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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

... in memoriam Tschernobyl

Werner Wüste, Wandlitz

 

Was wusste die Welt schon? Fast nichts. Kaum, dass in dieser wenig bedeutenden, kleinen Stadt in der Ukraine unweit Kiew Golda Meir geboren wurde, 1969 bis 1974 israelische Ministerpräsidentin. Bei Wikipedia ist Kiew angegeben. Eben. Wer kannte schon Tschernobyl?

Immer wieder sind es  Katastrophen, die einen Ort buchstäblich über Nacht weltbekannt machen; Naturkatastrophen wie auch gesellschaftliche, politische; menschliche also, von Pompeji bis Hiroshima, von Tunguska bis Pearl Harbor, Three Mile Island, Tschernobyl. Fukushima nicht zu vergessen.

Auch die Fragen sind immer wieder gleicher Art: Besonders dringlich jene nach dem ursächlichen Anteil menschlichen  Handelns  oder gesellschaftlichen Unterlassens. 

1990.

Freund Grischa fragte mich: »Willst du einen Film über Tschernobyl machen? Fahr hin! Sieh dir alles an! Du kannst Irene mitnehmen.«

Wir begannen zu recherchieren, sammelten Informationen und Eindrücke, lernten Menschen kennen und »wurden warm« mit ihnen; es entstand und wuchs Vertrauen. Am Ende dieser Vorbereitungsphase würden wir ein Exposé schreiben. Vor Ort half uns Andrej, Grischas Partner.

Indes: Was verharmlosend »Abwicklung« genannt wurde und sich zeitgleich zu Hause vollzog, hatte ebenfalls eine Katastrophe zum Hintergrund. Ich denke an mein Land, an meine Arbeitsstätte, den Volkseigenen Betrieb DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Die Aasgeier waren schon vor Ort. Filmthemen konnte man zwar noch anbieten, den Auftrag- und Geldgeber allerdings musste man mitbringen.

Ich hatte nun unverhofft und ohne eigenes Zutun beides.

Bald, nach nur wenigen Tagen, gab es ein ernstes Gespräch. Andrej erklärte uns, wir müssten sofort Kameramann und Aufnahmetechnik aus Berlin kommen lassen und die Dreharbeiten beginnen. Verhandlungen mit einem Unternehmen der USA kämen bald zum Abschluss; dann würden alle Forschungsrechte, alle Rechte der journalistisch-publizistischen Verwertung an besagtes Unternehmen verkauft sein.

Es war das fünfte Jahr nach der Havarie; das fünfte Jahr heißer Diskussion also über Ursachen und Verantwortung, eingeschlossen Schuldzuweisungen und Verurteilungen. Niemand wartete auf uns, dass wir weiteres zur Debatte beitrügen.

Wir würden allerdings und vor allem über die Menschen erzählen, die sich gegen die Folgen der Katastrophe stemmten. Vor allem über sie. Und wir würden Andrej mit ins Boot nehmen, ihm die »Reporterrolle« anvertrauen; er kannte sich aus, er hatte die Havarie miterlebt. 

Zum Auftakt und nicht nur in taktischer Erwägung baten wir den Stabschef für Internationale Verbindung und Information in Tschernobyl,  Pawel Pokutnij, uns die Lage zu skizzieren.

Ja, es ist wahr und man muss die Dinge beim Namen nennen: die Havarie von Tschernobyl fiel mit dem Beginn jener Periode zusammen, die wir die Perestroika nennen – Perestroika, Glasnost – und Tschernobyl war eigentlich der Prüfstein:

würden wir, was wir verkündet haben, auch konsequent verwirklichen . . .

Die erste Etappe war eine Etappe des Verschweigens, des Nicht-zu-Ende-Sprechens . . .

Hätten wir von Anfang an die Wahrheit gesagt, hätten wir den Umfang der Havarie nicht kleingeredet – internationale Hilfe wäre früher und effektiver gekommen.

Pawel Grigorjewitsch ist ein imposanter Kerl. Groß und kräftig, ausgestattet mit einer Stimme wie Lawrow. Vertrauen erweckend.

Wir wollen wissen, welche Perspektive es für die Menschen gibt, die aus eigenem Entschluss in die »Zone« zurück gekehrt sind, die sogenannten Selbstsiedler.

Das sind meist ältere Menschen, sie haben nicht Fuß fassen können anderswo, sie hatten Heimweh,  . . . sie haben schon einen schweren Schock erlitten, ein zweites Mal werden wir sie nicht umsiedeln, das könnte für sie ein Schlag sein, den sie nicht durchstehen . . .

Nun, jetzt leben sie hier, klagen nicht über ihre Gesundheit, es mag Probleme geben, aber sie erklären: alles ist gut . . .

Etwa 1.000 Menschen leben in der »Zone«. Sie sind alle namentlich bekannt, werden mit sauberen Lebensmitteln, werden medizinisch versorgt . . . Aber zu sagen, dass das hier ein vollwertiges Leben sei, nein, das geht nicht. 

Pawel Grigorjewitsch hatte in Afghanistan gedient. Auch so ein Name, der für eine Katastrophe steht.

Man erzählt sich diese Geschichte: In den Unterstand kam eine Handgranate geflogen. Pawel Grigorjewitsch erhob sich mit seinem Glas: »Nun, Genossen, ich schlage vor, wir trinken aus!« Dann warf er die Handgranate raus.

Wir hatten so manches erfahren in den ersten Tagen, manchen vielversprechenden Einstieg in eine interessante Geschichte, dem wir liebend gern nachgegangen wären. 

Man zeigte uns z.B. zwei Gruppen von Schafen. Die wurden unterschiedlich behandelt. Einer Gruppe wurde ein selbst entwickeltes Medikament ins Futter gemischt. Zum Entgiften.

Im Kot wurden bereits radioaktive Nukleide nachgewiesen. Andrej war beteiligt an diesem Versuch.

Nach der Havarie waren viele Rinder in die Wälder geflüchtet, dann aber bald zurückgekehrt zu den Menschen. Die gaben  ihnen neue Namen: Alpha, Beta, Gamma . . . Den Bullen, ein Prachtkerl, tauften sie Urantschik.

Und dass der nicht faul war, belegte die ansehnliche Kälberherde.

Andrej machte uns mit Olja und Mischa bekannt. Sie wohnten in Tschernobyl. In ihrem eigenen Haus, auf dem eigenen Grundstück. Das war nicht selbstverständlich. Onkel Mischa, wie Andrej ihn nannte, hatte ein Schild angebracht. Ölfarbe auf Holz. Solide. Haltbar auf lange Sicht: Sdjes shiwjot chosjain doma. »Hier wohnt der Hausherr«.

Olja und Mischa sind Selbstsiedler. Samossioly.

O: . . . man sagte uns schon auf der Fähre, dass es eine Havarie gegeben hat. An einigen Stellen waren die Straßen gesperrt. 

A: War da nichts zu sehen?

O: Nein, es war überhaupt nichts zu sehen. Unser Schwiegersohn wollte am Freitag Abend in der Nähe des Kraftwerks Angeln gehen . . . am Sonnabend sollte er kommen, er kam und kam nicht. Viele Leute sind damals noch nach Pripjat auf den Markt gegangen. Und da war sogar noch eine Hochzeit . . .

A: Habt ihr keine Angst gehabt?

O: Nein, wir haben eigentlich keinen großen Schreck bekommen . . . 

O: Wir wurden evakuiert. Das war am 5. Mai. Wir haben eine Tasche voll Lebensmittel mitgenommen, Brot . . . und dann war ja Ostern, und wir haben gefärbte Eier mitgenommen . . . 

A: Tantchen, Sie haben mir erzählt, dass Ihre Tochter zuerst zu Ihnen zurück gekommen ist?

O: Ja, sie hat gesagt, lieber in Strahlung leben, aber zusammen.

A: Und wer war nun zuerst auf die Idee gekommen, wieder nach Tschernobyl zurück zu kommen?

O: Das hat bei uns der Herrgott selbst entschieden.

. . .

M: Einmal bin ich hier her zurück gefahren, um mir eine Jacke zu holen, da wurden mir gleich 50 Rubel abgezogen.

O: Von der Rente. Wir sind ja Rentner.

A: Hat man Dir also Geld abgenommen.

M: 50 Rubel!

. . .

M: Manchmal fahre ich in die Kreisstadt nach Zucker.

A: Nach Zucker? 150 Kilometer?

M: Ja natürlich. Ich brauch doch meinen Zucker. Für den Tee zum Beispiel.

. . .

A: Und Du spürst natürlich nichts?

O: Nein, ich spüre wirklich nichts. Gar nichts.

A: Und es tut auch nichts weh?

O: Nein.

A: Und Du wirst auch nicht müde?

O: Nun ja, natürlich werde ich auch müde. Es sind ja immerhin fünf Jahre vergangen. Und man wird so oder so auch älter.

A: Arbeitest Du viel im Garten?

M: Nun, es langt.

A: Ich hab bei Euch Tomaten gesehen. Kartoffeln baut Ihr auch an.

M: Ja. Kartoffeln.

A: Und wollt Ihr die Kartoffeln nicht den Dosimetristen zeigen?

M: Die Dosimetristen überprüfen hier alles. Ich habe darüber auch Bescheinigungen. Über das Haus, den Garten usw. Bei uns wurde nichts festgestellt.

A: Aber es geht ja nicht nur um Haus und Erde. Ihr müsstet auch die Produkte überprüfen lassen.

M: Die prüfen wir schon selber.

A: Wie macht Ihr das denn?

M: Sehr einfach. Wir essen sie, und sie bekommen uns gut. Sie schmecken besser als in der Gaststätte. Und dann sind sie schon in Ordnung.

A: Und gebt Ihr auch Besuchern davon?

O: Uns besuchen ja nicht viele.

A: Und Euren Enkeln?

O: Nein. Den Enkeln geben wir nichts. Um des Lebens auf der Erde willen: Den Kindern geben wir nichts.

Es war sehr viel Einverständnis zwischen den Dreien. Fröhliches, fast übermütiges Einverständnis. Und natürlich war Onkel Mischas Tee nur eine Alibi-Erklärung für den Zuckerkauf in der Kreisstadt. Sein »Selbstgebrannter« war hervorragend, schmeckte wie Kuba-Rum.

Zum Abschied bekamen wir einen Beutel mit Walnüssen geschenkt. Wir haben sie »geprüft«, auf die beschriebene, bewährte Weise. Und ich bin inzwischen fast Neunzig!

Andrej bestätigte, was wir als Gewissheit mitnahmen: »Onkel Mischa, Du bist Optimist!«

Die Welt bäumt sich auf  gegen das Corona-Virus. Mancher kocht sich sein Süppchen an den heißen Debatten. Und immer wieder liest oder hört man in allen denkbaren Zusammenhängen:

»Es kann keinen 100-prozentigen Schutz geben!«

Nein? Nein. Natürlich nicht. So richtig diese Aussage, so bequem ist sie. Und gefährlich auch; psychische Vorbereitung auf die nächste Katastrophe. 

Unterwegs von Kiew nach Pripjat, nach Tschernobyl. Rechts ab von der Straße das Dorf Kupowatoje. Das Ortseingangsschild ausgewaschen, blass.

Aber es gab Leben im Dorf. Rückgekehrte. »Selbstsiedler.«

Lenotschka zeigte uns Kalina Krasnaja. Und irgendwie kam das Gespräch auf Wodka. Ich zitierte ein auch in der DDR bekanntes Wort: ». . . hundert Gramm sind kein Wodka!« Einfach so vor mich hin gemurmelt. Lenotschka prompt: »Und wie viel Gramm sind Wodka?« Mein Russisch ist kläglich, das aber hatte ich verstanden. »Dwesti!« Mir fiel nichts Besseres ein.

Eine Busverbindung nach Pripjat funktioniert schon lange nicht mehr, aber das Wartehäuschen existiert noch. Es wurde zum Treffpunkt der Rückgekehrten. »Unser Klubhaus«, nennen sie es. Hilfreiche Ironie.

Andrej steuert vorsichtig das Gespräch. Wie es war, als sie von der Havarie erfuhren?

Man hat uns spät informiert. Darüber müsste man sich vielleicht beklagen – aber was soll´s?

Einmal sind wir zurückgekommen um die Kartoffeln zu hacken. Da kam ein Hubschrauber mit Dosimetristen. Die sagten uns, dass hier alles sauber sei.

Es war heiß, wir nahmen einen Selbstgebrannten und machten weiter.

. . .

Ob wohl jemand der Meinung sei, die Havarie sei ein Zeichen Gottes gewesen? Eine Strafe für die Sünden vielleicht?

Alle murmeln vor sich hin. Bekreuzigen sich.

Ja.

Nein.

Wer weiß. 

. . .

Und hatten Sie in diesem Jahr eine gute Ernte?

Ja. wir haben gut geerntet.

Und hat Euch jemand geholfen?

Ja, wir haben uns geholfen.

Allen wurde geholfen.

Dann tauschen Lenotschka und Andrej die Rollen:

Aber es ist doch kein Laden da?

Nun ja, es wird Brot gebracht. Und schon dafür: Dankeschön!

Aber ist das nicht ein bisschen wenig?

Wenig oder nicht. Aber dafür sind wir in unserer Heimat.

Soweit ist alles normal?

Ja; es ist alles normal.

Wir lernten Wladimir Sapetru kennen und Igor Strubijewski, Arbeiter in der Abteilung Strahlenschutz der erste, Mechaniker in einer Hubschraubereinheit der andere.

W: Wir haben den havarierten Block 4 gesehen und überhaupt nicht daran gedacht, dass es gefährlich sein könnte. Nach ein bis eineinhalb Stunden Arbeit dort wurde uns übel und wir wurden von dort weggebracht.

I: Wir hatten über dem Reaktor Lasten abzuwerfen, aus einer Höhe von 150 bis 200 Metern. Zu dieser Zeit gab der Reaktor noch ca. 2 000 Röntgen pro Stunde ab.

Igor berichtet von den Opfern aus seiner Einheit. Invaliden. Tote. Einer ist bei einer Kollision seines Hubschraubers mit einem Kran ums Leben gekommen. Die Filmbilder habe ich gesehen.

Ich hatte eine Familie, eine Frau. Aber dann musste ich einige Monate in einer Isolierstation verbringen. Und nicht jeder hat die Kraft, das durchzustehen und die Hoffnung zu behalten für das Danach.

Beide kommen immer wieder auf diesen Punkt: Man muß lernen aus dem Unglück. Ich hoffe, dass solche Atomstationen, solche wie in Tschernobyl, solche Reaktoren liquidiert werden. Sie bedeuten eine so große Gefahr und bringen nur Leid über die Menschen.

Wenn wir besser bauen und nicht nur schön reden würden, dann hätten wir dieses ganze Tschernobyl nicht gehabt. Es ist doch kein Einzelfall!

In meiner Erinnerung fließen die Erlebnisse und Eindrücke jener Tage zu einem großen, widerspruchsvollen Gefühl zusammen. Nur mit Mühe könnte ich – vielleicht – sagen, wie vielen Menschen wir begegneten, wie die Orte hießen, die wir besuchten, was sie voneinander unterschied.

Kupowatoje habe ich genannt. Dort lebte eine recht große Gruppe von »Selbstsiedlern«. An das Dorf Salessje erinnere ich mich. Hinter dem Walde. Es verfiel.

Steppe rings umher, wo einst schwarze Erde Früchte trug. An einem der Tage ein verendeter Elch am Straßenrand.

Schien etwa die Sonne? – Ich kann mich nicht erinnern.

Was ich aber mit absoluter Sicherheit weiß: Nicht einem Menschen begegneten wir, der nicht über die Havarie nachgedacht, nach Ursachen und Verantwortung gefragt hätte, wie Wladimir und Igor; vor allem aber darüber, was nun zu tun sei.

Nicht einem!

Lida arbeitet in einem Gewächshaus in Pripjat, das Kraftwerk in Sichtweite. Entfernung drei Kilometer.

Wir züchten hier Saatgut von Gurkenhybriden, in diesem Jahr die Sorte Malych, Ergebnis eines erfolgreichen Experiments.

Das Saatgut ist absolut sauber. Das ist bereits Warenproduktion für den Absatz in der sauberen Zone.

Wir beliefern viele Betriebe, in der Ukraine, in Russland, im Baltikum.

Das Treibhaus war von der Havarie betroffen. Wir haben einfach zwei Hektar Treibhausfläche wieder volkswirtschaftlich nutzbar gemacht. So helfen wir, die Verluste, die das Land erlitten hat, auszugleichen . . . nach kleiner Pause und etwas verlegen . . . natürlich nur ein bisschen.

Nein, Kinder werde ich nicht mehr kriegen. Ich habe einen 21-jährigen Sohn, der an einer medizinischen Hochschule studiert. Und noch einen 15-jährigen. Er lernt Chinesisch an einer Spezialschule.

So ist das.

Tanja begegneten wir im Krankenhaus.

Ich weiß noch, dass mein Mann mit dem Sohn Blumen pflanzte. Und ich hatte Wäsche gewaschen.

Wir wohnten in Tschernobyl.

In Pripjat war schon niemand mehr, als wir am Montag zur Arbeit fuhren.

Die Stadt war evakuiert.

Zwei Tage habe ich in Lwow auf dem Flugplatz Hubschrauber mit Sandsäcken beladen . . .

Wir bekamen dann Messinstrumente, aber nicht von Anfang an. Wir hoch unsere Dosis war, wussten wir nicht. . . .

Ich bin Invalide der 2. Stufe. Ich arbeite überhaupt nicht mehr und bekomme eine Rente von 120 Rubel. Davon kann man nicht leben. Und mein Mann ist Invalide der 3. Stufe. Er bekommt 260 Rubel. Aus dem Krankenhaus kommt er faktisch überhaupt nicht mehr heraus. . . .

Ich muss auch immer wieder ins Krankenhaus . . .

Zukunft? . . . Was für eine Zukunft . . .? Ich warte, dass der Sohn von der Armee nach Hause kommt . . .

Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ein solches Unglück bei uns passiert . . . Ich glaube, alle Menschen hier denken so . . .

Ich möchte, dass alle Menschen gut zueinander sind, dass alle gesund sind . . . Gesundheit, das ist das wichtigste . . . und Güte!

Alexander Barannik.

Was den Aufruf betrifft, die Freiwilligkeit, das hatte gar nichts mit großem Patriotismus zu tun. Auch nicht mit hohem Verdienst. Es war durchaus unklar, was man uns zahlen würde.

Ich wollte mich prüfen. Wollte meine Standhaftigkeit prüfen, meine Zuverlässigkeit. . .

Natürlich hatte ich Angst. . .

Ja, ich habe im Sarkophag gearbeitet. Wir haben mehr als 50 Öffnungen gebohrt für die Aufnahme von Instrumenten, für physikalische und chemische und für Strahlungsmessungen . . .

Was mich bewegt: Es gibt in der Zone viele junge Frauen und ich finde, wenn sie nicht wenigstens schon zwei Kinder haben und nicht schon über dreißig sind, sollte das nicht erlaubt sein . . .

Nikolai Pawlowitsch Archipow leitet die Wissenschaftliche Produktionsvereinigung »Pripjat«. Er und sein Labor beobachten z.B. das Wachstum von Kiefern, die aus Samen gezogen wurden, die der Strahlung ausgesetzt waren.

Wir haben hier ziemlich viele Mutationen. Und wir hoffen, solche zu finden, die, wenn sie sich stabil vererben, wirtschaftliche Bedeutung haben können.

. . .

Vor der Havarie in Tschernobyl habe ich an der Beseitigung der Folgen des Strahlungsunfalls gearbeitet, der 1957 im Süd-Ural bei Kyschtym stattgefunden hat.

Im Mai 1986 wurden wir Spezialisten nach Tschernobyl gerufen.

. . .

1960 hatte ich meine Arbeit an der Dissertation begonnen: Das Verhalten von Radionukleiden im System Boden-Pflanze-Tier-Mensch . . .

Diese Dissertation ist noch immer vertraulich . . .

Vor meinem Eintritt in die Aspirantur war ich Praktiker. Ich arbeitete als Kolchosvorsitzender und als MTS-Direktor. Die Atmosphäre der Geheimhaltung war mir fremd und ungewohnt. Viermal wurde ich wegen Verletzung solcher Vorschriften zur Verantwortung gezogen, fast bis zur Entlassung.

. . .

Wären die damaligen Materialien veröffentlicht und allen zugänglich gemacht worden, wären wir jetzt nicht so schlecht vorbereitet gewesen. Bis in die Regierung. Als ich hierher kam war ich überrascht, wie wenig sachkundig unsere Leiter waren, nicht einmal die elementare Terminologie beherrschten die Leute. Meiner Meinung nach hat das großen Schaden verursacht und die Folgen der Havarie von Tschernobyl verschlimmert.

Sie nennen sich Energetiker: Andrej und Wadim. Und sie sind Freunde. Alte Freunde, wie sie betonen.

A: Wie hat die Havarie für dich begonnen, Wadim? Erinnerst du dich?

W: Sie begann für mich, als der Bus am 4. Block vorbei fuhr. Ich bin eigentlich nicht ängstlich, aber mir wurden die Knie weich und mir wurde ziemlich schlecht. Mir wurde klar, dass das eine sehr schwere Havarie war. . . . Noch wusste niemand, was mit dem Reaktor vorgegangen, in welchem Zustand das System war . . . Und eben deshalb gab es die Opfer.

Du warst ja selbst beteiligt, Andrej! Du hast ja die Probleme alle gesehen!

Heute sagt man, die Opfer waren nicht gerechtfertigt, aus der damaligen Sicht aber unvermeidlich . . .

Ja, in der Tat, auf eine so schwere Havarie war unser Kraftwerk – und nicht nur unser Kraftwerk – nicht vorbereitet. Ebenso wenig wie übrigens Three Mile Island.

Niemand in der ganzen Welt war darauf vorbereitet . . .

Alle vor Ort haben versucht, die Folgen zu beseitigen, mit den vorhandenen Anlagen, mit minimalen Kräften. Die Menschen dachten nicht darüber nach, dass ihre Gesundheit Schaden leiden könnte . . . jetzt kann man natürlich sagen, wäre man anders herangegangen, hätte es weniger Opfer gegeben. Das wäre vielleicht auch so gewesen. Dann weiß ich allerdings nicht, wie die Havarie zu Ende gegangen, was aus dem 1. und dem 2. und dem 3. Block geworden wäre . . .

Andrej fragt nach den wahren Ursachen der Tragödie.

Wadim: Nach der Havarie gab es eine eindeutige Version: das Personal sei Schuld gewesen, es habe durch falschen Betrieb wie auch durch Undiszipliniertheit den Block in eine Havariesituation gebracht. Heute sind sowohl die Wissenschaftler als auch wir Praktiker wesentlich anderer Meinung, nämlich, dass die Ursache für die Havarie in der Unvollkommenheit des Reaktors lag, in seiner Konstruktion . . .

Die Verantwortung beim Personal zu suchen, war natürlich damals sehr bequem. Es hätten nämlich sonst alle Reaktoren dieser Serie sofort abgeschaltet werden müssen . . .

Inzwischen haben Wissenschaftler und Konstrukteure an der Vervollkommnung des Reaktors gearbeitet. Eine solche Havarie ist nicht mehr möglich . . .

Heute sagen bei uns im Land alle, wenn etwas schlecht war, dann lag es am Sozialismus. Das ist natürlich eine todsichere Argumentation, alle Schwierigkeiten auf die siebzig Jahre Sozialismus und Sowjetmacht zu schieben. Man braucht weiter  keine Ursachen zu suchen . . .

Wir beide haben im Sozialismus gelebt, Andrej, und man kann doch nicht sagen, wir hätten damit nichts zu tun gehabt. Das geht nicht.

Wir hatten abgedreht. Mit Andrej und manchem anderen Freund warteten wir auf den Zug nach Moskau. Von dort würde uns Aeroflot nach Berlin fliegen. Irene hielt den stattlichen Strauß roter Rosen im Arm, die Lida uns großzügig geschnitten und in ein Leinentuch geschlagen hatte.

Die Rosen bekam unsere Mutter. Die staunte nicht schlecht. Rosen aus Tschernobyl!

(Klar: Korrekt wäre »Rosen aus Pripjat«. Aber wer kennt schon Pripjat? Tschernobyl dagegen . . .)

Lange vor uns waren bereits andere Deutsche in Tschernobyl gewesen. Wir wussten das: Die GESTAPO hatte sich in der Synagoge (!) eingerichtet. Kurzzeitig.

Das muss ich wohl nicht kommentieren.

Als das Jahr zu Ende ging, war der Film geschnitten, ausgeliefert.

Am späten Nachmittag des 31. Dezember bekam ich einen Brief, den ich zu quittieren hatte: Die »fristgemäße Kündigung« zum Ende des 1. Quartal 1991.

Und als unser Report »Wir waren in Tschernobyl« am Jahrestag der Havarie ausgestrahlt wurde, war ich einer der vielen Arbeitslosen. Allerdings: Ich fuhr mit dem Auto zum Arbeitsamt. Mein Vater hatte sich ein halbes Jahrhundert zuvor glücklich geschätzt, ein Fahrrad zu besitzen. Da war er schon eine Ausnahme.

Und auch das ist noch mitzuteilen: Die Kraftfahrer des Studios hatten sich geweigert, ihren Kollegen die »blauen Briefe« zu bringen.

Der Atem der Zeit. Epilog

1945. 6. August.

Die Welt kennt dieses Datum. Es bezeichnet eine der großen menschengemachten Katastrophen. Noch während der Potsdamer Konferenz, von den Alliiertenverabredet, um Haltung und Politik gegenüber dem besiegten Deutschland zu beraten, gab Harry S. Truman, nach Roosevelt 33. Präsident der USA, den Befehl, die erste Atombombe der Welt über Hiroshima zu zünden.

Das Signal war unmissverständlich.

1954. 1. Juni.

Dieses Datum hinwiederum ist wenigstens in dem Maße unbekannt wie die Stadt Tschernobyl vor der Katastrophe.

An jenem Junitag wurde in Obninsk etwa 100 km südwestlich von Moskau das weltweit erste wirtschaftlich genutzte Kernkraftwerk in Betrieb genommen. AM 1 hieß der Reaktor, »Atom Mirnyi«, »friedliches Atom«.

Auch ein Signal! Und zugleich ein Versprechen.

In dem so markierten Spannungsfeld bewegte sich fortan die Weltpolitik. Ohne Ausnahme alle Großereignisse seitdem waren und sind hier einzuordnen.

Auch Tschernobyl.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2020-08: Mischa und die Gretchenfrage

2020-07: »Schön wird das Leben, schön!«

2019-07: Sprache gestern, Sprache heute – oder: Ihre Sprache – unsere Sprache nicht