Ich traute meinen Augen nicht
Reiner Kotulla, Leun
Montagabend, die Nachrichtensendung im Zweiten. Mittendrin ein kurzer Bericht darüber, daß der vom Kriegsminister zu Guttenberg suspendierte Kommandant der Gorch Fock, Norbert Schatz, die Bark verläßt, in Zivil und sichtlich von Trauer geprägt – während das Nebelhorn tutet und die Besatzung mit dem üblichen militärischen Zeremoniell Abschied nimmt. Die Kamera schwenkt hoch in die Takelage und ich traue meinen Augen nicht.
Vier Matrosen waren hinaufgeklettert, achten darauf, daß die Parole, die nun auf dem entrollten Transparent zu lesen ist, den Fernsehteams, die das Auslaufen der "Gorch Fock" verfolgen, nicht verborgen bleibt. Weithin sichtbar steht dort zu lesen: "Ein Kommandant, eine Besatzung, ein Schiff". Und sofort drängt sich mir ein Verdacht auf. ...
Da lohnt der Blick zurück. Wer war dieser Gorch Fock? Seit 1910 verfaßte er zahlreiche platt- und hochdeutsche Geschichten und Gedichte. 1913 erschien sein bekanntestes Werk, der hochdeutsche Roman mit plattdeutschem Dialog "Seefahrt ist not", in dem das Leben der Hochseefischer auf Finkenwerder in heroisierender Weise beschrieben wird. Bis zum Zweiten Weltkrieg kam in Norddeutschland praktisch kein lesender Junge an diesem Buch vorbei.
Im Ersten Weltkrieg wurde Gorch Fock 1915 eingezogen und kämpfte als Infanterist in Serbien und Rußland, später dann bei Verdun. Im März 1916 kam er auf eigenen Wunsch vom Heer zur Marine. In der Seeschlacht am Skagerrak ertrank er. Seine Leiche wurde im August 1916 nördlich von Göteborg an Land getrieben und auf der schwedischen Insel Stensholmen bei Kalvö bestattet.
In seinen Büchern werden das Meer ebenso wie der Krieg als Schicksalsmächte für den Menschen, insbesondere für das deutsche Volk, aufgefaßt. Diese Schicksalsgläubigkeit und die stark betonte nationalistische Haltung Focks machten es leicht, seine Bücher in den Dienst der Expansionsbestrebungen des deutschen Imperialismus – und in späteren Jahren auch in den des deutschen Faschismus – zu stellen.
Die Vereinnahmung seiner Werke durch die Nazis führte dazu, daß der Autor als Kriegsverherrlicher und Wegbereiter des "Nationalsozialismus" wahrgenommen wurde.
Da verwundert es nicht, daß es in Hitlerdeutschland drei solcher Ausbildungsschiffe gab, die Gorch Fock und ihre beiden Schwesterschiffe Horst Wessel und Albert Leo Schlageter.
Fock, Schlageter und Wessel wurden nach ihrem Tod als Märtyrer Kultfiguren der Nazis und deshalb auch in großen Teilen der deutschen Bevölkerung verehrt.
Und wie bei der SS der Wahlspruch, "Deine Ehre heißt Treue", so galt auch bei der Marine der Kadavergehorsam zu deren höchsten Regeln.
Sind es ebensolche menschenverachtende Traditionen, die auf dem Schulschiff der deutschen Bundeswehr, Gorch Fock, auch heute noch gepflegt werden?