Hungerkrisen, der Ukraine-Krieg und das globale Agrarsystem
Leseprobe
Zu dem eben von Hermann Klenner rezensierten Buch »Ein willkommener Krieg?« (herausgegeben von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann) folgt hier eine Leseprobe:
Jörg Goldberg
Hungerkrisen, der Ukraine-Krieg und das globale Agrarsystem
Zum dritten Mal innerhalb von 15 Jahren steht die Welt vor einer globalen Nahrungsmittelkrise, verbunden mit politischen Erschütterungen, Hungeraufständen und Bürgerkriegen. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig und vor allem struktureller Natur. Behauptungen, wie die von Außenministerin Baerbock: »Russland hat einen Kornkrieg begonnen, der eine globale Nahrungsmittelkrise anfacht« [1] sind Kriegspropaganda, deren Wirkung umso fataler ist, als sie die strukturellen Ursachen der globalen Nahrungsmittelunsicherheit und Krisenanfälligkeit verschleiert und nachhaltige Schritte zu deren Überwindung blockiert.
Nahrungsmittelkrisen: Ein Preisproblem
Warnungen vor einer globalen Hungerkrise gab es schon vor dem russischen Angriff. Dieser hat allerdings dazu beigetragen, die Situation weiter zu verschärfen. Seit 2015 steigt die Zahl der Hungernden weltweit wieder an. Der Anteil der unterernährten Weltbevölkerung erhöhte sich seither von 8 auf 9,8 Prozent 2021, im subsaharischen Afrika auf 23,2 Prozent. Schon 2020 konnten sich 3,1 Milliarden Menschen, fast 40 Prozent der Weltbevölkerung, keine ausgewogene Ernährung leisten. [2] Ursache sind die hohen Nahrungsmittelpreise. Diese sind nach dem Kriegsbeginn stark angestiegen, der Trend war aber schon 2021 deutlich aufwärtsgerichtet. Der Food-Price-Index der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO (Durchschnitt 2014/16 = 100) stieg inflationsbereinigt [3] von 98,1 im Jahre 2020 auf 125,7 in 2021. Im März 2022 erreichte er mit 159,7 einen vorläufigen Höchstwert. Innerhalb eines Jahres schwankte der Weizenpreis zwischen 197 und 438 Euro/Tonne, also um mehr als 100 Prozent. »Solche extreme Preisschwankungen wie sie derzeit zu beobachten sind, hat es zuvor noch nicht gegeben, auch wenn die Märkte besonders sensibel und geradezu hysterisch auf neue Nachrichten reagieren«, schreibt das online-Fachmagazin agrarheute. [4]
Dass es sich wie schon bei den Hungerkrisen von 2008 und 2010/11 global nicht um ein Mengenproblem handelt, zeigen die Zahlen zu Erntemengen und Vorräten. Den Schätzungen des Internationalen Getreiderats (IGC) zufolge wird für das Erntejahr 2022/23 eine Getreideproduktion von 2,251 Milliarden Tonnen erwartet. Die in den ukrainischen Schwarzmeerhäfen blockierten ca. 20 Millionen Tonnen (Stand Juli 2022) machen weniger als ein Prozent der globalen Produktionsmenge aus.* Der weltweite Getreideverbrauch wird auf 2,279 Milliarden Tonnen geschätzt, woraus sich ein kleines Defizit von 28 Millionen Tonnen ergibt. [5] Dies könnte leicht durch den Rückgriff auf die auf 580 Millionen Tonnen geschätzten Vorräte ausgeglichen werden. Wie schon in den beiden vorangegangenen Nahrungsmittelkrisen 2008 und 2010 handelt es sich um ein reines Preisproblem, was zeigt, dass der Welthunger systemische, d.h. in der Struktur des Agrarsystems einerseits und dem globalen Agrarhandel andererseits liegende Ursachen hat.
Zerstörung lokaler Produktionssysteme
Von den 46 von der UNCTAD als »least developed countries« (2021) definierten Ländern sind die meisten Netto-Nahrungsmittelimporteure. Obwohl es sich dabei um Agrarländer handelt, können sie sich nicht selbst ernähren. »Fast alle Agrarländer sind Nettoimporteure von Nahrungsmitteln …« stellte die Weltbank schon 2008 fest. [6] Die Importabhängigkeit hängt mit der Integration dieser Länder in den Weltmarkt und den damit verbundenen Zerfall der lokalen Produktionssysteme zusammen. Heute basieren mehr als 50 Prozent der pflanzlichen Nahrungsmittel auf nur drei (von 7.000) Pflanzenarten: Weizen, Reis und Mais. Diese Produkte werden nur von wenigen spezialisierten Ländern [7], darunter Russland und der Ukraine, exportiert. Der globale Handel damit wird von wenigen Großhändlern dominiert, die in Fachkreisen mit ABCD abgekürzt werden: Archer Daniels, Bunge, Cargill, Louis Dreyfus beherrschen etwa drei Viertel des globalen Getreidehandels. Sie werden verdächtigt, in ihren Silos große Vorräte zu bunkern: »Bei zunehmender Rohstoffspekulation haben sie ein Interesse daran, Vorräte so lange zurückzuhalten, bis die Preise ihren Höhepunkt erreicht haben«, schreibt das Internationale Expertengremium für nachhaltige Lebensmittelsysteme IPES. [8] In den letzten Jahren wurde die Vormacht von ABCD durch die chinesische Cofco und die russische RIF etwas eingeschränkt, was aber nichts am oligopolistischen Charakter des internationalen Getreidehandels ändert.
Die zunehmende Abhängigkeit der Welternährung von wenigen Produkten hat die Produktionsstrukturen und Ernährungsgewohnheiten verändert und damit die Fähigkeit zur Selbstversorgung der Agrarländer untergraben. Insbesondere in Afrika wurden einheimische Produkte durch Weizen und Mais verdrängt, die dort entweder nicht produziert werden oder deren Anbaubedingungen unangepasst sind. Dies führt dazu, dass die Agrarproduktion auf die Versorgung mit international gehandelten landwirtschaftlichen Chemikalien und künstliche Bewässerung angewiesen ist. Wasserknappheit, Energiekrise und Nahrungsmittelkrise verbinden sich und befeuern zudem die Klimakrise. Die oben erwähnte Studie von IPES warnt daher explizit vor Lösungen, wie sie z.B. von der Allianz for a Green Revolution in Africa (AGRA) und dem US-Programm »Feed the Future« angeboten werden. Dadurch werde die Krisenanfälligkeit und Außenabhängigkeit der Agrarproduktion in den armen Ländern mittelfristig weiter vergrößert. Statt die Nahrungsmittelunsicherheit zu reduzieren, wie es sich z.B. die von der Bill and Melinda Gates Stiftung mitfinanzierte AGRA zum Ziel gesetzt hat, zeigen unabhängige Evaluierungen, dass in den Ländern, in denen AGRA operiert, der Hunger deutlich zugenommen hat. [9] Im Ergebnis ist die Nahrungsmittelsicherheit der armen Länder in immer größerem Umfang von der Funktionsfähigkeit internationaler, oligopolistisch organisierter Warenketten abhängig geworden.
Falsche Prioritäten der Internationalen Gemeinschaft
Der Kampf gegen den Hunger wäre leicht zu gewinnen, würde die »internationale Gemeinschaft« richtige Prioritäten setzen. Das International Institute for Sustainable Development (IISD) legte 2020 eine Studie vor, in der es berechnete, »was es die Regierungen (kostet), bis zum Jahr 2030 den Hunger zu beenden, die Einkommen der Kleinerzeuger zu verdoppeln und das Klima zu schützen.« Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die entwicklungspolitischen Geber im Agrarbereich in der laufenden Dekade zusätzlich 12 Milliarden US-Dollar jährlich aufbringen müssten, um 490 Millionen Menschen vom Hunger zu befreien und die Einkommen von 545 Millionen Kleinerzeugern zu verdoppeln. Weitere 19 Milliarden jährlich müssten von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen über Steuern erbracht werden. [10] Zusammen gerechnet wären im laufenden Jahrzehnt rund 300 Milliarden US-Dollar zusätzlich erforderlich – eine gemessen an den mehr als 20 Billionen, die im gleichen Zeitraum weltweit für Rüstung ausgegeben werden, geradezu lächerliche Summe.
Die Finanzialisierung der globalen Nahrungsmittelmärkte und ihre Folgen
Obwohl z.B. Getreide immer noch überwiegend in dem Land verbraucht wird, in dem es produziert wird, steigt der Anteil der international gehandelten Produkte an der Gesamtproduktion seit der Finanzmarktkrise von 2008 ständig an, [11] so auch 2021/22. Dabei beeinflussen die Weltmarktpreise und deren Schwankungen auch die lokalen Preise. Diese aber werden inzwischen an den Finanzmärkten gebildet. Dies macht die Ernährungssituation vor allem der importabhängigen Länder von den Entwicklungen an den internationalen Waren-Terminbörsen abhängig, wobei die US-amerikanische Chicago Mercantile Exchange (CME) die bedeutendste ist. Die CME-Group betreibt eine Reihe von spezialisierten Börsen, darunter den Chicago Board of Trade (CBOT), der führend im Handel mit Nahrungsmitteln ist. Für die Regulierung des globalen Handels mit Nahrungsmitteln ist daher die US-Aufsichtsbehörde »Commodity Futures Trading Commission« (CFTC) besonders bedeutsam.
Ein globales Produktionsdefizit von wenig mehr als einem Prozent der jährlichen Weizenproduktion kann Preissprünge um mehr als 50 Prozent »fundamental« nicht erklären. Ursprünglich waren Terminbörsen dazu da, um Verkäufern und Käufern mehr Preissicherheit zu verschaffen. Der Farmer sicherte dem Getreidehändler vor der Ernte zu, an einem bestimmten Zeitpunkt und zu einem festgelegten Preis eine bestimmte Menge Getreide zu liefern. Diese Terminkontrakte wurden im Zuge der Finanzialisierung der Warenmärkte vor allem seit den 1990er Jahren handelbar gemacht, auch »non-commercial-traders« konnten sie nun kaufen und verkaufen. Banken und andere Finanzakteure entwickelten um diese »Futures« herum spezialisierte Finanzprodukte, deren Preise nicht mehr von der Nachfrage nach den entsprechenden Waren, sondern der nach den auf dieser Basis entwickelten Wertpapieren, Derivate genannt, bestimmt wurden. Nicht die Preisentwicklung der Waren selbst, sondern jene der entsprechenden Finanzprodukte wurde entscheidend. Der US-amerikanische »Commodities Futures Modernisation Act« (CFMA) von 2000 befreite den Handel mit Derivaten von der Finanzaufsicht, die bislang den Handel mit Terminkontrakten reguliert hatte.
Die Finanzmärkte dominieren die Warenmärkte – nur so lassen sich die hektischen Preissprünge an den realen Märkten (diese misst der FAO Food-Price-Index) erklären, die – wie gezeigt – kaum noch etwas mit den »fundamentals«, d.h. den Verhältnissen zwischen Angebot und Nachfrage der realen Produkte, zu tun haben. Dies gilt auch aktuell: Kurz nach Kriegsbeginn flossen zusätzliche Milliarden in Agrarfonds, einzelne Fonds verhundertfachten ihre Tagesumsätze unmittelbar nach dem russischen Einmarsch. [12] Der Krieg hat vermehrt Spekulanten auf den Plan gerufen, die einmalige Gewinnchancen wittern.
Schon im Kontext der globalen Hungerkrise von 2008 waren diese Zusammenhänge erforscht worden: An der weltweit wichtigsten Börse für Agrarprodukte, der CBOT in Chicago, wurde 2011 das 73-Fache der verfügbaren Weizenmenge gehandelt: Jedes Weizenkorn wechselte – vermittelt über Derivate und andere Finanzprodukte – 73 Mal den Besitzer, bevor es beim Verarbeiter ankam. [13] Die Preisbewegungen an den Finanzmärkten – und damit auch an den Warenmärkten – werden durch die Verbindung von Finanzinvestitionen mit der Informationstechnik gesteuert: Die Kunst ist nicht, die Auswirkungen des Krieges auf die realen Märkte zu prognostizieren, sondern abzuschätzen, was die Mehrheit der Finanzakteure darüber denken könnte. Diese kollektive Wahrnehmung ist aber heute kaum noch eine Angelegenheit von Individuen, sondern sie ist in Form von Algorithmen automatisiert: Etwa 80 Prozent aller Handelsaktivitäten mit Derivaten werden auf der Basis »automatisierter« Handelsstrategien abgewickelt. [14]
Quelle: Erheblich gekürzter Artikel aus: Wolfgang Gehrcke, Christiane Reymann (Hg.), Ein willkommener Krieg? NATO, Russland und die Ukraine, PapyRossa-Verlag 2022. Siehe https://shop.papyrossa.de/epages/26606d05-ee0e-4961-b7af-7c5ca222edb7.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/26606d05-ee0e-4961-b7af-7c5ca222edb7/Products/801-0.
Christiane und Wolfgang diskutieren gern über das Buch und die dort behandelten Themen. Ihr könnt sie gern einladen:
reymann-berlin@t-online.de oder 0170-8613474.
Anmerkungen:
[1] Baerbock vor einer UN-Konferenz in New York, Handelsblatt v. 24.5.2022.
[2] FAO, The State of Food Security and Nutrition in the World, Rome 2022, Key Messages.
[3] Die nominalen Nahrungsmittelpreise werden bereinigt um den Anstieg der Preise für Industriewaren (https://fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en/, letzter Zugriff 17.7.2022).
[4] Getreidepreise gehen durch die Decke: Importeure kaufen Markt leer, 11.7.2022, https://www.agrarheute.com/markt/marktfruechte/getreidepreise-gehen-decke-importeure-kaufen-markt-leer-595543, letzter Zugriff 20.7.2022.
[5] * DLF Kultur v. 09.11.2022: »Knapp 1,5 Prozent der Gesamtmenge ging seit 1. August über das »World Food Programme« nach Jemen, Somalia, Afghanistan und Äthiopien. Das waren sechs Schiffe von fast 500, die seit dem Start des Abkommens die Ukraine verlassen haben.« https://www.deutschlandfunkkultur.de/getreideabkommen-russland-ukraine-weltmarkt-100.html.
Proplanta, 22.5.2022, IGC erwartet weltweit 40 Millionen Tonnen weniger Getreide, https://proplanta.de/agrar-nachrichten/agrarwirtschaft/igc-erwartet-weltweit-40-millionen-tonnen-weniger-getreide_article1653213904.html, letzter Zugriff 17.7.2022.
[6] Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2008, Washington DC. 2007, 109.
[7] Auf fünf Länder/Regionen (Russland, EU, Kanada, USA, Australien) entfielen 2021 etwa 70 Prozent der globalen Weizenexporte. Die Ukraine (8,5 %) kam an sechster Stelle (Statista 2022).
[8] International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES Food), Another Perfect Storm?, 10.5.2022, 14.
[9] Ebd., 18.
[10] International Institute for Sustainable Development, Den Hunger beenden, die Einkommen steigern und das Klima schützen. Autor(s): David Laborde, Marie Parent, Carin Staller, 2020 (https://jstor.org/stable/resrep29169.3).
[11] Oxfam, Wird es eine globale Nahrungsmittelkrise geben? Marita Wiggerthale, 31.3.2022, https://www.oxfam.de/blog/globale-nahrungsmittelkrise-geben, letzter Zugriff 20.7.2022.
[12] IPES, a.a.O., 11.
[13] Wege aus der Hungerkrise. Die Erkenntnisse des Weltagrarberichtes und seine Vorschläge für eine Landwirtschaft von morgen, Spekulation mit Nahrungsmitteln (https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/spekulation-mit-lebensmitteln.html), letzter Zugriff 20.7.2022. Vgl. auch: Jörg Goldberg, Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, in: Michael Bergstresser, Franz-Josef Möllenberg, Gerd Pohl (Hrsg.), Globale Hungerkrise. Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung, Hamburg 2009, 100-116.
[14] Ebd., 207.