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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Inge Rapoports Engagement aus studentischer Sicht

Elias Gläsner, Hamburg

 

Liebe Familie Rapoport, liebe Kommiltion:innen und Kolleg:innen, liebe Gäste,

es ist mir eine große Freude, heute mit Ihnen diesen Hörsaal nach Ingeborg Rapoport benennen zu dürfen. Als wir studentischerseits vor drei Jahren im Fakultätsrat die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Benennung der Lehrhörsäle am UKE beantragten, taten wir dies mit einer bestimmten Absicht.

Während des deutschen Faschismus beteiligten sich Mediziner:innen auch dieser Fakul­tät massenhaft willfährig an den grausamsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und stellten ihre geistigen Kapazitäten in den Dienst von »Rassenhygiene«, Weltkrieg und sys­tematischer Massenvernichtung. Theodor Heynemann bspw. führte als damaliger Leiter der Frauenklinik, zu der dieser Hörsaal heute gehört, mehrere Hundert »Zwangssterilisie­rungen« im Rahmen des Programms zur »Verhütung erbkranken Nachwuchses« durch. In der Nähe der psychiatrischen Klinik Ochsenzoll in HH-Langenhorn trägt noch heute eine Straße seinen Namen – sie wurde so benannt im Jahre 1960.

Aus diesen geschichtlichen Erfahrungen erwächst meines Erachtens eine humane Verantwortlichkeit von Mediziner:innen, die weit über das professionelle Wirken hinausgeht. Am prägnan­testen ist sie gefasst im Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes von 1948, mit dem ange­hende Ärzt:innen geloben, ihr Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Die An­regungen zur Herausbildung eines solch grundlegenden humanistischen Ethos sind im heutigen Medizinstudium leider recht spärlich gesät. Mit der Benennung von Hörsälen und der damit verbundenen Würdigung beispielgebender Persönlichkeiten und ihrer Bio­grafien wollen wir daher öffentliche Orte schaffen, die lebendig begreifbar machen, worin diese Verantwortlichkeit besteht und wie sie gemeinsam und je persönlich realisiert wer­den kann.

In diesem Sinne gibt es wohl kaum eine bessere Namensgeberin für diesen Hörsaal als Ingeborg Rapoport. Viele Begriffe lassen sich finden, um ihre eindrucksvolle Persönlich­keit zu charakterisieren. Sie war überzeugte Sozialistin, herausragende medizinische For­scherin, zutiefst empathische Ärztin. Lebensbejahend, menschenzugewandt, offenherzig, couragiert, streitbar, humorvoll, renitent, gewitzt, neugierig, konsequent, selbstironisch und nie gewillt, darauf zu verzichten, Neues zu lernen. Es scheint mir unmöglich, all diese Facetten im Rahmen einer solchen Veranstaltung angemessen zu würdigen. Daher möch­te ich mich, auch weil es mir aus heutiger Sicht besonders relevant erscheint, auf ihren inneren Zusammenhang konzentrieren, also den Zusammenhang von Gesellschaft, Medi­zin und Persönlichkeit.

Als junge Medizinstudentin in den USA mit wachem Geist und, aufgrund der Verfolgung durch die Nazis auch nicht gänzlich ohne Bewusstsein für die Entwicklungen ihrer Zeit, verband sie das Arztsein noch mit einer, wie sie selbst einmal sagte, recht kitschigen, wenngleich doch ehrlich gemeinten Vorstellung davon, etwas »Gutes« tun zu können. Lei­tend dabei war ein vermutlich am besten als Barmherzigkeit zu charakterisierender Impe­tus, der sie, ohne je etwas mit einem Gott anfangen zu können, an den verschiedenen religiösen Überlieferungen beeindruckt hatte, die sie in ihrer Jugendzeit kennengelernt hatte. So orientiert begegneten ihr als angehende Kinderärztin nun jedoch Patient:innen, denen mit ärztlicher Heilkunst allein nicht zu helfen war. Der Hunger, die Unterernährung und das soziale Elend, unter dem insbesondere die afroamerikanische Bevölkerung in den Städten der Ostküste Ende der 1930er Jahre litt, ließen sich mit Infusionen nicht beseitigen.

An diesem Punkt weigerte sich Ingeborg Syllm, ihre Verantwortlichkeit darauf zu begren­zen, lediglich mehr oder weniger empathisch ihre ärztlich-moralische Pflicht zu tun. Sie begann vielmehr zugleich auch systematisch nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Ursachen dieses gesellschaftlichen Unrechts zu begreifen und zu überwinden seien. Die­se Suche führte sie, gemeinsam mit ihrem späteren Mann Samuel Rapoport, zur kommu­nistischen Partei der USA, in der sie folglich begann, nun auch gesellschaftspolitisch dafür zu wirken, dass alle Menschen gleichermaßen sich bestmöglich entwickeln und entfalten können mögen.

Auf diese Weise gelangte sie zur sozialkritischen Substantiierung ihrer humanistischen Überzeugungen. Ohne diese Entwicklung – ohne die Bejahung der allseitig humanen Ver­antwortlichkeit des Menschen, ohne den konsequenten Willen, die Ursachen menschli­cher Probleme zu ergründen, bis sie lösbar erscheinen und ohne die offen-kritische Aus­einandersetzung mit den Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus und den Her­ausforderungen der Zeit – sind meines Erachtens auch ihre außerordentlichen medizinischen Ver­dienste und ihre bis ins höchste Alter umwerfend präsente menschliche Größe nicht zu verstehen.

Entgegen aller Vorurteile und Fehldeutungen möchte ich es deutlich hervorheben: der Marxismus als weltanschauliches System gründet auf einem unbedingten Humanismus und den Ideen der Aufklärung und ist deren konsequente Verwirklichung. In der 1843 verfassten Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb der 25-jährige Karl Marx: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«

Wenige agierten meines Erachtens so umfassend nach dieser Überzeugung, wie es Ingeborg Rapoport zeitlebens tat. Dies bestimmte auch ihr Verhältnis zur DDR, dem Staat, der sich aus anti­faschistischen Schlussfolgerungen (mitsamt seinen ererbten Geburtsfehlern) denselben Idealen verschrieben hatte. Als Mitglied der SED focht sie so manchen Strauß mit doktri­nären Erstarrungen und dogmatischen Abwegen in der Entwicklung des Sozialismus aus. Trotz all dieser Umstände machte sie bis zuletzt keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, dass dies die bessere, weil menschlichere Gesellschaft als der kapitalistisch restaurierte Wes­ten, gewesen sei. Allein das materiell verwirklichte Grundrecht auf Bildung, Arbeit und Wohnen, die Überwindung existenzieller sozialer Not und das für alle kostenlos zugängli­che, mit flächendeckender poliklinischer Grundversorgung bis ins letzte Dorf entwickelte, auf Prävention und Aufklärung orientierte Gesundheitswesen – in dem übrigens der Para­graf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, schon 1972 abgeschafft wurde – könnten Anlass genug sein, über die Triftigkeit dieser ihrer Einschätzung zumin­dest nachzudenken.

Ingeborg Rapoport hat sich nach 1990 stets auch der Frage gestellt, welchen Anteil ihr Wirken am Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaft gehabt haben mag, was sie hätte anders oder besser machen können.

Auch darin folgte sie einem Gedanken, den Bertolt Brecht in seinem Mitte der 1930er Jahre verfassten »Buch der Wendungen« wunderbar auf den Begriff brachte, und der zur Ausgangsfrage nach der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit des Mediziners zurück­führt:

»Me-Ti sagte: Man hört allgemein, es sei schwerer, Schläge zu verwinden, an denen man schuldlos ist, als solche für die man kann. Ich finde das Gegenteil. Was mich schuldlos trifft, bekümmert mich verhältnismäßig wenig, aber das von mir verschuldete Unglück schlägt mich nieder. Allerdings ziehe ich mich für viel mehr Dinge zur Verantwortung, als sie gewöhnlich einem Menschen in die Schuhe geschoben werden. Auch Krankheiten und sogar Kriege veranlassen mich zum Nachdenken darüber, was für Fehler ich gemacht haben kann.«

In unser heutigen Welt leben Mediziner:innen in einem eklatanten Widerspruch. Sie sol­len ihr Leben in den Dienst der Menschlichkeit stellen, aber dieses, wenn überhaupt, auf einen eng abgezirkelten Bereich beschränken. Dagegen stehen gesellschaftliche Tatsa­chen: Ein profittauglich organisiertes und kommerziell strukturiertes Gesundheitswesen ist offenkundig nicht dazu geeignet, nachhaltig Gesundheit zu schaffen. Die Corona-Pan­demie hat das auf frappierende Weise gezeigt. Die soziale Ungleichheit führt dazu, dass die durchschnittliche Lebenserwartung schon zwischen Bewohner:innen von Blankenese und Billstedt um mehr als zehn Jahre differiert. Eine Bundesregierung will massiv Sozial­ausgaben kürzen, ruft die Bevölkerung zur Kriegstüchtigkeit auf und exportiert im Namen einer verqueren »Staatsräson« Waffen, mit denen vor den Augen der Weltöffentlichkeit schwerste Kriegsverbrechen verübt werden. Eine neofaschistische Partei kann ihre men­schenverachtende Hetze erfolgreich zur Wahl stellen.

Diese und weitere Umstände erfordern meines Erachtens, das »Leben im Dienste der Menschlichkeit« wieder so zu begreifen, wie es als Konsequenz aus der Befreiung vom Faschismus gemeint war: mit Nachdrücklichkeit auch für eine zivile, solidarische und menschenwür­dige Entwicklung der Gesellschaft insgesamt zu wirken.

Sich in dieser Weise in die Geschichte zu stellen, ist, wie Ingeborg Rapoport noch mit 105 Jahren bewiesen hat, eine rundum Sinn ergebende Angelegenheit.

Man muss dafür nicht gleich zur Sozialistin werden, aber man sollte es vielleicht auch nicht kategorisch ausschließen. Insofern freue ich mich außerordentlich, dass mit der heutigen Hörsaalbenennung eine wunderbare Gelegenheit geschaffen ist, von dem ein­drucksvollen Beispiel Ingeborg Rapoports dauerhaft lernen zu können. Vielen Dank!

(Vorgetragen am 24. Mai 2024.)