bis Juli 1914, Berlin 1980, S. 479.] Das entsprach dem Gehalt der Antikriegsresolutionen der II. Internationale auf den Kongressen in Stuttgart, Kopenhagen und Basel.

Kapitulation der Führung der deutschen Sozialdemokratie

Wie sich die deutsche Sozialdemokratie im Falle eines Krieges verhalten würde, hatte die herrschenden Klassen des Deutschen Reiches in den Jahren vor 1914 in wachsendem Maße beschäftigt. Einflußreiche Kreise, darunter auch der Generalstabschef Helmuth von Moltke, waren zu der Erkenntnis gelangt, daß es in einem kommenden Krieg vor allem auf die "Kriegstüchtigkeit" und "Aufopferungsfähigkeit" der Nation ankomme [Siehe Der erste Weltkrieg. Dokumente. Ausgewählt und eingeleitet von Helmut Otto und Karl Schmiedel, Berlin 1983, S. 47.]. Clemens Delbrück, Vizekanzler und Staatssekretär des Innern, war spätestens seit Mai 1914 der Meinung, daß bei richtiger politischer Behandlung die Sozialdemokratie im Mobilmachungsfalle helfen würde und etwa zu erwartende Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt überwindbar seien, wenn man auch die Gewerkschaften in den Dienst der Sache stellte. Bereits am 25. Juli, also zwei Tage nach dem krisenverschärfenden und von der Reichsregierung geförderten österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien, sprach Delbrück mit dem rechtssozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Albert Südekum. Das Gespräch mit Südekum habe ihn in seiner Überzeugung bestätigt, daß "sich die Sozialdemokraten im Falle eines Verteidigungskrieges ihren vaterländischen Pflichten nicht entziehen würden" [Clemens Delbrück: Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914. München 1924, S. 87, 100 f. und 105 f.]. Am 26. Juli wurden Hugo Haase und Otto Braun in das preußische Innenministerium bestellt. Die "Aufklärung" über die Lage, die ihnen hier gegeben wurde, zielte darauf ab, das zaristische Rußland als Kriegsschuldigen und die in Wirklichkeit kriegstreibende Politik der deutschen Reichsregierung als defensiv hinzustellen. Noch einen Schritt weiter ging Reichskanzler Bethmann Hollweg am 28. Juli, als er Südekum in sein Palais in der Wilhelmstraße rief und ihn bat, die Mitglieder des Parteivorstandes für die Kriegspolitik der Reichsregierung zu gewinnen. Südekum versicherte dem Reichskanzler nach Abstimmung seiner Äußerungen mit den Mitgliedern des Parteivorstandes Friedrich Ebert, Otto Braun, Hermann Müller, Friedrich Bartels sowie dem Reichstagsabgeordneten Richard Fischer schriftlich, daß von der Sozialdemokratie keinerlei wie immer geartete Aktion – General- oder partieller Streik, Sabotage und dergleichen – geplant oder auch nur zu befürchten sei. [Siehe Dokumente zur deutschen Geschichte 1914-1917, a.a.O. , S. 27 f.] In der kritischen Situation der Julikrise von 1914 kapitulierte die Führung der deutschen Sozialdemokratie vor der deutschen Reichsregierung, noch bevor der Krieg begonnen hatte.

Eine alarmierende Vorentscheidung dafür war die Bewilligung des einmaligen Wehrbeitrages, einer direkten Besitzsteuer für Rüstungszwecke, am 30. Juni 1913 durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Der antimilitaristische Grundsatz "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen" war damit gebrochen worden. Ein solcher Opportunismus gegenüber Militarismus und Kriegsvorbereitung schlug in Nationalismus um. Seit Herbst 1913 wurde von einzelnen Vertretern des Parteivorstandes und der Generalkommission der Gewerkschaften mehr oder weniger verhüllt die Bereitschaft signalisiert, die Arbeiterbewegung bei drohender Kriegsgefahr oder bei Kriegsbeginn in eine nationale Einheitsfront einzubringen. Wie weit diese Bereitschaft zur Kooperation und damit zur Kapitulation vor den herrschenden Klassen bereits gediehen war, hatte Gustav Bauer, der zweite Vorsitzende der Generalkommission, in einer gemeinsamen Sitzung von Parteivorstand der SPD, der Generalkommission der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 29. November 1913 deutlich gemacht. In seinem Referat, das nur durch einen Bericht eines Beamten der Berliner Politischen Polizei überliefert ist, über die Stellung zur Kriegsfrage "vom Standpunkt des Gewerkschafters", bezeichnete Bauer diese als kein prinzipielles, sondern als taktisches Problem, bei dem es für das Proletariat der einzelnen Länder darauf ankäme, abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht und sich dementsprechend zu verhalten. Solange die Arbeiter in einem Wirtschaftsgebiet lebten und mit dem Kapitalismus in so tausendfältiger Beziehung verknüpft wären, hätten "sie auch ein mehr oder wenig großes Interesse an seinem Gedeihen" und würden "demgemäß handeln" [Zitiert nach Dieter Fricke: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917 in zwei Bänden. Bd. 2, Berlin 1987, S. 934 und siehe Karlludwig Rintelen: Ein undemokratischer Demokrat: Gustav Bauer. Gewerkschaftsführer – Freund Friedrich Eberts – Reichskanzler. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1993, S. 77 ff.].

Entsprechend wurde auf einer Konferenz der Vorstände der Gewerkschaften am 2. August 1914 beschlossen, die Maßnahmen der Regierung bei der Mobilmachung zu unterstützen, alle noch laufenden Streiks sofort abzubrechen und für die Dauer des Krieges alle Lohnkämpfe auszusetzen. Am 3. August folgte die Mehrheit der Reichstagsfraktion der SPD – die zu einem Drittel aus Gewerkschaftern bestand –, indem sie sich entschloß, am 4. August 1914 für die von der Reichsregierung geforderten Kriegskredite zu stimmen. Der Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie als Antikriegskraft war die Folge.

Unter der Losung Wilhelms II. "Jetzt oder nie!" war nunmehr grausame Wirklichkeit geworden, was Friedrich Engels als Folge der Politik des Deutschen Reiches schon 1887 hatte kommen sehen: "ein Weltkrieg von einer bisher nie gekannten Ausdehnung und Heftigkeit", in dem sich "acht bis zehn Millionen Soldaten [...] untereinander abwürgen und dabei Europa so kahl fressen wie noch nie ein Heuschreckenschwarm", und in dem sich "die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, zusammengedrängt in drei bis vier Jahre, über den ganzen Kontinent" verbreiten. [Friedrich Engels: Einleitung (zu Sigismund Borkheims Broschüre "Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807”). In: MEW, Bd. 21, S. 350.]

Neue Bedingungen für den Antikriegskampf

Wer auf antimilitaristischen und internationalistischen Positionen stand und weiter konsequent gegen den Krieg kämpfen wollte, stand vor der Frage, was zu tun wäre, nachdem die Führer der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften nichts zur Organisation des Antikriegskampfes unternahmen, sondern durch ihren Übergang zur Burgfriedenspolitik objektiv die Kriegsführung unterstützten. Die Führer der deutschen Sozialdemokratie untersagten im Interesse des Burgfriedens jegliche Massenaktionen für den Frieden. Zugleich stimmten sie mit in die Lüge vom Verteidigungskrieg gegen das zaristische Rußland ein. Über die meisten Korpsbezirke war am 31. Juli 1914, dem Tag der Ausrufung des Zustandes der drohenden Kriegsgefahr, der verschärfte Belagerungszustand verhängt worden, der den Militärbefehlshabern diktatorische Gewalt einräumte. Dazu gehörten die Presse- und Versammlungszensur, Briefzensur, Eingriffe in den Handel, insbesondere in die Lebensmittelverteilung sowie das Einsetzen von Stand- und Kriegsgerichten. Für den Antikriegskampf waren damit völlig neue Bedingungen entstanden. Bei Rosa Luxemburg in Berlin trafen sich am Abend des 4. August 1914 die führenden linken Sozialdemokraten Franz Mehring, Julian Marchlewski, Hermann Duncker, Wilhelm Pieck, Ernst Meyer und Hugo Eberlein, um die neue Situation zu erörtern. An mehr als 300 oppositionelle Sozialdemokraten erging ein Aufruf zu einer Beratung. So heftig aber wirkte noch der Schock des Kriegsbeginns und der Entscheidung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zur Bewilligung der Kriegskredite, daß der Appell ohne Erfolg blieb. Allein von Clara Zetkin kam eine positive Antwort. Deutlich kam zum Ausdruck, daß die Mobilisierung von Massen zu aktiven Friedenskampf kompliziert und widerspruchsvoll sein wird. Für Rosa Luxemburg hatte sich ein niederschmetterndes Phänomen offenbart: "Gerade die mächtigste Organisation, gerade die vielgepriesene Disziplin der deutschen Sozialdemokratie bewährten sich darin, daß der vier Millionen starke Körper sich auf Kommando einer Handvoll Parlamentarier in vierundzwanzig Stunden wenden und vor einen Wagen spannen ließ, gegen den Sturm zu laufen sein Lebensziel war." [Rosa Luxemburg: Der Wiederaufbau der Internationale. In: Gesammelte Werke. Bd. 4. August 1914 bis Januar 1919, Berlin 2000, S.23.] Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehrung und Clara Zetkin suchten in der Folge über die Aufklärung der Massen über den Charakter des Krieges und die Krise der Sozialdemokratie mittels illegaler Flugblätter, Flugschriften und Zeitschriften, über die Reaktivierung der Sozialdemokratie von unten, über ihre Zusammenarbeit, über strenge Disziplin gegenüber den internationalistischen Verpflichtungen aus den Kongressen von Stuttgart, Kopenhagen und Basel, über Abgrenzungen von jedweder Halbheit und über die Wiederherstellung der internationalen Verbindungen ihren Beitrag zur Erneuerung der II. Internationale oder zu einem Neubeginn zu leisten. Diese Entwicklungsprozesse überlagerten und durchkreuzten sich längere Zeit.

Literaturhinweis: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Bd. 1. Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004. Neuausgabe auf der Grundlage der 3., durchgesehenen, Aufl. 1971 - mit einem Vorwort von Fritz Klein zu dieser Ausgabe.