Harald Neubert: Die internationale Einheit der Kommunisten
Eberhard Butter, Berlin
Bescheiden nennt der 2009 verstorbene Historiker Prof. Dr. Harald Neubert sein letztes Buch einen "dokumentierten historischen Abriß". Das ist es auch. Doch vielmehr hat er eine anspruchsvolle Analyse eines bedeutenden Abschnittes der internationalen Arbeiterbewegung und ihrer Kommunisten vorgenommen, die durch strenge Wissenschaftlichkeit, Detailtreue und Beachtung der historischen Komplexität überzeugt.
Er berührt entscheidende Fragen der kommunistischen Weltbewegung, ihres Entstehens, Wirkens und Scheiterns. Sie reichen von den Anfängen der internationalen Einheit der Arbeiterbewegung über die I. bis III. Internationale bis zur dominierenden Rolle der KPdSU und zu den Zäsuren des VII. Weltkongresses 1935, der ungarischen und tschechoslowakischen Ereignisse 1956 und 1968 und des XX. Parteitages. Die Konferenzen der kommunistischen Parteien vor und nach 1945 werden ausführlich analysiert, ebenso die Bedingungen und Anlässe für das sowjetisch-chinesische Schisma und für den Zerfall der kommunistischen Weltbewegung.
Die Mehrzahl ihrer führenden Persönlichkeiten erhält ihren Platz im historischen Geschehen, mitgestaltend und auch als Opfer der Willkür: Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Paul Levi, August Thalheimer, Ruth Fischer, Hugo Eberlein, Lenin, Trotzki, Sinowjew, Stalin, Clara Zetkin, Dimitroff, Rakoszi, Togliatti, Gramsci, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Mao Tse-tung und andere.
Als Grundlage dafür wurden von ihm ein Kompendium historischer Literatur und ein bisher unerschlossenes Archivmaterial gelegt, das in seinem Umfang seinesgleichen sucht. Deshalb sind die Betrachtungen über längere und auch umstrittene historische Abläufe beweiskräftig und für uns heute verständlicher. Sein persönliches Erleben bedeutender internationaler Konferenzen, an einigen wirkte er gestaltend mit, seine wissenschaftliche Qualifikation und Tätigkeit in der historischen Lehre und Forschung der DDR und in der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der SED verleihen seinen Analysen und Wertungen Authentizität.
Beeindruckt haben mich seine Nachdenklichkeit und auch Zweifel zulassende Bewertungen, wenn er mit dem gebotenen historischen Abstand auf die wechselvollen Etappen der Bewegung eingeht. Harald Neubert arbeitete mit einer dialektischen Methode, die Faktenreichtum und historische Analyse mit teilweise eigenem Erleben verbindet. Er hat einen Spannungsbogen aus der geschichtlichen Mission der Arbeiterklasse und ihrer Parteien, ihren historischen Erfolgen bis zu den frühzeitig erkennbaren Spuren ihres Scheiterns geschlagen. Erfolge, Fehler, Irrtümer, taktische und strategische Wendungen der kommunistischen Weltbewegung, besonders der KPdSU, wurden eingeordnet in die konkrete historische Situation und aus ihr abgeleitet. Diese Abhängigkeiten gelten auch für das Wirken des subjektiven Faktors, das der Autor von Machtmißbrauch und Voluntarismus, zum Beispiel Stalins, Chruschtschows und teilweise Mao Tse-tungs deutlich abgrenzt.
Die Geschichte der Komintern wird als Teil des gesamten Geschichtsprozesses, als Ergebnis der Klassenauseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg und als eine Antwort auf das Weltherrschaftsstreben des internationalen Monopolkapitals analysiert. Der lange erfolgreiche Versuch zum Aufbau sozialistischer Gesellschaftsordnungen, auch mit ihren Widersprüchen und aus heutiger Sicht vermeidbaren Fehlern, erhält seinen Platz im zivilisatorischen Fortschritt.
Das Handeln der kommunistischen Parteien, vor allem in Europa, war längere Zeit stark abhängig vom Vorbild der KPdSU. Die Oktoberrevolution und die Person und Theorie Lenins bewiesen die Berechtigung der revolutionären Bewegungen in einer Vielzahl von Ländern. Doch wirkten in einigen von ihnen auch ständig ihre nationalen Bedingungen prägend für Charakter und Kampfformen der Komintern-Parteien. Die Lösung dieses Widerspruchs gelang den europäischen Kommunisten nicht. Eingehend untersucht der Autor diese Probleme, die in der zeitweiligen Abspaltung der jugoslawischen und chinesischen Kommunisten von der gemeinsamen Kampffront kulminierten.
Nicht immer aber waren es Willkür, bürokratische Erstarrung und Machtbesessenheit der KPdSU-Führung und Stalins, wenn eine stärkere Geschlossenheit der europäischen Kommunisten in Praxis und Theorie historisch von den Verhältnissen gefordert wurde, zum Beispiel als Antwort auf den von den westlichen Alliierten ausgelösten Kalten Krieg. Das dabei wiederum grundlegende Fragen der marxistischen Dialektik, zum Beispiel zur ständigen kritischen Prüfung des praktischen politischen Handelns zu wenig gestellt und der erforderliche theoretische Überbau der Tagespraxis geopfert wurde, ist die Tragik der Bewegung, doch selbst wieder teilweise historisch erklärbar.
Allgemein aber hat sich Harald Neubert dafür entschieden, der KPdSU unter der Führung Stalins und auch danach bis zum Verrat Gorbatschows die entscheidende, wenn auch nicht alleinige, Verantwortung für das Scheitern der III. Internationale und der kommunistischen Weltbewegung zuzumessen. Dabei sei die dogmatische Anwendung der Leninschen Rezeption des Marxismus in vielen kommunistischen Parteien, verstärkt durch das Theoriegebäude Stalins, bedeutsam gewesen. Die Einheit der kommunistischen Bewegung hätte offene und kritische Dialogfähigkeit zur Konsensbildung im Sinne einer "Einheit in der Vielfalt" erfordert. Die zu einseitige Ausrichtung der internationalen Arbeit an der Interpretation des Marxismus durch die KPdSU seit Lenin mit ihrem historisch bedingten Macht- und Strukturverständnis störte ein Zusammenwirken mit den nichtkommunistischen Teilen der internationalen Arbeiterbewegung, insbesondere mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Der "pathologische Antikommunismus" der deutschen Sozialdemokratie wird in diesem Zusammenhang ebenso wie ihre feste Integrierung in das kapitalistische System jedoch nicht ausgeblendet.
Insbesondere hatte Palmiro Togliatti frühzeitig diesen Grundwiderspruch erkannt und sein Kämpferleben einer Lösung gewidmet. Auch er scheiterte. Diese "Einheit in der Vielfalt" sei auch die einzige Chance linker Bewegungen im Kampf um einen wie auch immer gearteten Sozialismus.
Der Autor widmet in diesem Zusammenhang dem sogenannten "Eurokommunismus" breiteren Raum. Er vermeidet seine Verbalisierung als "Revisionismus", weil er in den betreffenden Ländern den legitimen Versuch sah, das Verhältnis zwischen Nationalem und Internationalem von den Fesseln der beanspruchten Führungsrolle der KPdSU (sowjetischer Monismus) zu befreien.
Starken Einfluß auf den Niedergang der kommunistischen Weltbewegung, vor allem in Osteuropa, habe auch der Irrglaube an den "gesetzmäßigen Sieg" des Sozialismus gehabt, während die Innovationsfähigkeit des Kapitalismus unterschätzt worden sei. Versuche der SED-Führung unter Walter Ulbricht, zum Beispiel mit der "Neuen Ökonomischen Politik" und der stärkeren Betonung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der politischen und ökonomischen Führungstätigkeit, dem auch international zu begegnen, fanden bei der sowjetischen Führung keine Resonanz und verhallten als Rufe in der schweigenden Mehrheit der übrigen Parteien.
Es ist verdienstvoll, daß Harald Neubert Schwarz-Weiß-Malereien und Verdikte, die historische Abläufe nicht vermitteln und Lehren nicht zulassen, vermieden hat. Allerdings fällt auf, daß er Ernst Thälmann weder biografisch noch in seiner politischen Bedeutung erwähnt. Auch geht er etwas zu großzügig mit Begriffen um, zum Beispiel mit dem der "Demokratie", die er als neutral und klassenindifferent im kritischen Kontext als Defizit oder Ziel der Bewegung analysiert. Ähnliches läßt sich von der programmatisch geforderten "Einheit in der Vielfalt" sagen, die er politisch nicht weiter ausgestaltet.
Die Vielzahl der redaktionellen Mängel ist bedauerlich.
Sein Buch ist eine bittere Lehre und Medizin, besonders für die damals Mitbeteiligten unter uns. Doch deshalb auch heilsam für den Weg der Erkenntnis und des Kampfes.
Harald Neubert: Die internationale Einheit der Kommunisten. Ein dokumentierter historischer Abriß. Neue Impulse Verlag GmbH 2009. 19,80 EURO.