Identität oder Klasse?
Margit Glasow, Rostock, Mitglied des Parteivorstands
Probleme und Alternativen der Identitätspolitik
Jeder fühlt sich heute von jedem bedroht. Hass, Rassismus und Gewalt sind an der Tagesordnung. Die Wolfsmoral erreicht mit dem Raubtierkapitalismus gerade seinen vorläufigen Höhepunkt. Das hat Ursachen. Armut besteht heute nicht nur in der Frage, wie viel Essen zu Hause auf dem Tisch steht – es geht zunehmend um den Verlust gesellschaftlicher Zugehörigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Mit der immer weiteren Verschlechterung der sozio-ökonomischen Lage sinkt die Hoffnung darauf, etwas verändern zu können, der Glaube, dass es einen Unterschied macht, ob ich mich als Individuum engagiere oder mich in Scheinwelten flüchte.
Da wundert es nicht, dass der Drang von einzelnen Gruppen nach Individualisierung und der Forderung nach Berücksichtigung ihrer (Einzel- bzw. Gruppen-)Interessen immer stärker wird. Marginalisierte Gruppen (ethnische Gruppen, Homosexuelle, Behinderte, Alte usw.) versuchen mittels Identitätspolitik, spezifische Forderungen zu erheben und Respekt für ihr Anderssein zu verlangen. Dabei reicht es ihnen, die verschiedensten Formen von Diskriminierung sichtbar zu machen, ohne zu begreifen, was sie sind: die Folge kapitalistischer Ausbeutung aufgrund der bestehenden Produktionsverhältnisse. Anstatt gemeinsame politische und ökonomische Ziele zu definieren und zu vertreten, kultivieren sie ihre eigenen und lassen sich von den entscheidenden Fragen – der Kriegsgefahr, der wachsenden ökonomischen Ungleichheit und der Entdemokratisierung – ablenken.
Gerade innerhalb der linken Kräfte betrachten viele Identitätspolitik jedoch als ein Mittel, um Minderheiten zu schützen. Dabei übersehen sie, dass das Einsortieren in Schubladen, in Opferkategorien und überzogene Forderungen die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriften lassen. Denn Identitätspolitik neigt dazu, selbst rassistisch zu sein. Weil sie nach Herkunft, Geschlecht, Religionszugehörigkeit usw. einteilt und damit spaltet, statt nach den Wurzeln von Rassismus zu fragen und Klassenpolitik zu betreiben. Viele linke Kräfte haben die Fähigkeit und den Willen verloren, den Kapitalismus grundlegend zu kritisieren. Sie begnügen sich damit, sich dem bestehenden System anzupassen, behaupten, es etwas besser machen zu wollen. Doch letztendlich geht es um die Durchsetzung ihrer Einzelinteressen.
Versagen der Integrationspolitik
Zehra ist in Deutschland geboren worden, ist hier zur Schule gegangen, hat hier studiert, ihr Vater hat als Gastarbeiter jahrzehntelang in einer Zeche gearbeitet, seit über 50 Jahren lebt die Familie in Deutschland. Doch fast täglich wird Zehra gespiegelt, dass sie nicht ganz dazugehört, weil man ihr ansieht, dass ihre Wurzeln nicht in Deutschland liegen. Es ärgert sie, dass sie immer wieder auf ihre Herkunft reduziert wird: »Oh, Sie sprechen aber sehr gut deutsch.«, »Wo kommen Sie her?« Sie fragt sich, woher kommen diese ständigen Ausgrenzungen?
Dabei will sie einfach nur ernst genommen werden, gleichberechtigt mit am Tisch sitzen und mitentscheiden – als Frau, als Deutsch-Türkin, als Politikerin. Das war ihr Motiv, in die Kommunalpolitik zu gehen. Doch auch dort stößt sie auf Ausgrenzungen. Ihrer Meinung nach hat die Politik nicht nur in der Migrationspolitik versagt, wenn es um die Frage geht, eine solidarische Gesellschaft zu gestalten. Wie kann es sein, dass bestimmte Menschen als Fußabtreter der Gesellschaft bezeichnet werden. Das ständige Gerede, so Zehra, von Diversität und Partizipation verkomme zur Worthülse. Das schaffe Hass – auf beiden Seiten. Sie will nicht toleriert, sondern akzeptiert werden, sie will die Gesellschaft mit ihrer Kultur – ihrer Identität – bereichern und sich nicht bis zur Unkenntlichkeit anpassen.
Gegenüber Migranten und vor allem Flüchtlingen, egal wie lange sie schon in Deutschland leben, gibt es eine tiefe Feindseligkeit. Das drückt sich in zweierlei Hinsicht aus: Zum einen in der Überzeugung, dass Einwanderung den sozialen Zusammenhalt, das nationale Identitätsgefühl untergrabe und unsere Sicherheit gefährde. Nicht umsonst hat in der aktuell aufgeladenen Debatte der amerikanische Vizepräsident Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz verkündet, die demokratischen Werte wie die Meinungsfreiheit seien in Europa in Gefahr. Grund dafür seien nicht Russland, nicht China, sondern die Bedrohung von innen, die millionenfache unkontrollierte Einwanderung.
Die Feindseligkeit, ja Verachtung gegenüber den Einwanderern zeigt sich aber auch in der Annahme, dass sie den Deutschen etwas wegnehmen würden. Diese Fremdenfeindlichkeit wird bewusst von der Politik mit Hilfe der Medien geschürt, wobei man sich unterschwellig von der polarisierenden Frage leiten lässt: »Welche Ausländer nützen und welche schaden uns?«
Und es gibt sie wohl: Die guten Ausländer, die uns nützen, und die, die uns schaden. Seit den 50er Jahren wirbt die Bundesrepublik Migranten als Arbeitskräfte an. Weil sie Arbeitskräfte braucht. Wie verlogen die Migrationsdebatte ist, zeigt Dr. Artur Pech in seinem Buch »Marx und Engels über Migration«. Er spricht über die Abwerbung afrikanischer Krankenschwestern, die dann in Afrika fehlen, über die »deutschen« Erdbeeren und den »deutschen« Spargel, die ohne Arbeitskräfte aus Polen oder anderen osteuropäischen Ländern nicht mehr denkbar wären. »Solidarität mit Menschen, die emigrieren«, so Pech, »bleibt unsere Position«. Doch ausgehend vom sozialistischen Internationalismus müsse das die Interessen der arbeitenden Klassen der Herkunftsländer ebenso einschließen wie die der Zielländer. Das vertrage sich nicht mit der Förderung der Migration zur Lösung zum Beispiel von Fachkräfteproblemen im eigenen Land auf Kosten der Herkunftsländer oder mit Lohndrückerei durch Erhöhung des Arbeitskräfteangebots in den Zielländern.
Inklusion verkommt zur Identitätspolitik
Auch die Debatte um Inklusion steckt in einer Schublade der Identitätspolitik, obwohl sie es nicht ist. Inklusion wird nicht nur hierzulande fälschlicherweise auf Menschen mit Behinderungen reduziert. Unter dem Vorwand, Gutes zu tun, treibt man die immer präzisere Kategorisierung der Kinder auf die Spitze. Schauen wir uns in diesem Kontext einmal den Umgang mit den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten an, zeigt sich, dass immer mehr Kindern aus sozio-ökonomisch prekären Verhältnissen, nicht selten Migrantenkinder, sonderpädagogischer Förderbedarf zugeteilt wird. Kindern, die im herkömmlichen Sinne nicht behindert sind, sondern zu »Behinderten« gemacht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden (sollen).
Nirgends bestimmt die Stellung der Familie zum Kapital die Bildungsbeteiligung und die Bildungschancen der Kinder so sehr wie in Deutschland. Das deutsche Bildungssystem reproduziert schon aufgrund seiner Mehrgliedrigkeit die Klassenstruktur in dieser Gesellschaft. Junge Menschen, die letztendlich oft ohne Bildungsabschlüsse dastehen und deren Lebensweg ohne reale Zukunftschancen vorgezeichnet ist. Abgestempelt. Doch viele Eltern meinen, ihre normalen, klugen Kinder vor diesen Behinderten schützen zu müssen. Und genau deshalb ist es einem Björn Höcke möglich, offen auszusprechen, dass für ihn schulische Inklusion ein »Ideologieprojekt« sei, von dem das Bildungssystem »befreit« werden müsse.
Doch auch Menschen mit Behinderungen beharren oftmals auf der eigenen Opferrolle und formulieren spezifische Forderungen, anstatt sich mit anderen zu verbünden und zu begreifen, dass es sich bei dem Thema Inklusion eben nicht darum handelt, Menschen mit Behinderungen in die Welt der Normalen hineinzulassen. Inklusion skizziert im weitesten Sinne ein Gesellschaftsprojekt (Prof. Dr. Georg Feuser). Im Kern geht es für alle Menschen um die Möglichkeit, uneingeschränkt und gleichberechtigt zusammenleben und an den demokratischen Prozessen und Entscheidungen aktiv teilhaben zu können – unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, ihrer körperlichen Verfassung, ihrer Herkunft oder sozialen Stellung, ihrem Geschlecht, Alter oder ihrer sexuellen Orientierung.
Linke Alternativen
Was können wir tun? Was kann, was muss die Linke tun? Angesichts der Lethargie, Dinge einfach geschehen zu lassen, weil man denkt, man kann ohnehin nichts tun? Angesichts zunehmender Egozentrik und gesellschaftlicher Vereinzelung?
Das Überbetonen und Sichtbarmachen verschiedener Identitäten und Diskriminierungen aufgrund unterschiedlicher Merkmale führt nicht zu gesellschaftlichen Veränderungen. Wichtig wäre, zunächst ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass all diese Menschen Teil einer und derselben Klasse sind, der Arbeiterklasse. Denn letztendlich geht es immer um die ökonomischen Grundlagen, um die Stellung zu den Produktionsmitteln. Karl Marx arbeitete in seiner Grundthese im Kampf gegen den Utopismus heraus: Die Menschen handeln nicht nach Idealen, sie handeln nach ihren Interessen. Das ist vielleicht nicht schön, aber es ist vernünftig (K. Marx, Deutsche Ideologie).
Vielleicht kann eine Antwort von Angela Davis auf die Frage nach der Rolle der »Schwarzen Frauenbewegung« in der heutigen Gesellschaft helfen, in Zukunft mehr kollektive Kämpfe zu organisieren, die an den Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft rütteln. Davis sagte: »Uns steht weiterhin die Aufgabe bevor, die komplexen Verflechtungen von Rasse, Klasse, Geschlecht, Sexualität, Nationalität und menschlichen Fähigkeiten aufzuschlüsseln – aber auch die Frage, wie wir über diese Kategorien hinausgehen können, um die Zusammenhänge zwischen Vorstellungen und Vorgängen, die unabhängig und ohne Bezug zueinander erscheinen, zu begreifen.« (Angela Davis, »Freiheit ist ein ständiger Kampf«) Ihrer Meinung nach müssen wir solche Verknüpfungspunkte stets in den Vordergrund rücken, damit die Leute merken, dass nichts unabhängig voneinander geschieht. Anerkennen, dass wir von den verschiedenen Bewegungen lernen und die gewonnenen Einsichten teilen können.
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