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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Hitlers Rassengesetze

Wulf Kleus, Berlin

Vor 80 Jahren, am 15. September 1935, wurden anlässlich des in Nürnberg stattfindenden 7. Parteitages der NSDAP die »Nürnberger Rassengesetze« vom Reichstag angenommen. Jener »Reichsparteitag der Freiheit«, wie die Nazis ihn nannten, setzte eine verhängnisvolle Entwicklung endgültig in Gang, die Verfolgung, Demütigung und Ausgrenzung für die Juden bedeutete und eine Vorstufe für die späteren Novemberpogrome und schließlich den mörderischen Holocaust bildete.

Die Nürnberger Gesetze bestanden aus insgesamt drei Einzelgesetzen, dem »Reichsflaggengesetz«, dem »Reichsbürgergesetz« und dem »Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes«, auch »Blutschutzgesetz« genannt. Sie würdigten die deutschen Juden zu Personen minderen Rechts herab und bereiteten ihre Verfolgung vor. Zahlreiche Verbote, Regelungen und ergänzende Verordnungen entrechteten und diskriminierten die jüdischen Bürger. So verloren sie die deutsche Staatsbürgerschaft und ihr politisches Wahlrecht. Sie durften keine öffentlichen Ämter innehaben. Das »Blutschutzgesetz« untersagte »außerehelichen Verkehr« und Eheschließungen zwischen Juden und »Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes«. Verstöße gegen dieses Gesetz wurden als »Rassenschande« bezeichnet und mit drakonischen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen bedroht. Verboten wurde den Juden zudem die Anstellung von »deutschblütigen« Dienstmädchen. In den darauffolgenden Jahren folgten unzählige weitere in Paragraphen gegossene Diskriminierungen auf Reichs- und lokaler Ebene.

Unerträgliche Propaganda

Mit den Nürnberger Rassengesetzen wurde die Reichsgesetzgebung der antisemitischen und rassistischen Ideologie der Nazis, wie sie bereits im Parteiprogramm der NSDAP und in Hitlers »Mein Kampf« nachzulesen war, angepasst. Viele Deutsche begrüßten oder duldeten die Rassengesetze, nur wenige unter ihnen wagten es Widerstand zu leisten. Dass Judenfeindschaft und Antikommunismus in Deutschland derart stark Fuß fassen konnten, dafür hatte vor allem die NS-Propaganda gesorgt. Deren Antisemitismus und Sozialismusfeindlichkeit konnte an reaktionäre Traditionen und Ideen anknüpfen, wie sie schon zuhauf im wilhelminischen Kaiserreich präsent waren. Die Nazis übernahmen und verschärften diesen Wahn in der Weimarer Republik: Der Stürmer, der Völkische Beobachter und andere Nazi-Blätter hatten über viele Jahre hinweg täglich aufs Neue die Mär von der »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung« in die Köpfe der Deutschen eingepflanzt und die Juden und sogenannten Bolschewisten für alles Schlechte in der Welt verantwortlich gemacht. NS-Zeitungen, wie das 1923 von Julius Streicher gegründete Hetzblatt Der Stürmer, forderten das deutsche Volk zur Denunziation und öffentlichen Anprangerung von »Judenfreunden« auf. Sie säten Hass und Gewalt gegen Linke, Juden, Sinti und Roma und andere Minderheiten. »Marxistisch-jüdischer Saustall aufgedeckt« [1], »Der Bluthund. Furchtbare Bluttaten jüdischer Mordorganisationen. Das geschächtete Polenmädchen« [2], »Der Judensaustall« [3] und dergleichen lauteten die Überschriften des Stürmer. Auf jeder Titelseite des braunen Hetzblattes war seit 1927 das Zitat Heinrich von Treitschkes zu lesen: »Die Juden sind unser Unglück«.

Ein Großteil des deutschen Volkes glaubte den Lügen der Nazis. Der geistig-moralische Niedergang jener Zeit erinnert an Bertolt Brechts Stück Mann ist Mann: Der Krieg und militaristische Stimmungsmache verwandeln den friedlichen und gutherzigen Packer Galy Gay in einen kaltblütigen Killer; er wird Stück für Stück »wie ein Auto ummontiert«. Die Propagandahetze der Nazis war ein Krieg gegen die Menschlichkeit und den gesunden Menschenverstand, er veränderte und deformierte den Geisteszustand des deutschen Volkes.

Furchtbare Juristen

Was tat die Weimarer Justiz gegen die faschistische Stimmungsmache? Im Grunde nichts. Sie war auf dem rechten Auge blind und konzentrierte ihre hauptsächlichen Anstrengungen vielmehr darauf, mit besonderer Härte gegen die Kommunisten vorzugehen. Kurt Tucholsky sprach der Richterkaste des Reichsgerichts  wegen seiner Gefühlslosigkeit, Realitätsverweigerung und mangelnden Objektivität die Qualifikation zur moralischen Erziehung des deutschen Volkes ab. [4] Dafür qualifizierte sich die große Mehrheit der Weimarer Richter umso mehr für das NS-Regime. Schon am 19. März 1933, wenige Wochen nach Hitlers Einzug in die Reichskanzlei, sicherte der Deutsche Richterbund der Nazi-Regierung ihr »volles Vertrauen« zu. [5] Sie sprachen von nun an Recht auf Verlangen und Befehl des »Führers«.

Der krankhafte antisemitische Eifer der NS-Richter zeigte sich nicht zuletzt bei der Interpretation von Gesetzesbegriffen, die im Zusammenhang mit dem »Blutschutzgesetz« standen. So legte das Reichsgericht das Merkmal des »außerehelichen Verkehrs« zulasten der Beteiligten besonders weit aus und fasste unter »Rassenschande« auch solche Handlungen, »durch die der eine Teil seinen Geschlechtstrieb auf einem anderen Wege als durch Vollziehung des Beischlafs vollziehen will.« Mit Hilfe dieser uferlosen Interpretation war der Willkür Tür und Tor geöffnet, so dass auch einfache Zärtlichkeiten oder Küsse bestraft werden konnten [6] und u.U. sogar Betätigungen, die ohne jede körperliche Berührung zustande kamen. Die Richter kannten auch kein Mitgefühl, wenn es um die Festlegung des Strafmaßes ging. Oft ergingen mehrjährige Zuchthausurteile, in einigen Fällen sogar Todesurteile, die zwar nicht ausdrücklich im »Blutschutzgesetz« vorgesehen waren, aber unter Heranziehung anderer verschärfender Verordnungen – wie etwa im Fall des Juden Leo Katzenberger [7] – begründet wurden.

Zahlreiche NS-belastete Juristen konnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder als Richter oder in anderen gehobenen öffentlichen Funktionen in der Bundesrepublik arbeiten, darunter auch frühere Richter des berüchtigten Volksgerichtshofes. Bei den Strafsenaten des Bundesgerichtshofes lag der Anteil früherer NS-Richter noch 1962 bei 80 Prozent. Zehn Jahre zuvor hatte jener Bundesgerichtshof der braunen Richterkaste den Schutz des sogenannten Richterprivilegs zuerkannt: »Der Richter, der ein Todesurteil fällt, kann sich dadurch nur dann strafbar machen, wenn er das Recht beugt. Dies setzt voraus, dass er bewusste und gewollte Verstöße gegen das Verfahrensrecht oder das sachliche Recht begeht, ohne die es zu keinem Todesurteil gekommen wäre. Unterlaufen dem Richter fahrlässige zu einem Todesurteil führende Verletzungen des Rechts, so scheidet seine Haftung auch unter dem Gesichtspunkt fahrlässiger Tötung aus. Solange der Richter bestrebt ist, in einem ordnungsgemäßen Verfahren das sachliche Recht zu verwirklichen, ist er für eine etwaige Fehlentscheidung unter keinen Umständen strafrechtlich verantwortlich.« [8] Die Nazi-Richter wussten die sorgsam formulierte Brücke zur Straffreiheit zu nutzen, die ihnen der BGH da schlug. Denn wie sollte bewiesen werden, ob sie »bewusst« und »gewollt« das Recht beugten? Die Staatsanwälte und Richter des Volksgerichtshofes sowie zahlreiche Verantwortliche für Standgerichtsprozesse kamen ohne Strafe davon.

Personelle Kontinuitäten zwischen dem NS-Staat und der Bundesrepublik fanden sich auch auf höchster Ebene der Politik: Bundespräsident Walter Scheel, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und 25 Minister waren Mitglied in Nazi-Organisationen. [9] Als im Oktober 1952 kritische Stimmen gegen die Aufnahme von früheren NSDAP-Mitgliedern in das Auswärtige Amt laut wurden, wischte Bundeskanzler Konrad Adenauer jedes Bedenken beiseite: »Ich meine, wir sollten mit der Nazi-Riecherei jetzt mal Schluss machen.« [10] Die rechte Hand Adenauers, Hans Globke, war Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Gesetze. Roland Freisler, als Präsident des Volksgerichtshofs für etwa 2.600 Todesurteile verantwortlich, lobte dessen Werk in höchsten Tönen als »besonders wertvoll« und schrieb in der Deutschen Justiz: »Man hat ... alles, was man in der Praxis benötigt, hier aufgenommen ... Der Kommentar kann wohl in keiner juristischen Handbücherei fehlen.« [11] Globkes Machenschaften im NS-Staat behinderten seine spätere Politkarriere in der Bundesrepublik nicht im Geringsten. Zehn Jahre lang leitete er das Bundeskanzleramt.

Die Schandgesetze von Nürnberg – ein warnendes Beispiel

Die Nürnberger Rassengesetze sind ein warnendes Beispiel für die Gefahren politischer Demagogie. Sie haben auf furchtbarste Weise demonstriert, wie anfällig ein Großteil eines Volkes für Lügen und Manipulationen sein kann.

Dass der mörderische Völkerhass der Nazis beendet wurde, daran hatte die Sowjetunion einen maßgeblichen Anteil. Mit ihrer Auflösung verschwand auch der europäische Sozialismus, der sich für ein freundschaftliches und friedliches Verhältnis zwischen den Völkern einsetzte. Seither sind in verstärktem Maße jene Kräfte auf dem Vormarsch, die Ressentiments und Feindseligkeiten gegen Minderheiten und andere Völker schüren. Deutsche Leitmedien reden der Bevölkerung ein, Flüchtlinge aus den von Krieg und Elend betroffenen Regionen würden den deutschen Sozialstaat plündern, die Griechen seien faul und undankbar angesichts der milliardenschweren Rettungspakete, die man ihnen zuliebe geschnürt hätte, und die Russen würden wieder mit den Säbeln rasseln und die »europäische Friedensordnung« bedrohen. Die BILD titelt: »Russe oder Grieche – wer ist gefährlicher für uns?« [12] und die Formulierung »prorussischer Mob« schaffte es bis in die 20-Uhr-Tagesschau. [13]

Die Stimmungsmache ist besorgniserregend. Nicht wenige Menschen fallen auf die Lügen herein, die ihnen gewissenlose Politiker in die Köpfe trommeln und erliegen den von Teilen der Mainstream-Medien geschürten Feindseligkeiten, wie die jüngsten Anschläge auf Flüchtlingsheime zeigen. Es gibt aber auch viele Menschen, die der Stimmungsmache trotzen, die sich solidarisch verhalten und Flüchtlingen helfen. Dass nicht mehr alles geglaubt wird, was die Mainstreampresse erzählt, haben auch die zahlreichen Kritiken zur einseitigen Russlandberichterstattung deutlich gemacht. Die Kluft zwischen der vorherrschenden veröffentlichten und der öffentlichen Meinung ist größer geworden. Hierin liegt eine Chance, dass nie wieder rücksichtslose Scharfmacher und Demagogen über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden. Aber eben nur eine Chance, nicht mehr und nicht weniger.

Anmerkungen

[1] Der Stürmer, Nr. 36, 1926.

[2] Der Stürmer, Nr. 39, 1926.

[3] Der Stürmer, Nr. 49, 1929.

[4] Kurt Tucholsky, Die Weltbühne, 1927, Nr. 15/16/17.

[5] Zit. nach Der Unrechtsstaat, Band 2, S. 78.

[6] Ingo Müller: Furchtbare Juristen –Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München, 1987, S. 107ff.

[7] Leo Katzenberger wurde wegen Verstoßes gegen die »Volksschädlingsverordnung« am 3. Juni 1942 guillotiniert.

[8] BGH, 29. Mai 1952 – 2 StR 45/50.

[9] Beste, Ralf; Bönisch, Georg; Darnstädt, Thomas; Friedmann, Jan; Fröhlingsdorf, Michael; Wiegrefe, Klaus: »Welle der Wahrheiten« in DER SPIEGEL 1/2012.

[10] WDR, 2006: »13. März 1951 – Errichtung des Auswärtigen Amtes beschlossen: Jetzt mal Schluss mit der Nazi-Riecherei«.

[11] Zit. aus DER SPIEGEL 14/1956: »Böse Erinnerungen«.

[12] BILD, 18. Februar 2015.

[13] Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen, Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 37.