Illegale Flugblattaktionen 1939 in Berlin
Dr. Günter Wehner, Berlin
Als Antwort auf den Überfall des NS-Regimes gegen Polen tauchten am Morgen des 9. September 1939 in mehreren Stadtbezirken Berlins Flugblätter mit der Überschrift »Ich rufe die Jugend der Welt« auf. In die Fanfaren der faschistischen Sondermeldungen mischte sich die Stimme des anderen, des demokratischen Deutschlands ein, die zu Vernunft und zur Beendigung des Krieges mahnte.
Im Flugblatt wurde nachgewiesen, dass der Krieg sowie die früheren Annexionen des deutschen Imperialismus gegenüber dem österreichischen und tschechoslowakischen Volk nur den Interessen des Monopolkapitals diene und dem deutschen Volk unermessliches Leid und Elend bringen werde. Die Verfasser des Flugblattes riefen besonders die Jugend auf, der Kriegspolitik der deutschen Faschisten Widerstand entgegenzusetzen. Der Schlusssatz lautete »Berliner Jugend, wehre und empöre Dich!«
Nach der Annexion Polens trat Hitler am 6. Oktober 1939 vor den Reichstag und begründete weitere territoriale Forderungen. Er betonte insbesondere das Streben nach Kolonien.
Bereits am 9. Oktober tauchten erneut in der Stadt und in mehreren Großbetrieben Flugblätter mit der Überschrift »Kolonien – die neue Kriegsparole Hitlers« auf. Das Erscheinen der Flugschriften mit den klaren Aussagen gegen das verbrecherische Völkermorden rief bei der Gestapo und anderen zentralen Dienststellen des NS-Regimes Nervosität hervor. Berliner Widerständler gewannen durch diese kühnen Aktionen neuen Mut.
Wer waren die Verfasser und Verbreiter dieser Flugblätter?
Die Initiative dazu ging von einer antifaschistischen Jugendgruppe unter Leitung von Heinz Kapelle und Erich Ziegler aus. Sie sammelten und schufen seit dem Frühjahr 1939 in den Stadtbezirken Neukölln, Kreuzberg, Tempelhof und Treptow eine illegale Jugendgruppe von etwa 60 Jugendlichen, darunter ehemalige Mitglieder des KJVD und der SAJ [1] sowie Angehörige der katholischen Jugendbewegung und bisher nicht organisierte Jugendliche. Die Gruppe sah ihre Aufgabe darin, feste illegale Stützpunkte in Betrieben zu schaffen. Solche Zellen bestanden z. B. in der Maschinenfabrik Steffen & Nölle in Tempelhof, in der Radiofabrik C. Lorenz AG, in dem Brückenbauunternehmen Krupp-Drucken-Müller GmbH sowie in der Daimler-Benz AG in Berlin-Marienfelde. Darüber hinaus hatte Erich Ziegler Kontakte zu einer Gruppe von Jungkommunisten und Jungsozialisten in Berlin-Neukölln in der Warthestraße, und seine Frau Elli, die auch der Gruppenleitung angehörte, hielt Verbindung zu einer SAJ-Gruppe in Berlin-Treptow. Heinz Kapelle selbst hatte in seinem Betrieb der Druckerei Albin Zeh in der Schönhauser Allee 9a, wo er als Drucker arbeitete, eine illegale Betriebszelle geschaffen. Zu ihr gehörten der Jungsozialist Hans Großmann und der Sozialdemokrat Kurt Düttchen, seine Arbeitskollegen, die als Schriftsetzer und Buchdrucker arbeiteten und dort besonderen Anteil beim illegalen Drucken der Flugblätter hatten.
Die Treffpunkte der zur Leitung gehörenden Antifaschisten befanden sich entweder in den Außenbezirken Berlins, so in der Königsheide, oder in den beiden Leihbüchereien, die das Ehepaar Ziegler im Auftrag der KPD in Berlin-Neukölln unterhielt. Da viele Leser die Bibliotheken besuchten, konnten die Widerständler unauffällig in die Räume kommen, um Materialien und Informationen auszutauschen.
Von besonderer Bedeutung für die Illegalen war, dass seit Sommer 1939 Kontakt zu der Instrukteurin des Zentralkomitees der KPD Charlotte Krohne bestand, die aus Schweden nach Berlin einreiste und den jungen Antifaschisten illegale Schriften und neueste Informationen überbrachte.
Aktiver Helfer beim Verteilen der Flugschriften war Kurt Ende aus Berlin-Neukölln. Erich Ziegler kannte ihn aus der gemeinsamen Tätigkeit im KJVD vor 1933. Intensiv wirkte auch der frühere 2. Vorsitzende der SAJ-Gruppe in Berlin-Hasenheide Kurt Henze mit. Als Elektromeister bei der Firma Daimler-Benz sorgte er für die illegale Verbreitung im Werkgelände.
Am 16. Oktober 1939 verhaftete die Gestapo Heinz Kapelle. Durch intensive Überprüfung aller Kontakte des Verhafteten und seiner Arbeitsstelle kam die Gestapo auf die Spur seiner Kampfgefährten Hans Großmann, Erich und Elli Ziegler, Kurt Düttchen und Kurt Ende. Trotz barbarischer Verhörmethoden gelang es der Gestapo nicht, die umfangreiche Jugendgruppe zu ermitteln.
Heinz Kapelle wurde vom Volksgerichtshof am 20. Februar 1941 zum Tode verurteilt, Erich Ziegler zu lebenslänglichem Zuchthaus und die anderen Mitstreiter zu langen Haftstrafen.
Nach der Befreiung am 8. Mai 1945 wirkten sie intensiv bei der demokratischen Umgestaltung auf deutschem Boden mit.
Anlässlich des barbarischen Überfalls des NS-Regimes vor 80 Jahren auf Polen sollten wir uns der mutigen Tat der jungen Antifaschisten erinnern mit der Mahnung: Nie wieder Krieg von deutschem Boden!
Anmerkung:
[1] Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands (KJVD) und die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) waren seit 1933 verboten.