Hartz IV – eine rot-grüne Hinterlassenschaft
Prof. Dr. Christa Luft, Berlin
Eine Mißgeburt wird fünf
Die Schröder-Fischer-(SPD-Grüne-)Regierung hat in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte zwei Zäsuren zu verantworten: Das Anlegen der Axt an den grundgesetzlich verankerten Sozialstaat und die Beteiligung der Bundeswehr an Angriffskriegen. Von Union und FDP wurde sie dabei nach Kräften unterstützt, ja sogar angetrieben. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die tiefen Einschnitte ins soziale Netz durch die Hartz-Gesetze und deren besonders makabren Teil Hartz IV. Dabei geht es weniger um alle Regelungsdetails als um die politische Bewertung und notwendige Veränderungen.
Axt am Sozialstaat
Nach dem einstigen Personalvorstand des VW-Konzerns Peter Hartz benannt, einem Schröder-Kumpel, der später wegen Korruption vor Gericht kam und verurteilt wurde, beinhalten die Gesetze mit dem Kernstück Hartz IV die bisher größten Schritte hin zu einem sozial zügellosen Kapitalismus. Mit dem Ziel, die zu Beginn des neuen Jahrtausends hohe Arbeitslosigkeit abzubauen, wurden ab 2005 unter dem vielversprechenden Motto "Fördern und Fordern" knebelnde, die Menschenwürde verletzende Maßnahmen gegen jene ergriffen, die ihren Job verloren hatten. Zusammengelegt wurden Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe und die Bezugszeit von Arbeitslosengeld entschieden gekürzt.
Bundeskanzler Schröder erklärte am 14. März 2003 in seiner berühmt-berüchtigten Rede zur Agenda 2010, man müsse die Zuständigkeiten und Leistungen für Erwerbslose in einer Hand vereinigen, um die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: "Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe, auch das gilt es auszusprechen, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird."
Was wegen des Zwittercharakters der Arbeitslosenhilfe, sie war durch Beitragszahlungen begründet und von der früheren Höhe des Arbeitsentgelts ihres Beziehers abhängig, jedoch steuerfinanziert und bedürftigkeitsgeprüft, hätte sinnvoll sein können, um eine Politik der "Verschiebebahnhöfe" zwischen beiden Hilfesystemen zu beseitigen, führte allerdings nicht zu einer Grundsicherung auf höherem Niveau, sondern zu einer Schlechterstellung von sehr vielen Menschen sowie einer gleichfalls problematischen Aufspaltung der SozialhilfeempfängerInnen in erwerbsfähige, die Arbeitslosengeld (ALG II) beziehen, und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten. Daraus wiederum erwuchsen neue Gefahren einer Stigmatisierung nach dem Grad der Nützlichkeit bzw. nach der ökonomischen Verwertbarkeit dieser Personen.
Unabhängig von den Beitragsjahren in der Arbeitslosenversicherung fielen also arbeitslose Männer und Frauen nach einem Jahr im Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) in das sogenannte Arbeitslosengeld II (ALG II), das das Existenzminimum nicht sichert und von der Partei DIE LINKE sowie Teilen der Öffentlichkeit zu Recht als "Armut per Gesetz" bezeichnet wird. [1]
In der aktuellen Krise rutschen massenhaft Erwerbstätige bei eintretender Arbeitslosigkeit direkt ins Hartz IV-System und erhalten keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Sie waren in den letzten zwei Jahren entweder nicht oder weniger als zwölf Monate sozialversichert. Befristet Beschäftigte und Leiharbeitskräfte sind davon überdurchschnittlich häufig betroffen. Im ersten Halbjahr 2009 waren von 2,185 Mio. Menschen, die aus Erwerbstätigkeit heraus arbeitslos wurden, 655.000 direkt auf Hartz IV angewiesen. Dies entspricht einem Anteil von 30 Prozent. Für sie sind Arbeitslosen- und auch Rentenversicherung zerstört.
Arbeitsplatz- und damit Zukunftsunsicherheit führen zur Ausweitung nicht existenzsichernder Arbeitsverhältnisse. Sowohl abhängig Beschäftigte als auch Erwerbslose weisen eine erhöhte Konzessionsbereitschaft gegenüber der Annahme von prekärer Beschäftigung auf bzw. verzichten in verstärktem Maße auf Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen, auf gute Arbeit. Insgesamt wächst so der Anteil der Erwerbstätigen in Arbeitsverhältnissen mit hohem Prekaritätspotential zu Lasten regulärer Beschäftigung. Das läßt sich anhand der Entwicklung der Leiharbeit, befristeter Beschäftigung, der sogenannten AufstockerInnen sowie des gesamten Niedriglohnsektors nachweisen und findet seinen Ausdruck auch in einer immer stärkeren Spreizung der Löhne und Gehälter. Im Juli 2009 waren 26,3 Prozent der insgesamt 6,7 Millionen Hartz-IV-Beziehenden sogenannte Aufstocker, deren Arbeitsentgelt nicht zum Leben reicht. Die mit verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit gewachsene Reservearmee hat das allgemeine Lohnniveau gedrückt und geholfen, gute und sichere Arbeit zu verdrängen.
Grundgesetzwidrig wurde für ALG-II-Bezieher der Schutz des Eigentums, wozu auch der Altersvorsorge dienendes Sparvermögen gehört, de facto aufgehoben. Zulässig blieben lediglich 250 Euro pro Lebensjahr als sogenanntes Schonvermögen. Was darüber lag, mußte erst aufgebraucht werden. Das ist pure Enteignung und konterkariert den Appell der Regierungspolitiker, mehr Privatvorsorge für das Alter zu treffen, weil die gesetzliche Rente nicht mehr lebensstandardsichernd sein wird.
Beschämend ist auch die Behandlung von Kindern in Hartz-IV-beziehenden Familien. Das betrifft sowohl die niedrigen Regelsätze als auch die Handhabung eventueller Arbeitsentgelte. Wenn Kinder aus Hartz-IV-Familien einen Ferienjob antreten und mehr als 100 Euro im Monat verdienen, kürzt man ihren Eltern den Regelsatz. Denn das zusätzliche Einkommen wird mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet. Das trifft ebenfalls auf die zum 1. Januar 2010 beschlossene Erhöhung des Kindergeldes um 20,00 Euro monatlich zu.
"Als Kunde bezeichnet, als Bettler behandelt"
So ist ein im September 2009 im VSA-Verlag Hamburg zum Hartz-IV-Problem erschienenes Buch betitelt. Während die Boulvardpresse fast täglich – sicher auch vorkommende – Mißbrauchsfälle von Grundsicherungsleistungen genüßlich auswalzt und sich zur gesellschaftlichen Elite zählende Personen wie der frühere Berliner Finanzsenator Sarrazin mit verächtlichen Bemerkungen hervortun wie: Die Hartz-IV-Beziehenden hängen nur an der Flasche und geben ihr Geld für Tabak aus, wenn ihnen in der Wohnung kalt ist, sollen sie sich doch einen zweiten Pullover anziehen, berichtet dieses Buch von bewegenden Schicksalen und bitteren Alltagserfahrungen Betroffener.
"Zum Jobcenter gehe ich alleine nicht mehr hin ..." – "Ich sitze in meiner kalten Wohnung, weil ich Heizung sparen muß ..." – "Ich kann gut mit Geld umgehen, denn ich habe nur sehr wenig davon." Diese Aussagen bringen zur Sprache, was alle Verantwortlichen hätten wissen können. Von Hartz IV kann man nicht leben. Berater und Beraterinnen des Diakonischen Werks in Hessen und Nassau geben in dem Buch den Menschen eine Stimme, die von Hartz- IV leben müssen. Ihre Beiträge rücken die Perspektive der Erwerbslosen in den Mittelpunkt. Sie nehmen deren Sicht der Dinge ernst und zeigen, was der Slogan "Fordern und Fördern" wirklich bedeutet. Die Berichte alltäglicher Entwürdigung geben einen Einblick in die Lebenswelt und belegen: Die Hartz-Gesetze sind wie die Agenda 2010 mißraten, denn sie drücken erwerbslose Menschen in Armut und stellen sie unter Druck und Sanktionen. Die vielen Alltagsprobleme und die anschwellende Rechtsprechung sind nur Ausdruck einer Zermürbungstaktik und systematischen Entrechtung. Das alles ist nicht zwingend, sondern kann und muß in eine andere Richtung gelenkt werden. Doch dies, so sagen die Autoren, ist nur in Zusammenarbeit mit allen Betroffenen möglich. Und deshalb ist es so wichtig, ihnen eine Möglichkeit zu geben, sich zu äußern und sie zu hören.
Schwarz-gelbe Sozialkosmetik
Den neuen Regierungsparteien Union und FDP eilt der Ruf "sozialer Kälte" voraus. Dem versuchten sie gleich zu Beginn ihrer Koalitionsgespräche entgegenzuwirken. "Wir werden als bürgerliche Koalition fundamentale Ungerechtigkeiten des Hartz-IV-Systems beseitigen", verkündete der damalige CDU-General Pofalla. Kein Wort davon, daß die Schwarz-Gelben 2005 Schröders Verarmungsgesetz lautstark bejubelten. Nun soll das der Altersvorsorge dienende Schonvermögen von ALG-II-Empfängern auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifacht, die Zuverdienstgrenze angehoben und das selbstgenutzte Wohneigentum dem Zugriff der Behörden entzogen werden.
Das klingt nach Wohltätigkeit. Ist damit den Kritikern von Hartz IV, besonders der LINKEN der Wind aus den Segeln genommen? Mitnichten! Der symbolisch starke Akt entpuppt sich bei Lichte als Sozialkosmetik. Zugutekommen wird das erhöhte Schonvermögen einer begrenzten Zahl von Langzeitarbeitslosen: Älteren, die etwas ansparen und sich eine Lebensversicherung leisten konnten sowie Eigenheimbesitzern. Das trifft aber auf die Masse der Hartz-IV-Beziehenden in den alten und besonders in den neuen Ländern nicht zu, wie die Statistik der Bundesagentur für Arbeit ausweist. Von 5,5 Millionen Anträgen auf ALG II hat sie 2009 nur rund 11.000, also nicht einmal 0,2 Prozent wegen zu "hohen Vermögens" zurückgewiesen. 2008 war es ein halbes Prozent. Die Koalitionäre wissen genau, daß relativ wenige Langzeitarbeitslose profitieren, denn sie rechnen mit Kosten von 300 Millionen Euro. Gemessen an den gesamten Hartz-IV-Ausgaben von 36 Milliarden Euro im abgelaufenen Jahr ist das ein verschwindend geringer Betrag. Das Vorhaben suggeriert ein "Haushaltsvermögen", das so nicht vorhanden ist. Nach jüngsten Studien verfügen zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland über ein geringes oder kein individuelles Nettovermögen. Viele Bürger sind verschuldet. Das höhere Schonvermögen zielt demnach vor allem auf die wirtschaftlich besser Gestellten. Offenbar will die FDP den krisenbedingt vom finanziellen Absturz bedrohten Mittelschichten die Sorge vor Altersarmut mildern. Zusatzprofit versprechen sich die ebenfalls zur FDP-Klientel gehörenden Versicherungen und Banken. Die Nichtanrechnung von Rentenversicherungen auf Sozialleistungen eignet sich gut als Verkaufsargument.
Mit ihrem aufsehenerregenden Coup lenken die Koalitionäre ab von den gravierenden Hartz-IV-Problemen: den niedrigen Regelleistungen, den Sanktionsparagraphen, dem Konstrukt "Bedarfsgemeinschaft", den entwürdigenden Ein-Euro-Jobs und der Entkoppelung der Bezugsdauer des ALG I von der Zahl der Arbeitsjahre. Keineswegs gebannt ist die Gefahr von Altersarmut. Beginnt der Ruhestand und die gesetzliche Rente liegt unter dem Hartz-IV-Regelsatz, dann muß das angesparte Schonvermögen weitgehend abgeschmolzen werden, bevor es Geld aus der Grundsicherung im Alter gibt. Kosmetische Operationen an den Hartz-IV-Knebelgesetzen nützen nichts. Das Machwerk gehört abgeschafft.
Soziale Wärme soll auch das Verbot "sittenwidriger" Löhne ausstrahlen. Das sind Löhne, die ein Drittel unter dem Durchschnitt branchenspezifischer Entgelte liegen. Im ostdeutschen Friseurhandwerk wären das etwa zwei Euro/Stunde! Solche Praxis ist nach geltender Rechtssprechung heute bereits unerlaubt. Nun sollen Hungerlöhne das Gütesiegel der Legalität erhalten. Ohne gesetzlichen Mindestlohn muß der Steuerzahler auch weiterhin Dumpinglöhne bezuschussen. Und höhere Zuverdienstmöglichkeiten für ALG II-Bezieher machen diese für Unternehmen zu staatlich subventionierten Niedriglöhnern.
Es ist zu hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht die Regierenden beauflagt, schleunigst ein menschenwürdiges Existenzminimum zu formulieren. Im Grundgesetz fehlt das bisher.
Es bleibt dabei: Hartz IV muß weg!
Für das entwürdigende, knebelnde Gesetz kann es nur eine Perspektive geben: Es gehört abgeschafft! Dafür bedarf es einer parlamentarischen Mehrheit und breiten außerparlamentarischen zivilgesellschaftlichen Drucks. Bis das Ziel endgültig erreicht werden kann, gilt es Ausstiegsschritte zu konzipieren, sie öffentlich zu propagieren und um Zustimmung in der Bevölkerung zu werben. Die LINKE hat sich in ihrem nach der Bundestagswahl beschlossenen 10-Punkte-Sofortprogramm wie zuvor im Wahlkampf zur Abschaffung von Hartz IV bekannt und wird im Bundestag folgende erste Schritte dazu fordern:
- Generelle Verlängerung der Zahldauer des ALG I für alle Anspruchsberechtigten auf 24 Monate. Darüberhinaus soll sie abhängig sein von der Dauer der Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung (pro Jahr der Einzahlung ein Monat ALG )
- Regelsätze armutsfest machen und an die Preis- und Einkommensentwicklung anpassen
- Anpassung der Kinderregelsätze an den Kinderbedarf
- Nichtanrechnung der Entgelte von Ferienjobs für Kinder von Hartz-IV-Beziehenden auf die Höhe der Hartz-IV-Sätze
- Deutliche Anhebung der Freigrenzen beim Schonvermögen zur Alterssicherung
- Sofortiger Stopp der Drangsalierung von Hartz-IV-Beziehenden und Abschaffung des Sanktionsparagraphen 31 im Sozialgesetzbuch II
- Abschaffung des Konstrukts "Bedarfsgemeinschaft" im SGB XII und II für Erwachsene zugunsten eines individuellen Leistungsanspruchs.
Diese Ausstiegsschritte aus Hartz IV sind eingebettet in Forderungen nach einer Politik, die den Rahmen setzt für zukunftsfähige und existenzsichernde Arbeitsplätze, die den Kündigungsschutz gewährleistet und Mitbestimmung in den Unternehmen verteidigt und erweitert. Die LINKE geht davon aus, daß Arbeitslosigkeit ein durch den Kapitalismus verursachtes gesellschaftliches Risiko ist und nur im Ausnahmefall Ergebnis persönlichen Versagens. Daher gehört die Politik täglich neu in die Pflicht genommen.
Es ist bezeichnend, daß die bei den Bundestagswahlen auch wegen ihrer Haupttäterschaft bei der Kreation der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze abgestrafte "Volkspartei" SPD sich immer noch windet. Sie verteidigt das in ihrer Regierungszeit auf den Weg gebrachte Knebelpaket als in der Grundrichtung notwendig und will nur prüfen, ob in Einzelteilen ein "Nachjustieren" erforderlich ist. Man darf gespannt sein, wie das aussehen soll. Grundlegende Initiativen werden von ihr nicht zu erwarten sein.
Anmerkung:
[1] 2006 lag die Armutsschwelle für einen Erwachsenen in der Bundesrepublik bei 885 Euro monatlich, 2007 waren es 913 Euro pro Monat.