Heimatsüchtig. Eine Erzählung und ein Hörspiel von Manfred Hocke
Elfriede Schroth, Berlin
Ein Zwölfjähriger irrt durch die Welt. Sie ist aus den Fugen geraten. Es ist das Jahr 1945. An der Hand seiner Mutter verschlägt es ihn von Breslau nach Bautzen, von dort ins Erzgebirge, zwischendurch landen sie im Niemandsland, im Gegensatz zum Namen vollgestopft mit Flüchtlingen aus Ost und West, die "die Fronten wie mit Schaufelbaggern zusammengeschoben hatten". Über das verwüstete Dresden gelangen sie in einem Lazarettzug aus Schlesien in eine unbekannte Ferne und dann in einem Güterzug wieder in Richtung Osten.
Geboren wurde er im Jahre 33, dem Jahr des Unheils, wie er seine Mutter mit harter Stimme sagen hörte. Schon als kleiner Junge fragte er sich, wozu bin ich eigentlich da, wenn sich niemand darüber freut. Seine Mutter verprügelte ihn bei der geringsten Kleinigkeit mit Kleiderbügeln und anderen harten Gegenständen und weinte dann über ihre Unbeherrschtheit. Sein Vater hatte ihn wohl nie gemocht und Kinder überhaupt als Klotz am Bein empfunden. Dennoch fehlte er ihm, seit er eines Tages aus seinem Kinderleben verschwunden war – und wohl auf der richtigen Seite landete, wie er es vom immer lächelnden Onkel Friedo gehört hatte. Das Bild des Vaters blieb immer verschwommen.
Überhaupt purzelten in seinen Gedanken Menschen, Landschaften, Worte und Erinnerungen wie in einem Kaleidoskop durcheinander, setzten sich zu bunten wirren Bildern zusammen und veränderten sich bei der geringsten Bewegung. Immer auf der Suche nach Geborgenheit, einem Bett und einem Teller Suppe, einem festen Punkt im Leben, nach Heimat. Dabei hatte er in der Heimat nichts, was ihm gehörte, außer einem kleinen Zimmer in den Steinbaracken. "Arme Leute haben keine Heimat", hatte seine Mutter einmal gesagt. Dennoch hatte er Heimweh nach dem Grab der Bieber-Oma und dachte mit Wehmut an ihre deftigen Sprüche. Viele ihrer rätselhaften Wörter brachten ihn später in der Fremde in arge Bedrängnis, weil sie nicht verstanden wurden. Der alte Strom fehlte ihm, die weiten Wiesen und sanften Berge. Und er dachte voller Sehnsucht an die schöne blonde Lilo, die ihre fünf Söhne allein durchbringen mußte, weil ihr Mann im Krieg gefallen war. Mit unnachahmlicher Geste schlug sie ihre Beine übereinander, so daß ihre festen Oberschenkel zu sehen waren, dort wo die Strümpfe aufhörten. Ganz anders war es bei seinem Leibchen. Immer hatte er Ärger, weil die Strümpfe verrutschten und Wasser zogen. Bei Lilo niemals. Manchmal dachte er auch an Onkel Männe, einen Juden mit glattem, schwarzem Haar. Er kam gelegentlich seine Mutter besuchen und hätte sie wohl gerne mitgenommen über die grüne Grenze nach Belgien und später über das große Wasser nach Venezuela, wenn nicht er dagewesen wäre. Für Kinder war so eine Reise zu gefährlich!
Ach, könnte er nur noch einmal die schöne Adelheid Kalemba wiedersehen, die ihn in ihren weiten schwarzen Mantel gehüllt hatte und mit ihm in den weichen weißen Schnee gesunken war. Jetzt lag er mit ausgemergelten Gestalten in Sträflingskleidung auf dem harten Boden eines Güterwagens. Um ihn zu wärmen, brachte ihm die Mutter eine Uniformjacke. Widerwillig zog er sie an, aber als er in die Tasche faßte, fand er darin ein Stück Brot. Welch ein Glück.
Manfred Hocke hat die Geschichte des Zwölfjährigen phantasievoll, kenntnisreich und mit Witz erzählt. Personen sind knapp und treffend charakterisiert, Erinnerungen an Ereignisse und Begegnungen sind kaleidoskopartig ineinander verschachtelt, zeitliche Ebenen purzeln durcheinander und setzen vom Leser Wissen um die geschichtlichen Begebenheiten voraus. Jungen Lesern wird die Lektüre vielleicht schwerer verständlich sein. Für die Generation von Manfred Hocke aber hat sie großen Wiedererkennungswert und macht nachdenklich.
Angefügt ist ein kurzes Hörspiel ohne Titel. Die Handelnden, besser die Sprechenden, sind zwei Personen, Er und Sie. Beide sehr jung, Anfang zwanzig. Im Abstand von jeweils zwei Jahrzehnten unterhält sich das junge Ehepaar. Beginnend in den fünfziger Jahren. Beide sind auf der Suche nach einem Platz im Leben. Sie, eine junge Russischlehrerin, er auf dem Weg, Karriere an einem Theater zu machen. Mal humorvoll, mal streitsüchtig versuchen sie sich zurechtzufinden in der beengten Unterkunft. Es geht um Politik und Sport, um die lieben Kollegen und die kauzige Wirtin, um kleinen und großen Ärger.
Zwanzig Jahre später gibt es eine neue größere Wohnung, aber die kleinen Plänkeleien und Ärgernisse sind geblieben und werden mit Wodka und Kali (Kaffeelikör) runtergespült.
Und dann landen sie schließlich in den Neunzigern, verlieren die Arbeit und fragen sich, wozu sind wir eigentlich noch nütze? Sie im Vorruhestand, keine Schule, keine Schüler, kein Russisch. Er, abgewickelt im Altersübergang. Kein Film, keine DEFA. Ihr Humor ist jetzt mehr Galgenhumor und statt Wodka und Kali trinken sie Sherry. Ihre Heimat – wo ist sie, fragen sie sich besorgt, und wer hat sie verspielt?
Das Büchlein "Heimatsüchtig" ist etwas Besonderes. Wer es in die Hand nimmt, liest es mit Gewinn.
Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2009, rote taschenbücher, Band 6, 173 Seiten, ISBN 978-3-939828-44-0, 5,- €