Ich schäme mich, als Mensch geboren zu sein
Mikis Theodorakis, Griechenland
Leugnung des Holocaust muss moralisch verurteilt und juristisch verfolgt werden
Am 6. Juni 2013 haben zwei Abgeordnete des griechischen Parlaments (Mitglieder der neofaschistischen Partei Goldene Morgenröte) den Holocaust am jüdischen Volk und den Völkermord an den pontischen Griechen geleugnet. Der Komponist Mikis Theodorakis reagierte auf diese Infamie mit folgendem Text, der am 12. Juni 2013 zunächst in der griechischen Tageszeitung »Ta Nea« veröffentlicht wurde:
Das verbindende Element, durch das sich ein Volk als gemeinschaftlicher und lebendiger Organismus erfährt, ist dessen kollektives Gedächtnis, das sich in kritischen, existenzbedrohenden Situationen herausgebildet hat. Die Angehörigen meiner Generation, die noch am Leben sind – vor allem diejenigen unter ihnen, deren Durchhaltevermögen in den stürmischsten Zeiten auf Leben und Tod geprüft wurde –, sie fühlen sich verpflichtet, bis zum letzten Augenblick ihres Lebens an den Thermopylen Wache zu halten. Um die ungeschriebenen Gesetze unserer Authentizität, unseres Miteinander und unserer Bedürfnisse als fest in der Realität verankerte zu verteidigen, während diese sich ständig weiter und höher entwickeln.
Diese ungeschriebenen Gesetze sind die Gesetze des Lebens, die mehr als alle anderen Gesetze Ausdruck des sozialen Zusammenhalts sind, dessen sichtbare Erscheinungsformen sich ständig ändern, während aus der Tiefe die Wurzeln den »Stammbaum der Menschen« versorgen, die Äste und Blätter, Blüten und auch Früchte.
Selbstüberhebung über Menschen oder Völker ist eine Form der Herabwürdigung des kollektiven Gedächtnisses, wenn dieses kollektive Gedächtnis – und auch die Realitäten, in denen es sich herausgebildet hat, infrage gestellt werden.
Die Massaker an den Griechen in Kleinasien, die Selbstopferung der Frauen von Zalongo und – das Allerschlimmste – der Genozid an Hunderttausenden von Pontus-Griechen, alles das sind wichtige Elemente unseres nationalen kollektiven Gedächtnisses, und zugleich stellen diese Ereignisse Tatsachen dar, Ereignisse, die Menschen miterleben mussten, die als Überlebende und deren Familienangehörige sie bezeugen können, Ereignisse, die zu den existenziellsten Erfahrungen dieser Menschen gehören.
Wenn jemand, vor allem als Grieche, diese Tatsachen infrage stellt, so ist das ein völlig absonderlicher Akt, ein Akt, der uns befremdet, gerade weil wir uns nicht hätten vorstellen können, dass ausgerechnet jemand von uns den falschen »Argumentationslinien« der Täter folgt. Wer allerdings auch immer meint, in der von mir soeben erwähnten Art und Weise handeln zu müssen, macht damit ganz deutlich, wie er zu uns steht. Es sind nicht wir, die diesen Menschen ablehnen, sondern es ist diese seine nicht nachzuvollziehende Entscheidung, mit der er sich von uns abgrenzt.
Es ist absolut unerträglich, im griechischen Parlament diese furchtbaren »Meinungsäußerungen« mit anhören zu müssen. Die Tatsache, dass es einem Abgeordneten allen Ernstes in den Sinn kommen konnte, im Parlament den Holocaust der Nazis an den Juden in Frage zu stellen – dieses größte Verbrechen, das in der Geschichte der Menschheit jemals begangen wurde –, diskreditiert uns in den Augen der Weltöffentlichkeit und beschädigt das Ansehen unseres Landes. Das ist absolut verheerend für Griechenland und zudem verbrecherisch, wenn man in Betracht zieht, dass unser Volk eines derjenigen ist, denen die grausame Hitlerbarbarei die schwersten Opfer abverlangte.
Unbestreitbar bedeutet der Völkermord an den Juden – in seinen monströsen Ausmaßen – ein so entsetzliches und unbeschreibliches Verbrechen, angesichts dessen der Mensch sich schämen muss, Mensch zu sein, da die Schlächter von Auschwitz ja Menschen waren wie du und ich, allerdings in Gestalt einer Fehlentwicklung zu humanoiden Bestien. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass sie Kinder, Frauen, Greise – alles Unschuldige, deren einziges »Verbrechen« darin bestand, einem anderen Ethnos und einer anderen Religionsgemeinschaft anzugehören (einem Ethnos, der einen Einstein, einen Freud, einen Marx, einen Mahler und zahlreiche andere Wohltäter der Menschheit hervorgebracht hat) – in Waggons pferchen konnten, als wären es Tiere, sie endlos sich dehnende Tage und Nächte zu deportieren und schließlich diejenigen, die all das überstanden hatten, unbegreiflichen Martyrien und Todesarten auszusetzen. Ein Jahrtausend-Alptraum, bis heute der schlimmste, den die Menschheit kennengelernt hat, ein Alptraum, der dich bereits krank macht, wenn du nur daran denkst, während in deiner Vorstellung diese Opfer – vor allem die Kinder – zu Engeln werden und du schließlich nur noch den unweigerlichen Drang verspürst, vor ihnen niederzuknien, sie auf ewig um Vergebung zu bitten und ihnen wieder und wieder zu sagen: »Ich schäme mich, als Mensch geboren zu sein.«
In Dachau und in Auschwitz wurden nicht nur die Juden ermordet. Der Mensch an sich wurde ermordet. Und seitdem stehen wir alle, die wir überlebt haben, in einer Schuld. Das ist es, was mich so unerbittlich und entschieden gegen jeden vorgehen lässt, der es wagt, diesen Alptraum durch irgendetwas rechtfertigen zu wollen. Diese Verbrecher von damals haben meinen Glauben an den Menschen getötet. Und keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, das zu vergeben. Hinzu kommt, dass wir Griechen doppelten Grund haben, die Gräueltaten der Nazis zu verdammen:
Erstens, weil sie unser Land total zerstört und Tausende Griechen getötet haben, und zweitens, weil unter den sechs Millionen Juden, die ermordet wurden, 70.000 jüdische Landsleute aus Thessaloniki waren. Der Verlust dieser Menschen – für uns eine offene Wunde. Denn Juden lebten jahrhundertelang in Thessaloniki, und mit ihrem fortschrittlichen Geist bestimmten sie die Entwicklung dieser Stadt in jeglicher Hinsicht. Bis heute leidet Thessaloniki an dieser Wunde, und es ist eine unerträgliche Angelegenheit, wenn ein junger Mensch das kollektive Gedächtnis eines gemarterten und uns freundschaftlich verbundenen Volkes und insbesondere die Erinnerungen an diese griechischen jüdischen Opfer der Hitlerbarbarei – die einst Teil unseres Lebens waren – so grausam verhöhnt.
Die Leugnung der Martyrien eines Volkes bedeutet die Herabwürdigung der Opfer und die Verneinung der moralischen Werte in den Augen all jener, die ihre Freiheit und ihren Stolz den Opfern, die ihre Vorfahren brachten, zu verdanken haben. Und nicht nur das – die Lobhudeleien im Hinblick auf die damaligen Mörder und Folterer müssen als verbrecherischer Landesverrat geahndet werden. Für all diejenigen, die das abscheuliche Gesicht der Gewalt kennengelernt haben, ist die entschiedene Verurteilung einer nicht zu tolerierenden Akzeptanz oder – was noch schlimmer ist – gar die Bewunderung all der verbrecherischen Akte gegen die Menschlichkeit eine moralische Pflicht und eine elementarer Widerstand gegen eine Wiederholung ähnlicher Verbrechen.
So wäre deren moralische und juristische Verurteilung eine Selbstverständlichkeit für jede Gesellschaft, die die grundlegende menschliche Werteordnung und die Prinzipien der moralischen Gesetze respektiert. Dagegen offenbaren die Gleichgültigkeit (ein Verhalten, das leider all jenen eigen ist, die in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen unseres Landes herrschen) und das Fehlen gesellschaftlicher und moralischer Abwehrmechanismen inzwischen das Ausmaß des Niedergangs, und sie haben zur Folge, dass aus einer einst mündigen Bevölkerung ein Heer von Untertanen wird.
Abschließend wende ich mich an die Athener Akademie (als ihr Ehrenmitglied, zu dem ich kürzlich ernannt worden bin), die als unseres Landes höchste Instanz der Vernunft die maßgeblichen menschlichen und nationalen Werte verteidigen und vorangehen muss, wenn es darum geht, all jene Taten zu verurteilen, die einen Angriff auf die menschliche Würde und unser Geschichtsbewusstsein bedeuten, ein Bewusstsein, auf das sich die höchsten Werte der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte gründen.
Übersetzt von Ina und Asteris Koutoulas, Quelle: www.mikis-theodorakis.net – Stellungnahmen, Dienstag, 11. Juni 2013 unter der Überschrift »Lasst uns jetzt reagieren, bevor es zu spät ist«, auszugsweise in »junge Welt« vom 11. Juli 2013, Seite 12.