Ist der Russe unser Feind?
Dieter Wahl, Ahrensfelde/Eiche
Über die Russenallergie der deutschen Regierungsspitze
Das Wirken der wertegeleiteten Annalena Baerbock wird mit einem weiteren Karriereschritt belohnt. Sie soll nach drei Jahren katastrophaler Außenpolitik Präsidentin der UNO-Generalversammlung für 2025/26 werden. Nachdem ihr Waffen- und Sanktionsfanatismus ohne jegliche Diplomatie der Ukraine eher Kriegsnachteile brachte und Russland nicht wunschgemäß ruinierte, konnte sie vor ihrem Abgang wenigstens noch einen ideologischen Rundumschlag gegen die Russen loswerden. In einer top-vertraulichen Dienstanleitung ihres Ministeriums wird Auslandsvertretungen, Bundesländern, Kreisen und Kommunen empfohlen, für Gedenk-Events rund um den 80. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus Vertreter Russlands und Weißrusslands (Belarus) nicht einzuladen und ihnen bei Doch-Erscheinen Platzverweis zu erteilen. Was doppelt schockiert, ist die Offenheit eines Russenhasses mit dem Verdacht, offizielle Regierungspolitik zu sein.
Schützenhilfe gibt eine Mainstream-Presse, die auch vor primitiven Geschichtslügen nicht zurückschreckt. Obwohl historisch bewiesen ist, dass sich die Häftlinge des KZ Buchenwald selbst befreiten, sollen es US-Soldaten gewesen sein. Das wurde in Berichten über die Gedenkveranstaltung in Weimar am 6. April 2025 noch am selben Tag dreist herbeigelogen. MDR Online: »Am 11. April 1945 hatten amerikanische Truppen das KZ Buchenwald befreit und fanden dort noch 21.000 überlebende Häftlinge vor.« Tagesschau: »... als die US-Armee vor 80 Jahren das Konzentrationslager Buchenwald befreite.« ZDF heute: »Heute vor 80 Jahren wurde es von amerikanischen Truppen befreit.«
Organisiertes Vergessen
Zu all dem bemerkt die »Initiative 80. Jahrestag der Befreiung«: »Mit dem Ausschluss von Beteiligten beginnt das organisierte Vergessen: Wer heute unser ›Feind‹ ist, darf niemals Freund oder Befreier gewesen sein.«
Ist der Russe unser Feind? Selbst ein Dostojewski oder Tschaikowski scheint es zu sein. Denn plötzlich waren ihre Meisterwerke tabu. Auch sie sollten mehr als 130 Jahre nach ihrem Tod für Putins Invasion büßen. Eigentlich überrascht es mich nicht, denn bundesdeutschen Russenhass gab es schon lange vor Putins Ukraine-Einmarsch. Als ich Anfang 2012 nach 20 journalistischen EU-Brüssel-Jahren ins vereinte Deutschland zurückkehrte, war ich nicht nur über die neuartige Ost-West-Spaltung entsetzt, sondern auch über die permanenten Anfeindungen gegen alles Russische. Weniger im bürgerlichen Alltag als vielmehr in Politik und Medien. Obwohl mit »FDJ-Kanzlerin« Merkel und Pastor-Bundespräsident Gauck gleich zwei Ostdeutsche die Staatspolitik dominierten.
Haben sie sich im Namen Deutschlands jemals für den Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug ihrer Vorfahren gegen die Sowjetunion entschuldigt? Im Gegenteil, jeder Anlass war willkommen, um den Nachfolgestaat Russland zu demütigen. In der DDR von Merkel und Gauck gab es Jubelgesänge auf die »unverbrüchliche Freundschaft« mit dem »Brudervolk« – und im Einheitsdeutschland gab es Pfeifkonzerte und Auftrittsverbote für russische Weltstars wie die Opernsängerin Anna Netrebko. Pervers! Oder?
Eine Phobie
Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Russendiskriminierung bewusst wahrgenommen werden sollte als demonstrativer Affront gegen unbotmäßiges Verhalten Moskaus. Denn Putin hatte mehrfach westliche Unehrlichkeiten gerügt und die systematische Einkreisung seines Landes durch die NATO getadelt – heute eine der Hauptursachen seines Krieges. Das wurde als aufmüpfig gescholten und auf vielfache Weise bestraft – auch mit ideologischen Kränkungen. Sie zielten zumeist auf die Achillesferse der russischen Mentalität, den sensibelsten Nerv der russischen Seele: Gedenken an die Opfer des Sowjetlandes. Etwa 27 Millionen. Zehn Millionen Soldaten und 17 Millionen Zivilisten. Das entspricht etwa einem Drittel der Bevölkerung der Bundesrepublik. Um nicht nebulös daherzupalavern, möchte ich nur einige politische und diplomatische Eklats und Beleidigungen auflisten.
22. Juni 2011, 70. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion: Lange vor der »Krim-Annexion« hatte Kanzlerin Merkel einen sogenannten Festakt anberaumt, zu dem sie nicht einmal selbst kam, sondern ihren Kulturstaatsminister Neumann schickte. Der deutsche Politikwissenschaftler und Historiker Götz Aly kommentierte am 28. Juni 2011 in der Berliner Zeitung: »Wenn es um Russland und um Russen geht, sind solche gefühls- und gedankenlosen Rohheiten möglich. Als Deutscher schäme ich mich dafür. … Der Jahrestag des Krieges gegen die Sowjetunion hätte einen feierlichen, öffentlich sichtbaren Staatsakt erfordert.«
27. Januar 2014, 70. Jahrestag des Endes der Leningrader Blockade: Ein besonderer Termin mitten in den blutigen Kiewer Maidan-Unruhen, in deren Verlauf mit westlicher Hilfe der rechtmäßig gewählte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch weggeputscht wurde. Bei der deutschen Belagerung des heutigen Sankt Petersburg starben 1,1 Millionen Zivilisten. Die systematische Aushungerung der Bevölkerung ist eines der schwersten Kriegsverbrechen überhaupt. Der Hitler-Befehl hieß: Einkesseln! Bombardieren! Aushungern! Fast zweieinhalb Jahre lang. Staatsoberhaupt Gauck rang sich einen Amtsbrief an Putin ab. Bezeichnend ist, was darin fehlte: Putin ist Leningrader. Ebenfalls sein älterer Bruder Viktor, der bei der Blockade an Hunger und Diphterie starb. Putin, den die Gnade einer acht Jahre späteren Geburt rettete, wuchs in einer traumatisierten Familie auf. Dazu im Brief des Bundespräsidenten keinerlei Anteilnahme. Auf detailliertes Nichtwissen über das Leningrader Todes-Ghetto kann sich Herr Gauck nicht berufen. Darüber mussten in DDR-Schulen sogar Aufsätze geschrieben werden.
27. Januar 2015, 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz: Nicht eingeladen zur Gedenkfeier waren die Befreier selbst, deren Rote Armee am 27. Januar die Tore des Vernichtungslagers öffnete. Dort ermordeten die Nazis bis zu 1,5 Millionen Häftlinge, darunter etwa 15.000 Sowjetbürger. Die UNO erklärte den 27. Januar sogar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Gleich zwei Eklats gab es zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung 2020: Bei einem Berliner Gedenkkonzert brachte es Kanzlerin Merkel fertig, in ihrer Rede die KZ-Befreier kein einziges Mal zu erwähnen. Und in einer offiziellen EU-Erklärung wurden als Befreier die Alliierten genannt. Eine Umschreibung der Geschichte.
9. Mai 2015, 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus: Die Kanzlerin sagte ihre Teilnahme an den Feierlichkeiten in Moskau ab. Ihre Kranzniederlegung am Folgetag fand sie »angemessen und in Würde«, wie ihr Sprecher Steffen Seibert erklärte. Eine Klatsche für Putin, der sie trotzdem mit einem großen Blumenstrauß empfing.
22. Juni 2016, 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion: Bundespräsident Gauck redete an diesem Tag in der Bukarester Nationalbibliothek über das »Unheil des Nationalismus« – am falschen Platz und im falschen Zusammenhang, denn Rumänien hatte gemeinsam mit Hitler-Germanien die Sowjetunion überfallen. Währenddessen ließ die Kanzlerin eine Pflichtstunde der Erinnerung im Bundestag über sich ergehen und verlustierte sich anschließend auf dem CDU/CSU-Sommerfest.
In diesem Stil ging es auch nach der Ära Merkel weiter. Etwas Besonderes hatte man sich 2023 zum 78. Jahrestag der Befreiung einfallen lassen: Die westlichen Botschafter boykottierten den Empfang in der russischen Botschaft in Berlin. 2025 zum »80.« schließt sich der Russenhass-Kreis mit einer beispiellosen politischen Pietätlosigkeit, der sich der Bundestag anschloss: Auch für sein Gedenkevent sind Vertreter Russlands »unerwünscht«. Dass zumindest im »Fußvolk« und mancher Amtsstube nicht alle so denken, bewies am 16. April die Jubiläumsfeierlichkeit zur entscheidenden Berlin-Schlacht um die Seelower Höhen. Der am Mahnmal »unerwünschte« russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, wurde bei seiner Ehrung der hier gefallenen 33.000 Rotarmisten von einer größeren Menschenmenge warmherzig begrüßt.
Das Fazit ist schnell gezogen: Unser Feind ist nicht Der Russe, sondern ein pauschaler, blindwütiger Russenhass – eine Phobie, die sogar das für ein freies Deutschland gefallene Millionenheer von Russen in Putin-Sippenhaft nimmt.
Quellen (Auswahl):
www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesschau_20_uhr/video-1453042.html
www.zdf.de/play/magazine/heute-106/250406-heute-sendung-17-uhr-100
www.buchenwald.de/geschichte/chronologie/konzentrationslager
www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/560938/vor-80-jahren-befreiung-des-kz-buchenwald
Dieter Wahl, Westeuropa- und Moskau-Korrespondent des DDR-Fernsehens, hat sich im zweiten seiner beiden Ukraine-Bücher auch mit staatstragender Russophobie auseinandergesetzt:
Der Krieg ins Ungewisse, Band 2: Wie Deutschland mit dem Ukraine-Drama umgeht, München 2024, ISBN 978-3-7116-0057-8, 629 Seiten, 27,90 Euro.
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