Immer noch Kommunist?
Erinnerungen von Paul Elflein (Auszüge)
Die 1. Auflage erschien 1978 im VSA Verlag, herausgegeben von Claus Bremer und Rolf Becker. Professor Hermann Klenner empfahl uns die Lektüre von »Immer noch Kommunist?« Wir empfehlen sie weiter. [1] Nicht, weil wir in allen Fragen mit den Einschätzungen in den Erinnerungen von Paul Elflein übereinstimmen. Dazu ist die Geschichte zu widerspruchsvoll verlaufen. Das widerspiegelt sich auch in seiner Biographie. 1897 wurde Paul Elflein bei Gotha geboren. In seinem revolutionären, antifaschistischen Leben gab es zwei elementare Brüche. 1929 wurde er aus der KPD ausgeschlossen, und er trat der 1928 gegründeten KPO bei. Er überlebte den Kampf gegen den Faschismus. 1948 wurde er aus der SED ausgeschlossen und ging danach in den Westen. Doch seinen Überzeugungen blieb er immer treu. Über Geschichte erfahren wir vieles in diesem Buch – auch durch die in den Erinnerungstext eingefügten Zitate. Zwei Ausschnitte geben wir nachfolgend wieder. Sie sind von brennender Aktualität. Es geht um die DDR und den Antisemitismus. Gerade aus diesen Texten erfahren die Haltung von Paul Elflein – die eines Kommunisten. Irrtümer inklusive, die wir uns ja auch eingestehen.
Dieses Geschimpfe hier auf den Sozialismus. Daß in der DDR die Schokolade so teuer ist und daß es da keine Bananen gibt und keine Apfelsinen. Abgesehen davon, daß das kein Maßstab ist und längst nicht mehr stimmt, lange Zeit konnte es viele Dinge gar nicht geben. Was im Ausland gekauft wurde, mußte mit Devisen bezahlt werden, und die hatte die DDR wenig, und schon gar nicht für die Einfuhr von Luxus-Artikeln. Die DDR mußte nicht nur den Aufbau aus eigener Kraft schaffen, sondern auch den anderen sozialistischen Staaten, die weniger entwickelt waren, helfen.
Daß uns die DDR in vielem überlegen ist, wird hier meistens verschwiegen. In Bezug auf das Schulsystem zum Beispiel, im Gesundheitswesen, dann alles, was Kinderhorte und Kinderheime betrifft. Ich kenne jemanden, dessen Frau in einem Kinderhort arbeitet, für 80 Pfennig den Tag werden die Kinder beaufsichtigt, sie bekommen auch Frühstück und Mittagessen. Nach der Arbeit holen die Eltern sie wieder ab. Ich habe noch nicht gehört, daß hier einer gesagt hätte, in der DDR kostet die Miete bei einer modernen Wohnung mit Fernheizung und allem Komfort pro Quadratmeter eine Mark. Hier zahlen wir inzwischen 6 bis 8, heute, 1975. Als Rentner kann ich in der DDR für 8 Pfennig mit der Straßenbahn oder dem Bus durch die Stadt fahren, hier bezahle ich 90. Wenn ich hier zum Friseur gehe, zahle ich 5 Mark, in der DDR eine. Ich habe in Erfurt ein Altersheim besucht, erstklassig eingerichtet. Die Rentner zahlten einschließlich Verpflegung und aller Nebenkosten 95 Mark im Monat. Die Mindestrente beträgt über 200 Mark, so daß sie mehr als die Hälfte ihrer Rente zur freien Verfügung haben. In den Betrieben der DDR darf die Betriebsleitung niemanden entlassen, nicht einmal einen, der gestohlen hat. Für solche Fälle gibt es Konfliktkommissionen, und auch die müssen sich an Regeln halten, alles muß stimmen, auch juristisch. Mir kann niemand erzählen, daß die Arbeiter in der DDR rechtlos wären. Ich spreche oft mit den Kollegen. Sie schimpfen über dies und jenes, aber wenn ich ihnen die Frage stelle, ob die Betriebe volkseigen bleiben sollen oder wie bei uns wieder den Thyssen und Krupp gehören, dann sind sie sich einig, das nicht.
Natürlich gibt es in der DDR viel zu kritisieren, aber die Frage ist, von welchem Standpunkt aus das geschieht. Man muß sich immer wieder klarmachen, vor allem, wenn man auf die Bürokraten schimpft, daß der Sozialismus in der DDR nicht von den deutschen Arbeitern erkämpft worden ist. Außerdem sind in der DDR ja nicht alle, die ein Amt ausüben, Sozialisten. Die Mehrzahl hat nicht in der Arbeiterbewegung gekämpft. Die Jüngeren zum Beispiel, die auf dem und dem Posten sitzen, sind in der DDR geboren und in ihr groß geworden. Sie haben ihren Posten im Auge und versuchen, nach oben zu kommen, dabei ist manchem fast jedes Mittel recht, bis hin zur Anschwärzerei, zum Denunzieren.
Wenn man hört, in der DDR kommt das Privatleben zu kurz, daß die Leute einen Teil ihrer Freizeit zur Verfügung stellen müssen, für Beratungen, Versammlungen, Arbeit an Feiertagen für den Staat, so schlimm ist das nicht. Der Sohn einer Bekannten von mir ist Zimmermann, er arbeitet manchmal freiwillig. Ihm wird bezahlt, was er nach Feierabend macht. Außerdem, das kollektive Denken prägt sich aus, in der DDR herrscht schon ein anderer Geist, jedenfalls unter den Arbeitern, sie sind nicht so individualistisch wie wir.
Die Vorurteile gegenüber der DDR, auch unter den Arbeitern bei uns, haben viel mit Unwissen zu tun. Es gehört zu unseren Aufgaben, dem entgegenzutreten. Stattdessen gibt es viele unter den Linken, die sagen, in der DDR gibt es keinen Sozialismus, auch in der Sowjetunion nicht, da existiert eine neue bürgerliche Klasse. Das stimmt nicht. Die entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung zum Sozialismus, die Enteignung der Kapitalisten von den Produktionsmitteln, ist in der DDR und den anderen sozialistischen Staaten erfüllt. Daran ändert auch nichts, daß sich manche Bürokraten Privilegien verschafft haben. Auch die Planungsfehler nicht. Daß die Planwirtschaft bei allen Fehlern der kapitalistischen Wirtschaft überlegen ist, beweist der Aufstieg der Sowjetunion von einem zurückgebliebenen, nur teilweise industrialisierten Agrarland zu dem, was sie heute ist. Alle vermeidbaren und unvermeidbaren Fehler haben die Entwicklung des Sozialismus nicht verhindern können. Ob und wie sie weitergeht, hängt davon ab, wie weit die Arbeiter sie zu ihrer Sache machen, vor allem vom Beitrag der westeuropäischen, insbesondere der deutschen Arbeiter. (Kapitel 41, S. 129-131)
Die sogenannte Judenfrage haben nicht erst die Nazis aufgebracht. Die Nazis haben lediglich den Antisemitismus, der schon seit der Kaiserzeit und länger vorhanden war, systematisch gefördert. Je mehr es mit der Weimarer Republik bergab ging, desto zahlreicher wurden die Broschüren, in denen die Juden für so ziemlich alles, was wirtschaftlich und politisch nicht lief, verantwortlich gemacht wurden. Der Antisemitismus kam vor allem aus dem Kleinbürgertum, das seine Konkurrenz loswerden wollte, dann von den Deklassierten des übrigen Bürgertums und des Adels, den Teilen der Bevölkerung, die schließlich von den Nazis repräsentiert wurden. Die Juden wurden als Plutokraten hingestellt, als Leute, die mit ihrem Geld alles beherrschen. Als ob die Juden nur Bankiers gewesen wären, und als ob es einen Unterschied zwischen einem jüdischen und einem arischen Bankier gäbe. Die Nazis machten einen Unterschied. Sie unterschieden zwischen raffendem und schaffendem Kapital. Den jüdischen Kapitalisten haben sie angegriffen, niemals Krupp, Thyssen, Stinnes und wie sie alle heißen. Sie haben den Unsinn von der Rassenfrage propagiert, um von der Klassenfrage abzulenken. Kauft nicht in jüdischen Geschäften, dazu hat die NSDAP schon vor 1933 aufgefordert, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Nach der Machtübernahme hat sie ihre SA-Leute vor jüdische Geschäfte gestellt, um die Kunden einzuschüchtern. Wer sich mit ihnen anlegte, wurde abgeführt. Sie haben die Hetze gegen die Juden immer mehr gesteigert. Bei uns im Haus, noch in Hochheim, wohnte eine jüdische Familie, er schrieb für die Zeitung. Denen habe ich gesagt, sehen Sie zu, daß Sie hier wegkommen, die bringen euch alle um. Das war 1934, da war ich schon aus dem KZ zurück. Sie haben mir nicht glauben wollen. 1938 war es soweit, die Kristallnacht. In der Nacht vom 9. zum 10. November haben Nazibanden die Synagogen und die jüdischen Geschäfte zerstört. Bei uns die Synagoge haben sie gesprengt. Der Hausmeister kam bei uns an, den hatten sie verprügelt, aber laufen lassen. Die Leute in der Nachbarschaft der Synagoge hatten sie aus den Betten geholt und weggeschickt, wegen der Explosion. In derselben Nacht wurden fast alle Juden abgeholt. Die meisten sind nicht wiedergekommen, aus Buchenwald und den anderen KZs und Vernichtungslagern. Was denen heute passierte, konnte uns morgen passieren. Die schon im KZ gewesen waren, wußten was lief. Die Masse der Bevölkerung hat es geahnt, trotz des Mangels an Informationen, und obwohl wir nicht offen reden konnten. Aber wer wollte sich Gedanken machen? (Kapitel 33, S. 95-96)
Anmerkung: