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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Internationale Politik – wichtiges Feld friedenspolitischer Aktivitäten der Linken

Wolfgang Grabowski, Berlin

 

Nachdem auf dem Bielefelder Parteitag trotz der Bemühungen vieler Genossen versäumt worden war, Beschlüsse zur akuten Frage von Frieden und Krieg zu fassen, hat der Magdeburger Parteitag nun wichtige Akzente gesetzt. Das ist besonders das Verdienst von Wolfgang Gehrcke. Sein Antrag »Frieden mit Russland – Verständigung in Europa – Nein zu Faschismus und Krieg« wurde einmütig und mit viel Applaus bestätigt. Es kommt nun darauf an, die Umsetzung des Beschlusses und der anderen zur Friedensfrage beschlossenen Papiere unter Führung des Parteivorstands in Aktion umzusetzen. Und das kann selbstverständlich nicht nur Aufgabe der Bundestagsfraktion sein.

Die LINKE ist gut beraten, mit ihrer Kernkompetenz als Friedenspartei verstärkt und systematischer internationale und außenpolitische Entwicklungen und deren Hintergründe zu analysieren und in ihre Aktivitäten einzubinden.

  • Das ist erstens wichtig, weil die Frage nach Krieg oder Frieden wieder im Mittelpunkt der internationalen Entwicklung steht. Und viele Menschen in Deutschland, weit über die linke Klientel hinaus, wollen keinen Krieg. Die tragischen Erfahrungen des 2. Weltkrieges sind noch relevant. Man befürchtet zu Recht, dass ein großer Krieg besonders Deutschland treffen würde. Das erschwert es den Funktionseliten, ihre aggressiven Vorstellungen von mehr Macht, mehr Verantwortung [1] in die Tat umzusetzen.

  • Dabei spielt, zweitens, das Verhältnis zu Russland eine besondere Rolle, wie der Appell der 60 und die Denkschrift des Willy-Brandt-Kreises, das Vermächtnis von Egon Bahr, zum Ausdruck bringen. Man möchte Russland nicht zum Feind, sondern zum Partner haben. Bis weit in konservative Kreise reicht diese historische Erkenntnis. Davon sprach Peter Gauweiler im Bundestag, als die vom ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für Russland Schokkenhoff eingebrachte Schmähschrift zur Debatte stand. Das trieb den ehemaligen Chefredakteur des Bayernkurier und langjährigen Berater von Strauß Wilfried Scharnagl um, als er sein Buch »Am Abgrund« schrieb und gemeinsam mit Egon Bahr kurz vor dessen Tod in Moskau präsentierte.

  • Drittens, mit einer neuen friedfertigen Ostpolitik, also einem tragfähigen, realpolitischen Ansatz gegen Chauvinismus und Drang nach Osten [2] kann ein erfolgreicher Wahlkampf geführt und Druck auf die Regierenden, also auch die SPD aufgebaut werden. Da sollten wir auch die Auseinandersetzung mit der Pegida und ihren scheinheiligen Parolen zur russischen Frage nicht scheuen.

  • Viertens, erwartet die Parteibasis klare und mutige Antworten auf die gewachsenen außenpolitischen Herausforderungen, darauf, wer Kriegstreiber ist und warum das geschieht. Das ist eine an der Basis häufig diskutierte Frage.

  • Und schließlich, fünftens: Vertiefte außenpolitische Analysearbeit unter abgestimmter Nutzung der Möglichkeiten von Vorstand, Fraktion und Stiftung mit ihren Auslandsvertretungen ist sinnvoll, um reale und fundierte Schlussfolgerungen für die Tagesarbeit und für strategische Zielstellungen zu formulieren.

Differenzierte Bewertung der außenpolitischen Akteure und des Hintergrunds ihres Wirkens:

- Die Krise in der Ukraine und in Syrien

Natürlich ist militärische Gewaltanwendung grundsätzlich abzulehnen. Aber es macht zugleich Sinn, nachzufragen, ob Kriegstreiberei, Bestrebungen zu Regime-Changes und Vorherrschaft vorliegen, oder dagegengehalten wird.

So gehen die USA in ihrer Militärdoktrin von einem nuklearen Erstschlags-Szenario aus und zielen mit dem Raketenabwehrsystem danach, einen nuklearen Gegenschlag zu verhindern. Die russische Sicherheitsdoktrin geht auch in ihrer unlängst überarbeiteten Fassung davon aus, dass militärische Mittel zuallerletzt einzusetzen sind, wenn Kompromisssuche und Verhandlungen ohne Ergebnis blieben. Nicht Russland und auch nicht China streben nach Vorherrschaft in der Welt, sondern die USA, ganz offiziell. Selbst Obama hat das wiederholt kundgetan. Die Staaten der Schanghaier Zusammenarbeit und der BRICS wollen die ablaufende Herausbildung der multipolaren Welt durch eine friedliche Koexistenz des Interessenausgleichs, in einem fairen Konkurrenzverhältnis gestalten.

Der neoliberale Westen, vor allem die USA, befürchten, so weitere Positionsverluste einzustecken und sind bestrebt, mit Gewalt-und Destabilisierungsstrategien zu kontern [3]. Daraus resultiert die gewachsene Aggressivität. Zu beobachten ist aber auch die Suche nach neuen Wegen, was in der Bevölkerung erstaunlichen Zuspruch findet. Der demokratische Kandidat Bernie Sanders versuchte diese Stimmung einzufangen. Kissinger beklagte in einem Interview mit dem »Spiegel« im November 2014, dass die USA faktisch alle 5 Kriege nach dem 2. Weltkrieg verloren hätten. Brzezinski und der ehemalige Chef des Pentagon und der CIA Gates, die lange Zeit eher als Falken galten, rufen nach einer neuen Nachdenklichkeit und Vernunft in den internationalen Angelegenheiten.

Nicht Russland bedroht die USA an deren Grenzen. Schon vor Jahren schrieb Scholl-Latour sein Buch »Russland im Zangengriff«. Der ehemalige Sicherheitsberater von Bundeskanzler Kohl, Horst Teltschik, Mitautor des Appells der 60, mahnte 2008, dass man im Westen die Sorgen der Russen vor Einkreisung ernst nehmen müsse. Hans-Dietrich Genscher kritisierte in seiner Rede bei der Entgegenahme des Rathenau-Preises im Oktober 2008, dass der Westen nicht auf den Vorschlag des damaligen russischen Präsidenten Medwedjew für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur eingegangen war.

Die USA unterhalten in 38 Ländern mehr als 700 Militärstützpunkte mit rund 250.000 US-amerikanischen Militärangehörigen, Russland 25, vor allem in früheren Sowjetrepubliken. Die USA geben mit einem Rüstungsbudget von etwa 600 Mrd. $ sechsmal so viel aus wie Russland oder China.

Die NATO-Osterweiterung wurde zum hauptsächlichen Stolperstein in den Ost-West-Beziehungen, Die Charta von Paris über eine neue Weltordnung wurde an die Wand gefahren [4]. Beim Abschluss des 2+4-Vertrages wurde Russland mit Handschlag durch den damaligen US-amerikanischen Außenminister Baker versprochen, dass es zu keiner NATO-Osterweiterung kommen würde. Das taten auch der damalige BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher und der Generalsekretär der NATO Wörner. Gorbatschow war wohl so naiv zu glauben, dass das Versprechen eingehalten würde und ließ es nicht vertraglich absichern. Dumm gelaufen hört man. Die Sowjetunion und dann Russland wurden über den Tisch gezogen. Man wähnte sich in einer lange währenden Ära westlicher Überlegenheit und Alleinherrschaft. 1997 auf dem Höhepunkt der Schwäche Russlands wird Polen, Tschechien und Ungarn ein NATO-Beitritt angeboten und 1999 vollzogen. 2004 folgen Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Kroatien und Albanien. Die russische Kritik [5] wurden arrogant in den Wind geschlagen. Russland versuchte, über Zusammenarbeit in Wirtschaft, im Kampf gegen den Terrorismus [6], im Kosmos, bei nuklearer Abrüstung Konfrontation zu vermeiden und Kooperation zu erreichen und natürlich seine Interessen zu bedienen. Der Westen, vor allem die USA, antworteten mit dem Krieg gegen Jugoslawien, den Russland mit Premier Primakow noch bis zuletzt verhindern wollte, mit einem Katzentisch im NATO-Russland-Rat, mit der Fortsetzung der »Raketenschild«-Pläne, mit der weiteren Osterweiterung der NATO und der EU (Osteuropäische Nachbarschaftspolitik).

Der damalige georgische Präsident Saakaschwili begann mit Rückendeckung aus der Bush-Administration (vor allem Vizepräsident Cheney) den Kaukasus-Krieg im August 2008, nachdem der neue russische Präsident Medwedjew gerade einen Vertrag über eine neue Sicherheitsarchitektur von Vancouver bis Wladiwostok (Juni 2008 in Berlin) vorgeschlagen hatte.

Russland zeigte zum ersten Mal die Zähne. Der Aggressor musste eine herbe Niederlage einstecken. In einem offiziellen westeuropäischen Gutachten wurde festgestellt, dass Georgien den Krieg vom Zaune gebrochen hatte.

Südossetien und Abchasien sagten sich endgültig von Georgien los. Saakaschwili wurde von der eigenen Bevölkerung und Elitestrukturen in Georgien davongejagt (von Poroschenko als Gouverneur von Odessa eingesetzt). Der neue US-Präsident Obama bremste zunächst den NATO-Erweiterungsprozess, zumal Merkel und Sarkozy auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 Bush Widerstand geleistet hatten (Die Ukraine wäre aufgrund der vielen inneren Probleme für eine Aufnahme noch nicht reif). Die Lage änderte sich, als klar wurde, dass der 2010 zum Präsidenten gewählte Janukowitsch (die Wahlen waren auch vom Westen anerkannt worden) bestrebt war, am verfassungsmäßigen neutralen Status der Ukraine festzuhalten (Dieser Meinung waren in der Ukraine nach Umfragen vor dem Umsturz etwa 70 Prozent der Bevölkerung). Er strebte gute Beziehungen nicht nur mit dem Westen, sondern auch mit Russland an. Das wollte man natürlich nicht und nutzte die weit verbreitete Unzufriedenheit über Misswirtschaft, Korruption und Unfähigkeit der Regierenden. Die gewaltigen Summen, die die USA in das Ukraine-Projekt gesteckt hatten (nach Aussage der Vizeaußenministerin Nuland rund 5 Mrd. $) sollten nach misslungener »Orangenen Revolution« von 2004 endgültig Früchte tragen.

Dass man in Moskau die Übernahme durch die NATO, was schon von Präsident Juschtschenko, Ministerpräsidentin Timoschenko und Jazenjuk noch vor dem Kaukasuskrieg von Brüssel schriftlich gefordert worden war, befürchten musste, liegt auf der Hand. Eine NATO-USA-Basis in Sewastopol wäre für Russland ein Albtraum geworden. »Die Versuche zur Eindämmung Russlands, die NATO- und EU-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands sind der Kern der Ukraine-Krise« [7].

Der Staatsstreich in der Ukraine, die Einsetzung einer prowestlichen, Pro-NATO-Regierung wurde maßgeblich durch die Einbindung rechtsradikaler, profaschistischer Kräfte möglich. Diese waren der Stoßtrupp, der den berechtigten, friedlichen Maidan-Protest in einen gewalttätigen Maidan verwandelte und den Umsturz bewirkte. Eine neutrale Ukraine wollte man verhindern, sie von Russland fern halten [8]; diese in einen Puffer gegen Russland (übrigens auch gegen Deutschland) verwandeln [9].

Auch die deutschen Regierenden haben Schuld auf sich geladen, sich auf den aggressiven Pfad der USA begeben und auf Seiten der Umstürzler eingemischt, sich nicht vom rechten Sektor distanziert. Geschichtsfälschung wurde betrieben und nicht widersprochen, wie die Haltung zu den Aussagen des ukrainischen Premierministers Jazenjuk in Berlin belegt.

Die Massenproteste auf der Krim und in der Ost- und Südukraine gegen das gewaltsame Vorgehen der neuen Kiewer Machthaber sowie die Unterstützung Russlands durch eine große Mehrheit der örtlichen Bevölkerung öffneten ein Zeitfenster zur Blockierung der geopolitischen Bestrebungen der USA und der NATO. Moskau nutzte es nach dem gewaltsamen Sturz von Janukowitsch zielstrebig und unterband den Vormarsch der NATO an einem weiteren, immerhin 800 km langen Abschnitt an der Grenze zu Russland. Die Krim entging dem Gemetzel, dass die Ostukraine traf, als Kiew zweimal erfolglos versuchte, den Konflikt militärisch zu lösen. Das russische Vorgehen führte in der Konsequenz zu Minsk II. Merkel und Hollande begriffen wohl den Ernst der Lage, vor allem für Westeuropa, wollten das Heft des Handelns nicht anderen überlassen. Die Verhandlungen in Minsk haben die akuten Gefahren und die reale Kräftelage deutlich gemacht, aber auch die Chancen für Auswege unter Beachtung der Interessen aller Betroffenen.

»Der Ukraine-Konflikt ist größer als die Ukraine … Es geht um die sicherheitspolitische Architektur im euroatlantischen Raum nach Ende des Kalten Krieges. Falsche Diagnosen und eben solche Therapien haben das Ukraine-Problem zu einem bösartigen Tumor entarten lassen, dem mit homöopathischen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Eine dauerhafte Lösung des Problems verlangt bisher gescheute Konsequenzen. Dazu gehören:

  • Erstens, der Versuch, Russland aus Europa hinauszudrängen, muss aufgegeben werden. … Zuverlässige Sicherheit in und für Europa gibt es nur mit, aber nicht gegen Russland.

  • Zweitens, das Sicherheitsbedürfnis Russlands ist so legitim und ausgeprägt wie das Deutschlands oder Polens oder der Ukraine. … Mit der ausdrücklichen Beitritts-Zusage vom 3. April 2008 an Georgien und die Ukraine hat die NATO ihre Karten überreizt. Nur eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland bietet die Möglichkeit, den neu aufgebrochenen Ordnungskonflikt in Europa friedlich zu lösen … .

  • Drittens, die vollmundigen sicherheits-und verteidigungspolitischen Ambitionen im Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine müssen abgespeckt und der Freihandelsteil in Einklang gebracht werden mit den schon bestehenden Verpflichtungen zwischen der Ukraine und Russland.

  • Viertens, Moskau und Kiew sollten ermutigt werden, ein bilaterales Gewaltverzichtsabkommen auszuhandeln, das alle Kernelemente einer europäischen Friedensordnung neu verbrieft.

  • Fünftens, die zahlreichen russischen Vorschläge für die Fortentwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur verdienen Prüfung, Diskussion und Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen.« [10]

Die größte Krise der Neuzeit birgt also nicht nur Kriegsgefahr, sondern auch die Chance für einen Neubeginn. Die Linke sollte sich für derartige Positionen stark machen.

Auch ein weiterer internationaler Brennpunkt ist ohne Russland nicht zu handhaben, der Syrienkonflikt. Im Grunde schon seit Jahrzehnten liegt den USA und ihren sunnitischen Gefolgsleuten in der Region das säkulare, eigenwillige und eigenständige Assad-Regime und seiner Achse mit dem Iran im Magen. Nachdem Assad, der Vater, gestorben war, glaubte man den jungen, unerfahrenen Nachfolger in die Tasche stecken zu können. Selbst als er mit über 90 Prozent gewählt wurde, gab es keine Kritik, wie sonst üblich. Man hatte Bashar al-Assad unterschätzt. Er setzte den Kurs des Vaters fort und half, die »guten alten Zeiten« enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion/Russland (einschließlich der militärischen Zusammenarbeit, Militärstützpunkte) zu reanimieren. Deshalb sollte er weg, natürlich nicht wegen tatsächlicher oder angeblicher Gewalt gegen die vielen oppositionellen Kräfte, die es eigentlich immer gab. Auch nicht wegen Demokratiedefiziten, die im Nahen Osten nun wahrlich nicht nur in Syrien anzutreffen sind. Man begann also großflächig die verschiedenen Gruppierungen zunächst im Ausland auszubilden, zu finanzieren, mit Waffen auszurüsten und dann im Land gegen das Regime in Stellung zu bringen. Vier Jahre hat die russische Seite mit Dialogvorschlägen versucht, dem blutigen Treiben ein Ende zu bereiten. Stets wurde das zerredet. Mit dem Erscheinen und der Ausbreitung des IS wurde die Lage komplizierter für den Westen, zumal viele der von ihm unterstützten Kräfte nicht sehr wirksam in Erscheinung traten [11].

Mit dem militärischen Eingreifen Russlands, das auf Bitte der syrischen Regierung, also völkerrechtlich legitimiert, erfolgte, änderte sich die Lage. Westliche Militärexperten zeigten sich überrascht über die Stärke der russischen Streitkräfte. Das Pentagon schien zeitweise sprachlos, man rätselte über einen Vorsprung von 4-5 Jahren in wichtigen Bereichen der russischen konventionellen Waffensysteme, die wirksam zum Einsatz gebracht wurden. Im Gefolge waren Veränderungen in der US-amerikanischen Position festzustellen. Man musste wohl begreifen, dass der Syrienkonflikt militärisch nicht zu gewinnen ist. Man sprach sogar von einem neuen Verstehen zwischen Washington und Moskau, das vielleicht auch im Ukrainekonflikt zum Tragen kommen könnte [12]. Auf alle Fälle kam es zur Wiener Konferenz mit einer Agenda, die Moskau schon länger für Verhandlungen vorgebracht hatte, so die Teilnahme einer iranischen Delegation und des syrischen Regimes. Das Stellen von Vorbedingungen scheint vom Tisch.

In westlichen Zeitungen war zu lesen, dass die Russen den Westen an den Verhandlungstisch gebombt hätten.

- Die Welt im Umbruch. Eine multipolare Weltordnung entsteht

Die Hoffnung der Sieger im kalten Krieg, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Warschauer Vertragsorganisation die endgültige Dominanz der westlichen Welt, dass das Ende jeglicher Alternative zum westlichen System erreicht ist, erweist sich als Trugschluss. Die Hegemonial- und Kriegspolitik der Bush-Administration hat dazu maßgeblich beigetragen. Davor hatte Brzezinski schon vor Jahren gewarnt [13]. Früher als dieser ahnte, versanken die USA in die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise und rissen die Welt mit. Die Folgen für die innere und äußere Lage der USA waren verheerend. Die abenteuerliche Kriegspolitik erreichte nicht ihr Ziel, vormalige Vorherrschaft wieder zu erlangen. Die Sicherung der Energieressourcen und ihrer Transportwege in Zentralasien und im Nahen Osten gelang nicht. Die dort angezettelten Kriege haben die USA nicht gewinnen können, trotz der immensen Militärausgaben [14]. Sie brachten hunderttausende Menschen um, beförderten Chaos, aber auch Widerstand. Der Terrorismus eskalierte.

Obama wurde als Alternative gewählt, ein Kulturschock sondergleichen. Aber auch er konnte sich nicht vom Vorherrschafts- und Einmischungswahn trennen, der Wurzel allen Übels, was in der Zuspitzung der Ukraine-Krise folgenschwer zum Ausdruck kam.

Auf diesem Hintergrund vollzieht sich der Aufstieg des Ostens und Südens. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer Vertragsorganisation bahnt sich eine neue Weltenwende an.

Scholl-Latour spitzte in einem Interview mit Neues Deutschland vom 30.10.2009 zu: »Dem Weißen Mann ist vor allem das Monopol industrieller und militärischer Überlegenheit abhandengekommen, auf das er bisher seinen imperialen Anspruch gegründet hat. Nach dem Intermezzo der Pax Americana haben wir ein wieder erstarktes Russland und ein starkes selbstbewusstes China. Und die wachsende islamische Welt«.

Im UN-»Bericht über die menschliche Entwicklung« für 2013 wird der Aufstieg des Südens/Ostens belegt. In ihm wird prognostiziert, dass bis 2020 die Wirtschaftsleistung allein von China, Indien und Brasilien die Gesamtproduktion von Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und der USA übersteigen wird. Das sei nichts weniger als eine epochale Verschiebung der globalen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse [15].

Der Aufbruch des Ostens und Südens scheint nicht aufzuhalten zu sein. Er setzt sich fort, trotz der in letzter Zeit deutlicher gewordenen wirtschaftlichen Probleme und politischen Turbulenzen in einigen lateinamerikanischen Ländern, die neben inneren Ursachen auch viel zu tun haben mit den Krisenerscheinungen in der westlichen Welt und dem Streben nach Revanche.

In Russland fallen die Sanktionen des Westens, die stark gesunkenen Rohstoffpreise und das Unvermögen, die Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu überwinden, ins Gewicht. In China sind es vor allem die jüngsten Börsenturbulenzen, die auf Entwicklungsprobleme der Wirtschaft hindeuten.

Der Aufschwung findet seinen Ausdruck in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, im Verbund der BRICS-Staaten und der Eurasischen Union. Jüngster Beleg dafür sind die Gipfeltreffen im baschkirischen Ufa vom 9. bis 11. Juli 1915, die zugleich als Antwort auf die Droh- und Sanktionspolitik des Westens gegen Russland gewertet werden können.

Im bereits erwähnten UN-Bericht heißt es, dass die Fortschritte im Osten und Süden auf eine pragmatische Politik zurückzuführen sind, in der Regierungen proaktiv handeln, statt sich von den Marktkräften das Geschehen diktieren zu lassen. Als besonders zielführend werden entschlossene sozialpolitische Reformen und die Investitionen in Menschen vor allem durch die Förderung der Bildungschancen gesehen. Diese neuen Gegebenheiten der Weltentwicklung, die sich grundsätzlich von der westlichen kapitalistisch-neoliberalen Doktrin und Praxis unterscheiden, haben an Fahrt zugenommen. »Der Süden hat sich von der Bevormundung durch den Norden Schritt für Schritt emanzipiert. Der im Washington Consensus (Dreieinigkeit der Privatisierung, Liberalisierung und Defizitreduzierung) zusammengefassten Entwicklungsblaupause wird eine klare Absage erteilt« [16]. Es gehört zu den wichtigen Erfahrungen der Nachwendezeit in Russland, dass die Versuche von Heerscharen westlicher Berater, westliche Modelle überzustülpen, kläglich gescheitert sind (Goldman Sachs).

Die Entwicklungen im Osten/Süden sind natürlich nicht per se als links zu verorten. Sie gehören aber in den Fokus linker Analyse und Politik. Natürlich ist die nachholende kapitalistische Entwicklung, oder Kapitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, die Öffnung zum kapitalistischen Weltmarkt, nicht zu übersehen und zu bedenken. Aber eine vereinfachte Gleichsetzung mit dem westlichen neoliberalen Modell als Imperialismen chinesischer, russischer, indischer oder brasilianischer Couleur, die Multipolarisierung der Welt nur als Konkurrenzverhältnis imperialistischer Akteure zu betrachten, ist fraglich und hält einer objektiven, komplexen Analyse, die noch aussteht, nicht stand. Selbst wenn man bedenkt, dass die BRICS-Staaten für die Realisierung ihrer nationalen Interessen auch außerhalb ihrer Grenzen global auftreten. So in Afrika und Lateinamerika. Aber auch hier sind die Unterschiede zum Vorgehen des Westens gravierend [17].

Der Süden/Osten, die BRICS-Staaten formieren sich ausgehend von ihren nationalen Interessen, ihrer wachsenden, vor allem wirtschaftlichen und internationalen Potenz, ausgehend von den Erfahrungen und Ergebnissen des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Warschauer Pakts und der Nachwendeentwicklungen. Die Machteliten in China und Russland akzeptieren die Marktwirtschaft, sind aber zugleich der Auffassung, dass die entscheidenden Entwicklungsstränge in der Hand des Staates bleiben, vom Staat gesteuert werden müssen. Und viele der Staatskonzerne bzw. vom Staat regulierten Wirtschaftsstrukturen weisen eine höhere Effizienz als renommierte westliche privatkapitalistische Unternehmen auf, haben sich in der Krise behauptet [18]. Das stellt für die Privatisierungsfetischisten im Westen eine zentrale Herausforderung dar. Dies und die beharrliche Einforderung der Eigenständigkeit sind der eigentliche Dorn im Auge der Neoliberalen, der Kern des gegenwärtigen Ost-West-Konflikts. Die Länder des Ostens haben die territoriale Ausdehnung, die natürlichen Reichtümer, die qualifizierten und in zwei Gesellschaftssystemen erfahrenen Bürger, um eigene Wege zu gehen, eigenen Werten zu folgen, ihre Interessen durchzusetzen. Nicht zu unterschätzen ist ihre Geschichte des anti-imperialistischen Befreiungskampfes, der tiefe Wurzeln hinterlassen hat. Die Erfahrungen mit dem Kolonialismus und dem Rassismus des Westens, die zugefügten Zerstörungen und Demütigungen, der Volkskampf dagegen bleiben noch für eine lange Zeit identitätsstiftend. In Indien hat die Bourgeoisie den antikolonialistischen Befreiungskampf unterstützt und den unabhängigen Kurs der indischen Regierungen gegen westliche Dominanzbestrebungen und Arroganz, für Blockfreiheit, mitgetragen. In China sind Boxeraufstand und vor allem die grausame Intervention der japanischen Militaristen tief im Gedächtnis verankert. Der Stolz auf den Sieg über den Faschismus wird in Russland und anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion noch lange Zeit von fundamentaler Bedeutung bleiben. Wie aktuell dies ist, zeigt sich in der Auseinandersetzung um die Ukraine.

Ob die Aufwärtsentwicklung im Osten/Süden nachhaltig sein wird, ist noch nicht ausgemacht. Neben phantastischen Ergebnissen stehen viele Probleme und Widersprüche, die von beträchtlicher Sprengkraft sind. Die Massenproteste in Russland, auch in China, Indien, zuletzt in Brasilien, bezeugen dies. So unterschiedlich sie und ihre auslösenden Momente sind, so bringen sie vor allem jedoch beträchtlichen sozialen Unmut zum Ausdruck. Eine stark gewachsene Mittelschicht ist mit ihrer gesellschaftlichen Präsenz unzufrieden. Werden keine adäquaten Lösungen gefunden, drohen dramatische Turbulenzen.

Die Ost- und Südmächte sind aufgrund ihrer objektiven Interessenlage und erfolgreichen Entwicklung ein starkes Antikriegsbollwerk. Ob es gefällt oder nicht: Von prinzipieller Bedeutung für die geostrategische Weltlage und den Weltfrieden ist, dass Russland den USA als ebenbürtige Atommacht Paroli bieten kann. Das russische Abschreckungspotential ist die entscheidende Barriere für Kriegsabenteurer. Es eröffnet Möglichkeiten für Abrüstung und Entspannung, schärft den Blick für die Realitäten. Das aktuelle Agieren der Obama-Administration scheint darauf hinzudeuten. Offensichtlich hat man keine Lust, in neue Kriege hineinzuschlittern, die man nicht gewinnen kann.

Natürlich wollen sich die USA und die NATO nicht mit den strategischen Einflusseinbußen abfinden. NATO- und EU-Osterweiterung, die von Obama verkündete neue Strategie der USA im asiatisch-pazifischen Raum, die aggressiven Beschlüsse der NATO-Gipfel, das gegen Russland und China gerichtete Antiraketensystem, sind nicht vom Tisch. Die Lösung der gefährlichen Krisen in Ukraine und Syrien ist noch nicht in trockenen Tüchern. Man könnte versuchen, stärker mit »soft power«, Einmischung in die inneren Angelegenheiten unter Nutzung der vielen, vor allem wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu punkten, den Kontrahenten auf die Schulter zu zwingen.

Die Linke muss sich kritischer mit westlicher Aggressivität und Vormachtstreben auseinandersetzen. Das hat nichts mit Antiamerikanismus zu tun, wie vom Mainstream oft behauptet wird. Sie ist verpflichtet, die Ursachen für die Spannungen und Flüchtlingsströme, für Nationalismus und Neofaschismus zu analysieren und anzuprangern, die Sorgen und Ängste der Bevölkerung aufzugreifen und realpolitische Überlegungen für linke Außenpolitik systematisch vorzubringen und für ihre Umsetzung in breiten Bündnissen zu kämpfen.

Die Linke sollte sich dem Osten/Süden öffnen. Eine unvoreingenommene Betrachtung wird viele identische oder ähnliche Positionen und Anknüpfungspunkte, vornehmlich auf internationalem Gebiet, erkennbar machen. Die BRICS-Staaten sind objektiv Partner für linke Friedensbemühungen.

Für einen Neubeginn in den Beziehungen mit Russland. Für eine neue Ostpolitik

Der OSZE-Vorsitz Deutschlands in diesem Jahr lässt an den Helsinki-Prozess, die Schlussakte von Helsinki erinnern.

Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als erste Überlegungen für eine solche Entwicklung in die politische Debatte gebracht wurden, wagten nur wenige zu hoffen, dass die Sicherheitskonferenz diese historische Dimension einer neuen Verständigung erreichen könnte. Zu tief schienen die Gräben des Kalten Krieges, zu unerbittlich die bipolare Konfrontation, in die sich die einstigen Verbündeten im Kampf gegen den faschistischen Aggressor verirrt hatten. Auf der Grundlage der UNO-Charta, des Völkerrechts und der Erfahrungen der Nachkriegszeit entstand ein tragfähiges Geflecht von allen Unterzeichner-Staatschefs akzeptierter Selbstverpflichtungen zum vernünftigen, weil friedfertigen Umgang miteinander. Man hatte begriffen, dass das militärische Austragen von Konflikten in der Endkonsequenz mit Kernwaffen erfolgen, alle und alles vernichten würde.

Wird es in der heutigen, krisengeschüttelten Welt erneut gelingen, ähnliche Antworten zu finden?

Aktuell bleibt das Strategiepapier des Auswärtigen Amtes »Annäherung durch Verflechtung«, das im September 2006 Außenminister Steinmeier vor seinen EU-Kollegen als Grundlage für die deutsche EU-Präsidentschaft vorgestellt hatte. Im Strategiepapier heißt es: »Ziel einer europäischen Ostpolitik müsse es sein, das konstruktive Engagement Russlands durch neue Kooperations- und Integrationsangebote zu fördern« und seine Verankerung in Europa durch enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen »irreversibel zu machen«. Im Papier wird für eine nüchterne Bewertung der zum Teil übereinstimmenden, zum Teil auseinanderlaufenden Interessen geworben. Russland bleibe ein wichtiger Partner, selbst wenn es jetzt nach außen mit neuem Selbstbewusstsein nationale Interessen vertrete und im Inneren »einen eigenen, russischen Weg« verfolge, »der vielfach asynchron zu dem der EU« verlaufe. Ohne intensive Partnerschaft mit Russland könne es weder eine »gesamteuropäische Friedensordnung« noch eine Lösung von Konflikten wie auf dem Balkan oder im Nahen Osten geben. Deutschland befürworte ein neues Abkommen der EU mit Russland, das »umfassend, integrativ, nach vorn weisend angelegt ist und klare Signale enthält, dass Russland in Europa willkommen ist«. Als mittelfristige Ziele werden eine Freihandelszone, eine Energiepartnerschaft, enge Beziehungen auf den Gebieten der Forschung, Bildung und Kultur sowie ein Ausbau der gesellschaftlichen und menschlichen Kontakte genannt, was etwa den am 10. Mai 2005 auf dem EU-Russland-Gipfel verabschiedeten »Wegekarten über die vier gemeinsamen Räume der Kooperation und strategischen Partnerschaft« entspricht [19].

Gute Beziehungen zu Russland müssen deutsche Staatsräson werden. Die Sowjetunion hat entscheidend zur Zerschlagung des deutsch-faschistischen Aggressors im 2. Weltkrieg beigetragen und die meisten Opfer zu beklagen. Ohne ihre konstruktive Haltung wäre der Zwei-Plus-Vier-Vertrag nicht möglich gewesen. Normale Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sind Voraussetzung für Sicherheit und Frieden in Europa und darüber hinaus. Dafür einzustehen, sollten Linke als ein Hauptanliegen sehen.

Minsk II hat alle Friedensanhänger und Realpolitiker in ihrem Widerstand gegen Kriegstreiberei bestärkt und ermutigt, noch entschlossener weiterzumachen. Der Kampf für Sicherheit in Europa ist zu intensivieren, eine neue Ostpolitik sollte zum Markenzeichen linker Friedenspolitik werden. Damit könnten sich in Deutschland viele identifizieren.

5. Juni 2016


Anmerkungen:

[1]  Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, die im Koalitionsvertrag Anwendung gefunden hat.
[2]  NATO-Osterweiterung, Osteuropäische Nachbarschaftspolitik, Speerspitze Ukraine gegen Russland – George Freeman von der US-amerikanischen Denkfabrik Stratfor in einem Artikel am 6. Mai 2014.
[3]  Scholl-Latour, »Die Angst des weißen Mannes«.
[4]  Eckhard Cordes, Vorsitzender des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, ND, 13.02.2015.
[5]  Putin-Reden in Berlin und München, Medwedjew in Berlin.
[6]  Angebote Putins an Bush nach dem Terroranschlag in den USA; er war der erste Staatschef, der Hilfe anbot.
[7]  Prof. Mearsheimer aus den USA bei einer Veranstaltung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
[8]  Zbigniew Brzezinski, »Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft«.
[9]  George Freeman, Chef der US-amerikanischen Denkfabrik Stratfor in einem Artikel vom 6. Mai 2014.
[10]  Prof. Walther Stützle, der Freitag, 19. Februar 2015.
[11]  Flop des 300-Millonen-Dollar-Projekts der USA zur Ausbildung von 5.000 Kämpfern gegen das Assad-Regime; nur 5 standen am Ende zur Verfügung, Anhörung im US-Kongress.
[12]  Stefan Meister von der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.), neuer Ressortleiter für Russland, der wahrlich kein »Russlandversteher« ist.
[13]  »American debacle«, Artikel in der Los Angeles Times, 10.10.2005; Buch »Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power«, 2012.
[14]  Henry Kissinger, Der Spiegel, 46, 2014.
[15]  ND, 15.03.2013.
[16]  Martin Ling, ND, 15.03.2013.
[17]  Jürgen Heiducoff, 3. Mai 2012, freier Autor, 2006-2008 Militärpolitischer Berater an der BRD-Botschaft in Kabul, bis 2011 Leiter des Dezernats Nukleare Rüstungskontrolle im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr.
[18]  Handelsblatt vom 31. Mai 2010.
[19]  FAZ, 4. September 2006.