Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Heimsuchungen

Zum 50. Todestag von Albert Camus

Albert Camus, dessen Todestag sich am 4. Januar zum 50. Mail jährte, wurde 1913 in Algerien geboren. Sein Vater, Kellerarbeiter in einem Weinbauunternehmen, gehörte zu jenen, die aus Furcht vor den ständig drohenden deutschen Einfällen ihre elsässische Heimat mit Algerien vertauscht hatten. Camus empfing in seiner Kindheit den unauslöschlichen Eindruck von Mühsal, Elend und Ungerechtigkeit des Lebens.

Camus war in die Résistance gegangen, als er von der Hinrichtung des kommunistischen Widerstandskämpfers Gabriel Péri erfuhr: "Sie fragen mich, aus welchen Gründen ich mich auf die Seite der Résistance gestellt habe. Diese Frage hat für eine Reihe von Menschen, zu denen ich gehöre, keinen Sinn. Es schien mir und es scheint mir noch immer, daß man nicht auf der Seite der Konzentrationslager stehen kann."

"Die Pest" erschien 1947, erwachsen aus der Zeit des Widerstandes gegen die Nazi-Okkupanten. Mehr als 60 Jahre nach dem Erscheinen lesen wir Heutigen darin über die Kriege in Irak und Afghanistan, über Nazis von heute, über das Desaster der Klimakonferenz von Kopenhagen, über die 1 Milliarde Menschen, die an Hunger leiden, und wir erinnern uns der Worte Camus’ anläßlich der Entgegennahme des Nobelpreises 1957: "Wie alle Menschen meines Alters während über zwanzig Jahren in einer dem Wahnsinn verfallenen Epoche hilflos den krampfartigen Erschütterungen der Zeit preisgegeben, habe ich so in dem dunklen Gefühl Kraft gefunden, daß das Schreiben heute eine Ehre darstellt, weil diese Handlung verpflichtet, und zwar zu mehr als zum Schreiben."

Auszug aus "Die Pest":

Noch niemand hatte die Krankheit wirklich anerkannt. Die meisten waren hauptsächlich empfindlich für alles, was sie in ihren Gewohnheiten störte oder ihren Vorteil bedrohte. Dadurch wurden sie gereizt oder aufgebracht, und das sind keine Gefühle, die man der Pest entgegenhalten könnte. […]

Die Wahrheit wurde der öffentlichen Meinung nur langsam bewußt, während sie die Vermehrung der Todesfälle feststellte. In der fünften Woche betrug die Zahl der Toten nämlich dreihunderteinundzwanzig und in der sechsten dreihundertfünfundvierzig. Diese Zunahme redete wenigstens eine deutliche Sprache. Aber sie war nicht stark genug, unsere Mitbürger daran zu hindern, mitten in ihrer Besorgnis den Eindruck zu bewahren, daß es sich um einen zweifellos ärgerlichen, aber schließlich doch nur vorübergehenden Zwischenfall handle.

Also fuhren sie fort, in den Straßen zu verkehren und sich an den Tischen vor den Kaffeehäusern niederzulassen. Im allgemeinen waren sie nicht feige, wechselten mehr Scherzworte als Klagen und gaben vor, die Unannehmlichkeiten, die ja nur von kurzer Dauer sein konnten, mit gutem Humor zu ertragen. Der Schein blieb gewahrt. Gegen Ende des Monats jedoch, ungefähr während der Betwoche, von der später die Rede sein wird, veränderten tiefergreifende Wandlungen das Aussehen unserer Stadt. Zunächst traf der Präfekt Maßnahmen, die den Fahrzeugverkehr und die Ernährung betrafen. Die Lebensmittel und der Treibstoff wurden rationiert. Es wurden sogar Einsparungen im Elektrizitätsverbrauch vorgeschrieben. Nur die unentbehrlichsten Güter gelangten auf dem Land- und Luftwege nach Oran. So sah man, wie der Verkehr abnahm und allmählich fast völlig aufhörte, wie Luxusgeschäfte ihre Pforten von einem Tag auf den anderen schlossen. Wieder andere Läden stellten in ihren Auslagen Listen der fehlenden Waren auf, während die Käufer vor den Eingängen Schlange standen. […]

Die Kaffeehäuser […] konnten die Gäste weiterhin bedienen, weil die Vorräte in einer hauptsächlich auf Wein- und Spirituosenhandel eingestellten Stadt beträchtlich waren. Um die Wahrheit zu sagen: man trank viel. Nachdem eine Weinstube angeschlagen hatte: "Der edlen Reben Saft bricht der Mikroben Kraft", verstärkte sich die allgemeine, den Leuten schon längst vertraute Auffassung, daß der Alkohol vor ansteckenden Krankheiten schütze. Jede Nacht, gegen zwei Uhr morgens, wurde ein beträchtlicher Schwarm Betrunkener aus den Weinstuben geworfen und ergoß sich unter optimistischen Bemerkungen in die Straßen.

Aber in gewissem Sinne waren alle die Veränderungen so außergewöhnlich und so plötzlich eingetreten, daß es nicht leichtfiel, sie als normal und dauerhaft zu betrachten. Das Ergebnis war, daß wir fortfuhren, unsere persönlichen Empfindungen in den Vordergrund zu stellen. […]

Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: "Er kann nicht lange dauern, er ist zu unsinnig." Und ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran, lange zu dauern. Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt wäre. In dieser Beziehung waren unsere Mitbürger wie alle Leute, sie dachten an sich, oder anders ausgedrückt, sie waren Menschenfreunde: sie glaubten nicht an Heimsuchungen. Weil die Plage das Maß des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen, und die Menschenfreunde zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben. Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergaßen nur die Bescheidenheit und dachten, daß ihnen noch alle Möglichkeiten offenblieben, was aber voraussetzt, daß Heimsuchungen unmöglich sind. Sie schlossen auch weiterhin Geschäfte ab, bereiteten Reisen vor und hatten eine Meinung. Wie hätten sie da an die Pest denken sollen, die der Zukunft, dem Reisen und dem Gedankenaustausch ein Ende macht? Sie glaubten sich frei, und keiner wird je frei sein, solange es Geißeln der Menschheit gibt.