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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Hedda Zinner

Zu ihrem 20. Todestag

Am 4. Juli 1994 verstarb 89-jährig Hedda Zinner. Sie hinterließ ein umfangreiches episches Werk. Unvergessen sind besonders zwei ihrer Bühnenstücke »Der Teufelskreis« (1953) und »Ravensbrücker Ballade« (1961). Antifaschismus prägte ihr gesamtes künstlerisches Schaffen. Wie sehr sie auch die im Exil verbrachten Jahre in der Sowjetunion vielschichtig berührten, davon zeugt besonders ihr Roman »Katja«. Antifaschistischer Widerstandskampf, die Jahre der Emigration in der Sowjetunion und die des Lebens in der DDR stehen im Mittelpunkt ihres Werkes. Und sie lässt Probleme nicht aus. Über diesen ihren Roman »Katja« schrieb ihr einst eine junge Leserin: »Ich finde es großartig, wie Sie das Problem der Jugendlichen bei uns hier und heute darstellen, dass ich nur hoffen kann, wenn ich einmal Ihr Alter erreichen sollte, das gleiche Verständnis aufzubringen«. »Katja«, aus dem wir Auszüge dokumentieren, erschien 1980 im Buchverlag »Der Morgen«.

Froh, daß die gespannte Stimmung unterbrochen worden war, erkundigte ich mich, was es Neues in der Welt gäbe. Es war meine stete, stereotype, scherzhaft gemeinte Frage, wenn Stephan aus der Redaktion kam.

»Sie spucken Gift und Galle drüben, weil immer mehr Staaten uns anerkennen und keiner ihren Alleinvertretungsanspruch mehr ernst nimmt«, erzählte Stephan, während ich ihm das Essen auftrug. »Die CDU/CSU hat ein Programm entwickelt«, fuhr er fort, »das Franz Joseph Strauß in seiner bayrisch-cholerischen Art ausposaunte. Es läuft darauf hinaus, daß der Status quo annulliert werden soll.«

»Was meint er damit?« fragte Uwe, der bei Themen politischen Inhalts meist zurückhaltend zu reagieren pflegte. [...]

Stephan wischte sich den Mund mit dem Handrücken, das war ihm von früher geblieben, und bat Katja, ihm seine Aktentasche zu holen. »Ich habe sie euch mitgebracht, die Rede des Franz Joseph«, sagte er, der Tasche einige Schreibmaschinenseiten entnehmend, »habt keine Angst, ich lese sie euch nicht vor, nur ein paar Zeilen, aber die sind bezeichnend: ›Der Friede in Europa kann nur erreicht und erhalten werden durch die Überwindung der europäischen Teilung. Zu Europa gehören auch Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien ...‹ Da habt ihr's schwarz auf weiß.« [...]

Wir unterhielten uns weiter über die augenblickliche weltpolitische Lage, wobei Uwe nur Fragen stellte und uns sprechen ließ. Stephan fiel das nicht auf, und ich glaube, mir ist es auch erst jetzt bewußt. Uwe hatte schon immer recht geschickt um Dinge herumgeredet. Er tat so, als verstehe er sich selbst als politisch zwar interessiert, aber unwissend, und gab sich den Anschein, als höre er dem älteren, erfahrenen Politiker gern zu. Dabei setzte er seine Mittel gezielt und präzise ein, um Stephan zu gefallen und bei guter Laune zu halten.

Katja beteiligte sich wenig an den Gesprächen. Heute weiß ich, mit welcher Spannung und Nervosität sie die Unterhaltung zwischen ihrem Vater und ihrem Mann verfolgt haben muß, kannte sie doch Uwes Absichten.

Uwe überstürzte nichts. Er wartete auf eine Gelegenheit, sein Anliegen vorbringen zu können.

Leider kam Stephan ihm entgegen. »Und wie geht es euch?« fragte er. »Was macht dein Projekt? Steht die Werkstatt schon?«

Das war ein Scherz, Stephan ahnte nicht, was sich aus dieser Frage ergeben sollte. […]

Uwe ergriff die Gelegenheit, die Stephans Frage ihm bot und die er sich gar nicht besser hätte wünschen können. »Sie steht«, antwortete er ohne Zögern. »Wir haben die Räumlichkeiten unter besonders günstigen Voraussetzungen mieten können. In verkehrsgünstiger Lage, nicht weit von der Wohnung. Die Einrichtung ist ebenfalls komplett. Steinemann hat das meiste unterderhand besorgt, du kannst dir vorstellen, daß das nicht einfach war.« Er begann Stephan die einzelnen Werkzeuge und Maschinen, die sie angeschafft hatten, zu erläutern. Da ich davon nichts verstehe, habe ich auch nichts behalten. Stephan, der folgen konnte, hörte interessiert zu. »Das einzige, was noch fehlt«, schloß Uwe, »ist die Gewerbegenehmigung.«

Stephan, der immer noch nicht wußte, worauf Uwe hinaus wollte, schüttelte überrascht den Kopf. »Hast du denn schon in deinem Betrieb gekündigt?« fragte er.

Uwe nickte. »Ja, ich habe gekündigt.«

Diese Eröffnung kam mir ebenso überraschend wie Stephan. »Warum hast du mir denn nichts davon gesagt?« wandte ich mich an Katja. »Du hast es doch gewußt?«

»Und zu wann hast du gekündigt?« fragte Stephan, ehe Katja meine Frage beantworten konnte.

Eine Pause entstand, dann sagte Uwe, verhaltenen Trotz in der Stimme: »Ich arbeite seit dem Ersten nicht mehr.«

Dieser Eröffnung folgte abermals Schweigen. Stephan und ich waren zu verblüfft, um uns sogleich zu äußern. Es war eine drückende, unerträgliche Stille.

Jetzt war es Katja, die versuchte, Brücken zu bauen. »Ihr müßt verstehen«, begann sie unsicher, »die Werkstatt ist Uwes Chance. Wir haben euch nichts gesagt, weil Uwe hoffte, die Gewerbegenehmigung ohne eure Hilfe zu erhalten. Aber das ist augenblicklich sehr schwer, warum, weiß ich nicht. Außerdem müßte er irgendwelche Prüfungen nachholen, um sie zu erhalten, er kann euch das genauer erklären. Damit würden seine Pläne aber für ein bis zwei Jahre hinausgeschoben. So lange will er nicht warten, das ist doch begreiflich.« [...]

Immer noch schwieg Stephan, jetzt erst schien er dahinterzukommen, was Uwe von ihm verlangte. Wir warteten, wie er reagieren werde. »Und wie hast du dir vorgestellt, zu deiner Gewerbegenehmigung zu kommen?« fragte er endlich. [...]

»Ich wollte dich bitten, mit deinem Freund Rösner zu reden«, antwortete Uwe scheinbar unbekümmert, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Ich habe versucht, an ihn ranzukommen«, fuhr er fort, »aber er ist nie anzutreffen. Vielleicht läßt er sich auch verleugnen. Wenn du ihn sprechen wolltest, ist das natürlich etwas ganz anderes. Es würde auch schon genügen, wenn du einen Termin für mich ausmachst.« [...]

Stephans Schläfenadern schwollen an. Sein Gesicht rötete sich, aber nicht gleichmäßig, es entstanden große, rote Flecke.

»Du willst dich also bei Rösner auf mich berufen? Du willst meine Freundschaft dazu benutzen, um unsaubere, unkorrekte Angelegenheiten damit zu decken?« Er hatte immer noch leise begonnen, aber mit jedem Wort wurde seine Stimme schärfer und lauter. Dann brach es aus ihm heraus, wahrscheinlich machte sich auch manches, was sich bei ihm angestaut hatte, Luft: »Laß dir das gesagt sein, niemals werde ich freundschaftliche Beziehungen dazu mißbrauchen, um persönlichen Nutzen daraus zu ziehen. Niemals! Hat Katja dir das nicht gesagt? Kennt sie ihren Vater so wenig, daß sie dir das nicht gesagt hat?« […]

Uwe konnte die Szene in unserem Hause nicht verwinden, er fing immer von neuem davon an. Die angebliche Sturheit des Schwiegervaters regte ihn noch in der Erinnerung auf.

Katja lehnte die Haltung Stephans ebenfalls ab. Sie meinte, er lebe in einer Welt von Vorstellungen, die irreal seien, in einer Welt, die vielleicht einmal so sein würde, wie er sie sehe. Uwe hingegen lebe ganz in seiner Zeit. Er sei nicht fähig, sich über das, was ihn unmittelbar angehe, zu erheben. Annemarie sagte, sie habe sich gewundert, wie kritisch Katja auch Uwe gesehen habe, ganz anders als anfangs, obwohl sie ihn trotzdem in Schutz nahm. »Ist er schuld daran, daß er so ist?« habe Katja ihn verteidigt. »Hat er nicht ständig von ›materiellem Anreiz‹ als etwas Richtigem und Notwendigem gehört? Hat diese Zielrichtung nicht manche jungen Menschen so werden lassen wie Uwe?«

Andererseits konnte sie auch ihren Vater verstehen. Für ihn hatten ideologische Prinzipien immer an erster Stelle gestanden. »Katja versuchte, ihrem Mann und ihrem Vater gleichermaßen gerecht zu werden«, sagte Annemarie. »Aber das gelang ihr nicht. Es waren zu gegensätzliche Haltungen. Beide hatten ja auf ihre Weise recht, nur hatte Uwe ausschließlich den materiellen Anreiz und Katjas Vater ausschließlich die Seite des Bewußtseins gesehen. Uwe verlangte außerdem von Katja unbedingte Parteinahme für ihn und gegen die Eltern. Als sie das ablehnte, begann er ihr zu drohen.«

Hedda Zinner: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Katja. Die Lösung. Zwei Romane, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1987, ISBN 3-371-00088-5, S. 110-138.