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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Irrweg und Irrsinn: Vom Umgang der PDS mit der Vergangenheit

Günter Gaus im "Freitag", 30. Oktober 1992

Aus gegebenem Anlaß – André Brie ist der Anlaß – wird hier noch einmal versucht, Irrweg und Irrsinn des Reinigungsprozesses, wie er der DDR gemacht wird, aufzudecken: als eine Warnung, die zu spät kommt. Denn an der Sache selber ist nichts mehr zu retten; an der Sache, die hieß: sich und anderen angemessene Rechenschaft zu geben, wie es gewesen ist und wohin man moralisch mit seinen Idealen wie seinem Opportunismus gelangen konnte.
Eine angemessene Rechenschaft, keine zweckmäßige. Fußend auf der damaligen Wirklichkeit, nicht streunend zwischen nachträglichen Empfindungen und heutigen Behauptungen. Dabei selbstkritischer als kritisch sein und stets eingedenk, daß es nur eine Minderheit ist, die moralisch ins Gericht geht, indes die Mehrheit der Menschen andere Sorgen hat und sich die Anpassung an das jeweils Mächtige allemal als ihr gutes Recht nimmt. (Woraus zu folgern ist, daß die Frei­heit der Schwachen und Abhängigen konkret nicht nur an deren Reisezielen zu messen ist, sondern auch an der Menge der Lippenbekenntnisse zum Herrschenden, die sie erbringen müssen, damit man sie in Ruhe läßt. Da konnte früher in den Betrieben manche abweichlerische Lippe riskiert werden, wo man auf dem heutigen Arbeitsmarkt besser seinen Mund hält oder das jetzt gängige Lippenbekenntnis leistet. Natürlich ist, was ich hier schreibe, nur ein Teil der Wahrheit, aber ein Teil davon ist es.)
Keine einfache Sache also, der rechtende Umgang mit jener deutschen Vergangenheit, die unter anderem nach Auschwitz begann und mit der Wende 1989 endete, jedenfalls soweit die DDR an ihr beteiligt war. Um noch einmal auf den Anlaß zu kommen: Daß Brie – im Bewußtsein der Vergangenheit seiner Familie unter den Deutschen – Hakenkreuzschmierereien bei der zuständigen Behörde anzeigte, womit 1970 sein Kontakt mit der Staatssicherheit begann –, das ist ein Vorgang, der sich nicht in eine Schlagzeile fassen läßt. Aber genau und gerade auf deren reißerische Eindeutigkeit wird in der herrschenden Öffentlichkeit gebracht, was irgend mit der Stasi zu tun hat. Die Staatsräson des vereinigten Deutschlands verlangt es, und sie verbindet sich auf das glücklichste mit dem Sensationsbedürfnis eines Publikums, dem gruseln möchte vor einer Krake von Staats wegen, die wie einmalig und nun für immer aus der Welt, in der die deutschen Demokraten leben, entschwunden dargestellt wird.
Damit der Anlaß weiter im Text nicht mehr erörtert werden muß und nur noch von der Sache zu reden ist, ein abschließendes Wort zu Bries Rücktritt: André Brie mußte sein Wahlamt in der PDS verlieren, weil er sich im Blick auf seine Verbindung mit der Stasi ein Sonderrecht in der Partei einräumte: als habe er aus höherem Parteiinteresse vor den gewöhnlichen Mitgliedern verschweigen dürfen, was andere in breiter Öffentlichkeit bekennen mußten.
Was Gregor Gysi aus dem Anlaß, den Brie dieser Tage gab, bisher getan und unterlassen hat, läßt die Grenzen seiner Fähigkeiten als Vorsitzender einer Partei wie der PDS erkennen. Soll man schreiben: die vorläufigen Grenzen? Will und kann er sie überwinden? Vielleicht muß es mit den Unsicherheiten und Konflikten innerhalb der Partei noch bedeutend schlimmer werden, bevor es besser für die PDS werden kann – und diese etwaige Besserung wird nicht aus der Sympathie herrühren, die Gysi in Talkshows gewinnt, wenn er die Zuschauer damit überrascht, wie zivilisiert ein Roter sein kann, wie nett und witzig gar. (Wem es gleichgültig sein möchte, was aus der PDS, behindert von Geburt an, des weiteren wird, dem sei gesagt: Wir Deutsche haben nun oft genug in den vergangenen Jahrzehnten die Normalität pluralistischer europäischer Gesellschaften verfehlt, zu der eine Partei links vom sozialdemokratischen Biedersinn gehört. Sollten wir nicht wünschen, daß uns in Notzeiten eine solche Europäisierung glückt, die wir im vergehenden Wohlstand nicht gesucht haben?)
Zur Sache zurück: Die PDS würde sich ums Land verdient machen, wenn sie von ihrem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch machte und die derzeitige Staatsräson Gesamtdeutschlands laut und deutlich die Lüge nennen würde, die sie ist. Gysi hat zaghaft damit begonnen, aber offenkundig weniger der Wahrheit zuliebe als um sein anstößiges Stillhalteabkommen mit Brie zu erklären. Immer schlägt der Advokat bei ihm durch: Nur nicht die Schiffe hinter sich verbrennen. Dabei täuscht sich der Vorsitzende. Es gibt gar keine Schiffe, sondern er und seine Partei sind ganz auf sich allein gestellt in einer mehrheitlich ziemlich feindseligen Umwelt. Warum dann nicht den Nutzen, den man der Gesellschaft stiften und womit man sich auch selber aus dem Sumpf der intellektuellen Unredlichkeit befreien kann, diesmal in der einfachen Wahrheit suchen?
Nein sagen zur Staatsräson, die den Schwindel braucht, alles Böse, Verächtliche, Erstickende, Bedrückende sei allein von der Stasi in die DDR gekommen. Da taucht die Zweckmäßigkeit auf, die die Sache mit der Rechenschaftslegung verdorben hat: Sie führt weit genug von der Wahrheit weg in ein Land, das nicht von dieser Welt war, weshalb heute auch die Verwandlung der Mehrheit seiner Bewohner von Mitläufern in Opfer möglich ist. Ein Kunststück aus dem Staatszirkus, so real wie das Zersägen einer Jungfrau von Magierhand. Sei's drum. Die Stasi als Alleintäter, die SED als Anstifter und sonst nur Unglückliche, Gepeinigte und Beladene? Es war die Struktur, der die Kontrollmechanismen fehlten und in die sich die aller-, allermeisten Männer und Frauen einfügten, die die DDR zu dem machte, was sie wurde. Kein Dienst allein kann ein Land steuern - zu unserem westdeutschen Glücke, bei dem es, wenn die Strukturen verkommen, nicht immer bleiben muß. Aber wer, außer den Mitgliedern der PDS unter den ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, könnte heute die gängige, andersartige Lesart von der Vergangenheit einen aufgelegten Schwindel nennen? Die früheren Blockparteiler und ihre westdeutschen Vormünder würden, wenn sie es täten, nicht nur gegen die Staatsräson verstoßen, sondern auch gegen ihr Interesse handeln. Warum sollten sie jetzt tun, was sie früher mehrheitlich vermieden haben? (Immer gehörten auch abweichende Minderheiten zu den geschmeidigen Mehrheiten: in den Blockparteien, in der SED, in der Stasi.)
Es verschlägt faktisch nicht viel, ob eine Gruppe dem erkennbaren Selbstbetrug einer Gesellschaft ohne zu deuteln widerspricht. Aber was hätte die PDS dabei zu verlieren, in der so viele sind, die früher gemeinsam mit den damaligen Weggefährten aus CDU, LDPD et cetera immer nur zugestimmt haben? Mit jedem Widerspruch würde sie von einem Objekt mehr zu einem Subjekt in der deutschen Politik.