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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Grundsätzliches zum Rechtsstaat

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin

 

Nächst »Freiheit« und »Demokratie« gehören »Rechtsstaat« (und neuerdings wieder einmal »Unrechtsstaat«) zu dem am häufigsten benutzten Polit-Vokabular. Dabei stoßen nicht nur unterschiedliche Meinungen – es stoßen gegensätzliche Interessen aufeinander. Auch wenn Bekenntnisse durch Erkenntnisse nicht widerlegt werden, ist Aufklärung gefordert. Wozu sonst ist Wissenschaft da? Deshalb werden im Folgenden weniger Fälle von Unrecht im Rechtsstaat oder von Recht im Unrechtsstaat aufgelistet, sondern der Gegenwart wegen mit einem Blick in die Vergangenheit vor allem Grundsatzfragen erörtert. [1]

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Das Wort »Rechtsstaat« taucht in der deutschen Sprache erst um 1800 auf. Die Idee des Rechtsstaates ist hingegen uralt, und der Begriff des Rechtsstaates ist von Beginn an bis zum heutigen Tag umstritten, und zwar notwendigerweise. Um es aber von vornherein zu sagen: wer, wie üblich, meint, ein Rechtsstaat sei ein Staat, in dem es gerecht zugeht, und ein Unrechtsstaat ein Staat, in dem es ungerecht zugeht, ist zumindest naiv, und seine Hoffnungen sind wie seine Befürchtungen jedenfalls leerer Wahn.

Einheitlicher Rechtsstaatsbegriff existiert nicht

Fangen wir beim Wort »Rechtsstaat« an. In wohl keiner anderen Sprache gibt es eine solche Wortverbindung zwischen Recht und Staat, und wie bei anderen Fachausdrücken der Juristen ist es in andere Sprachen nur umständlich übersetzbar; »rule of law« etwa, von meinem Oxforder Law Dictionary mit »all men are equal before the law, whether they be officials or not (except the Queen)« entspricht unserem Verständnis von Rechtsstaat eher nicht. Erstmals findet sich unser Terminus in einer 1798 publizierten Rezensionsabhandlung und bezog sich weder auf den Ist- noch auf den Soll-Zustand eines tatsächlich existierenden Staates, sondern charakterisierte eine sich den bloßen Erfahrungen erlebbarer Staatspraxis entgegensetzende Widerspruchstheorie samt deren Adepten, nämlich die »kritische oder die Schule der Rechts-Staats-Lehrer«. Damit waren Immanuel Kant und dessen Anhänger – Wilhelm von Humboldt etwa mit seiner Auffassung vom vernünftigen Staat als einem »Rechtsinstitut« – gemeint. [2] Kant, in dessen Kritik der praktischen Vernunft wie in seinem sonstigen Werk das Wort »Rechtsstaat« nicht vorkommt, hatte jedoch in seinen »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« von 1797 den Staat – wohlgemerkt nicht den, wie er ist, sondern wie er sein solle – vom Recht her definiert und das Recht von einem angeblich apriorischen Gesetze her als den das gemeinsame Interesse Aller vereinigenden Willen der Staatsbürger. Den Staat als ein Gemeinwesen und das Recht als eine Freiheitsordnung Gleichberechtigter zu imaginieren, und dann noch zu behaupten, dass »die Vernunft selbst es so gewollt habe«, könnte allerdings – bedenkt man die damaligen Gegebenheiten im Umfeld Königsbergs – der puren Illusion bezichtigt werden; fügt man dann noch hinzu, dass deren Autor die Arbeiter und die »Frauenzimmer« für nicht Bürger zu sein qualifiziert hielt, scheint das Negativurteil über Kants Rechtsstaatsbegriff unvermeidbar zu sein. Gemach. Wer zu jener Zeit in Europa Staatlichkeit und Gesetzlichkeit weder durch die monarchischen Obrigkeiten noch durch ein Nachbuchstabieren der Bibel, sondern allein durch den irdischen Willen Gleichinteressierter und Gleichvernünftiger für rechtfertigungsfähig hielt, unterlag der staatlichen Zensur, denn er illegitimierte den überkommenen Feudalismus und Absolutismen und legitimierte zugleich einen künftigen Demokratismus. Kein Wunder, dass Kant der großen Revolution der Franzosen die Treue hielt, mit einer, wie er ebenfalls 1798 öffentlich machte »Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt«.

Deutsche Rechtsstaatskonzeptionen im 19. Jahrhundert

Von einer solchem Aufklärungsdenken ziemlich entgegengesetzten Bedeutung war die zehn Jahre danach erfolgte Verwendung des Wortes »Rechtsstaat«. Sie findet sich in einem vor hochherrschaftlichen Hörern am 13. Dezember 1808 in Dresden gehaltenen Vortrag, in dem der einer preußischen Beamten- und Pfarrersfamilie entsprossene, Herzogliche Hofrath Adam Müller einen »organischen Rechtsstaat« propagierte, in dessen »Totalität« der gesamte Erbteil der vergangenen Zeiten miterfasst sei, womit er den überkommenen Feudalstaat mystisch verklärte und für konservierungsfähig statt für veränderungsbedürftig erklärte. [3] Hatte Kant seine Rechts-Staats-Lehre als einen Gegenentwurf zur Staats-Realität verstanden, verteidigte der zum Katholizismus konvertierte Müller mit seiner »organischen« Rechtsstaatskonzeption »das schöne Gleichgewicht der Herrschaft und des Gehorsams«, den Adel und das Grundeigentum, sowie die Übereinstimmung der Rechts- mit der Religionsgemeinschaft. In jenen Jahren kam es vor, dass ein antifeudaler Rechts-Staats-Lehrer wegen Majestätsbeleidigung zur öffentlichen Abbitte vor dem Bild des Königs verurteilt wurde, oder – ebenfalls in Bayern – die protestantischen Soldaten durch einen Erlass des Monarchen zum Besuch des katholischen Gottesdienstes samt Kniefall vor dem für Katholiken Allerheiligsten gezwungen wurden.

Weder der Kantische noch der Müllersche Rechtsstaatsbegriff machte im deutschen neunzehnten Jahrhundert Karriere. Kants »Revolution der Denkart« – so seine Selbstcharakterisierung in der Vorrede zur Zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft – war in keine Revolution der Handlungsweise umgeschlagen; aber auch die hochkonservative Rechtsstaatsvariante hielt den Anforderungen einer sich in Deutschland an die Macht schleichenden Bourgeoisie nicht stand. Als erfolgreich erwies sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Rechtsstaatskonzeption eines dritten Weges. Der damalige Liberalismus warb für die »richtige Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Extremen«, zwischen Volkssouveränität und Herrschersouveränität, zwischen Bürgerfreiheit und Staatsabsolutismus, zwischen Demokratie und Aristokratie. [4] Statt einerseits Unterdrückung und andererseits Umwälzung setzten die Liberalen auf Transformation – dieses Wort kommt neuerdings wieder groß heraus! – auf ein Hinüberwachsen des bisherigen Polizeistaates (einschließlich seiner absolutistischen Wohlfahrtsstaatsvariante) in einen Zustand, in dem die Verhältnisse zwischen den Regierenden und den Regierten nicht durch Gewalt, Gewohnheit, Moral und Religion, sondern durch Recht und Gesetz geregelt sind. Anstelle einer willkürlichen sollte eine rechtlich geregelte Herrschaft über die vor dem Gesetz gleichen Bürger treten, sollten Zuständigkeitsregeln zwischen den verschiedenen Staatsorganen normiert werden sowie ein Rückwirkungsverbot im Strafrecht gelten (nulla poena sine lege; keine Strafe ohne Gesetz). Aus einem »Gewaltstaat« wäre dann, so die Annahme der Liberalen, ein »Rechtsstaat« geworden. Kommentar von Marx: »Sie vergessen nur, dass auch das Faustrecht ein Recht ist, und dass das Recht des Stärkeren auch in ihrem ›Rechtsstaat‹ fortlebt«. [5]

Die verloren gegangene Revolution 1848 führte dazu, dass die danach herrschend werdende Auffassung zwar die Selbstbindung des Staates an sein Recht konzeptionell aufrechterhielt, jedoch in »christianisierter« Form: Der Rechtsstaat sei ein »sittliches Gemeinwesen«, dessen Ordnung für alle (!) Lebensverhältnisse eine sittliche Idee zum Prinzip haben müsse; der Untertanengehorsam solle nicht bloß auf einer Rechtspflicht, sondern auch auf Pietät und Treue gegenüber dem Fürsten beruhen; der König sei kein Beamter des Volkes, sondern ein Beamter Gottes über das Volk; die Obrigkeit sei der Wächter »heiliger Ordnungen« und das Recht die »Lebensordnung des Volkes zur Erhaltung von Gottes Weltordnung« – so der Juristenprofessor an Berlins Universität, das Mitglied des preußischen Oberkirchenrates und wortgewaltiger Führer der Hochkonservativen im Herrenhaus von Preußen, Friedrich Julius Stahl, auf den übrigens auch die Formel: »Autorität, nicht Majorität!« zurückgeht. [6]

Um den historischen Nachweis der Nichtexistenz eines einheitlichen Rechtsstaatsbegriffs abzurunden: In den vielen Verfassungstexten im Deutschland des 19. Jahrhunderts taucht das Wort »Rechtsstaat« nicht auf, weder in dieser noch in jener Bedeutung. Wohl aber finden sich, und zwar auf unterschiedliche Weise, rechtsstaatsrelevante Regelungen, die sich aber nicht zu einer in sich geschlossenen Rechtsstaatskonzeption verdichten lassen. Was aber bleibt, ist die Erkenntnis, dass es sich bei diesen rechtsstaatsrelevanten Regelungen in ihrer Gesamtheit um die Rechtsstaatlichkeit in Gestalt einer Gesetzlichkeit des dem schließlich siegreich werdenden Kapitalismus angemessenen Obrigkeitsstaates handelt, der die ökonomischen Macht- und die politischen Gewaltverhältnisse garantierte, aber auch eine halbwegs legale Entwicklung der Arbeiterbewegung sowie das Aufkommen der Frauenbewegung zuließ. Er hatte die nationale Einheit im Ergebnis von Kriegen auf dem Grabe der Freiheit hergestellt. Mit einem Marx-Satz von 1875 handelte sich um einen »mit parlamentarischen Formen verbrämten, mit feudalem Beisatz vermischten und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflussten, bürokratisch gezimmerten, polizeilich gehüteten Militärdespotismus« (MEW 19/29). In ihm gab sich die Herrschaft der Herrschenden als die Herrschaft abstrakter Gesetze aus und handhabte unter dem Anschein der Gewaltlosigkeit das Gewaltmonopol.

Es war die damalige Sozialdemokratie, die das Verhältnis von Klassenherrschaft und Rechtsstaat im Deutschen Reich offenlegte, wie man u. a. bei Bebel, Bernstein, Ehrlich, Kautsky, Liebknecht und Mehring nachlesen kann. [7] Und während des vom Kaiserreich begonnenen Weltkrieges entschleierte Rosa Luxemburg »die bürgerliche Gesellschaft so wie sie ist: geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend; nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt«. [8]

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Gänzlich anders als heutzutage gab es im politischen Alltagsgeschäft der Weimarer Republik oder in Juristen-Diskussionen weder für Rechtsstaats-Konzepte noch für Unrechtsstaats-Bezichtigungen ein sonderliches Bedürfnis. Im sechsbändigen Handwörterbuch der Rechtswissenschaft (Berlin 1926/29) findet sich nicht einmal ein Rechtsstaats-Lemma; ebenfalls nicht im achtbändigen Handwörterbuch der Staatswissenschaft (Jena 1925/28). Während Hermann Heller und Gustav Radbruch wenigstens versucht hatten, rechtsstaatliche Gedanken gegen antidemokratische Tendenzen in Stellung zu bringen, waren sich die beiden auch international bedeutenden, ansonsten eher entgegengesetzt (der eine »links«, der andre »rechts«) denkenden Juristenprofessoren Hans Kelsen und Carl Schmitt in dieser Angelegenheit einig: das Wort Rechtsstaat sei ein Pleonasmus, da jeder Staat, ob feudal oder bürgerlich, ob national oder sozial, ein Rechtsstaat sei. [9]

Die Weimarer Verfassung von 1919 kannte, wie schon ihr Vorgänger von 1871, das Wort »Rechtsstaat« nicht. Durch die Gewährleistung des Privateigentums auch an den Produktionsmitteln (Art. 153) wurde die überkommene Macht/Ohnmacht-Struktur der Gesellschaft als Ganzes garantiert; sie wurde aber auch durch mehr als dem bloßen Anschein nach rechtsstaatliche Regelungen wie: allgemeines Wahlrecht, Gleichheit vor dem Gesetz, individuelle Grundrechte, Unabhängigkeit der Gerichte und Rückwirkungsverbot von Strafrecht gesichert. Nicht die Eigentumsverhältnisse, wohl aber die genannten progressiven Regelungen wurden schließlich durch den von führenden Repräsentanten aus Wirtschaft und Industrie unterstützten Reichspräsidenten auf der Grundlage von Art. 25 und 48 der Verfassung, also legal, ausgehebelt, indem er durch zwei Februar-Verordnungen von 1933 (laut deren Präambel: »zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte«) die meisten der in den Verfassungsartikeln 114 ff. vorgesehenen Bürgerrechte außer Kraft setzte und die polizeiliche Verhängung von »Schutzhaft« beliebiger Personen ohne richterliche Nachprüfung wie ohne zeitliche Beschränkung dekretierte; deren Vollzug wurde später in Konzentrationslagern vorgenommen. Nach illegaler Annullierung der am 5. März gewählten 81 KPD-Mandate beschloss dann am 24. März 1933 der Reichstag mit den Stimmen der NSDAP, der Deutschnationalen Volkspartei, des Zentrums, der Deutschen Staatspartei und der Bayerischen Volkspartei, aber gegen die Stimmen der SPD-Abgeordneten, das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich«, mit dem die Regierung ermächtigt wurde, auch die gesetzgebende, einschließlich der verfassungsändernden Gewalt auszuüben. In seiner Regierungserklärung vom gleichen Tag nannte Hitler als die Machtergreifung legitimierend u.a.: »marxistische Irrlehren …; kommunistisches Chaos …; wirkliche Volksgemeinschaft …; moralische Sanierung an unserem Volkskörper …; die im Christentum liegenden unerschütterlichen Fundamente des sittlichen Lebens …; Blut und Rasse …; weltanschauliche Geschlossenheit …; barbarische Rücksichtslosigkeit gegen Volksverrat …«.

Faschismus ohne/mit Rechtsstaat

Damit war der Weg in die Verbrechen des faschistischen Deutschen Reiches autorisiert, der mit elf Millionen Ermordeten in den KZ- und Vernichtungslagern sowie den 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges endete. Den Verlauf dieses Weges lassen auch viele gesetzliche Bestimmungen erkennbar werden, deren menschenverachtender Inhalt nazi-ideologisch durch die rassistische Phrase: »Recht ist das, was arische Menschen für Recht befinden« verbrämt wurde. Die Gewaltmittel des Staates wurden nicht nur de facto nach Gutdünken gehandhabt, sondern die Willkür wurde auch legalisiert: gemäß § 2 des StGB von 1935 hatten die Gerichte unter Nichtbeachtung des bis dahin geltenden Legalitätsgrundsatzes (nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz) auch diejenigen zu verurteilen, die »nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdienen«. Die von vornherein auf ein inner- und zwischenstaatliches Terrorsystem angelegte Naziherrschaft war mitsamt seiner Mittel und Methoden selbst verbrecherisch.

Doch während, wie erwähnt, das Handwörterbuch der Rechtswissenschaft von 1927, ein Rechtsstaats-Lemma für überflüssig hielt, bietet das 1937 als Ergänzungsband 8 dieses Wörterbuchs unter dem Titel: Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36 erschienene Werk auf den Seiten 567-577 ein von Staatssekretär Roland Freisler, dem späteren Präsidenten des »Volksgerichtshofes«, stammendes Rechtsstaats-Lemma. Darin heißt es unter anderem: »Rechtsstaat ist die organisierte Lebensform des Volkes zur Sicherung des Rechtes des Volkes auf Leben nach innen und außen. Der nationalsozialistische Staat erhebt den Rechtsstaat von einer formalen zu einer materiellen Idee. Dieser materielle Rechtsstaat bedarf keiner formalen Freiheitsgarantie; denn er besitzt die viel stärkere materielle Freiheitsgarantie der Einheit der totalen Grundanschauung«. Bei diesem Rechtsstaatbegriff flössen Staatsidee und Rechtsidee aus derselben »völkischen« Quelle; er begnüge sich nicht mit einem formalen, er wolle ein materielles Ziel, das der »materiellen Gerechtigkeit«, die im Dritten Reich unverbrüchlich gelten und über die »Shylockgerechtigkeit« siegen werde.

Die Reduktion des faschistischen Rechtsstaatsbegriffs auf eine ideelle »Grundanschauung« samt Bagatellisierung aller formellen Rechtsstaatsmomente wirft das weit über die Naziverbrechen und deren rechtsstaatliche Fassade hinausreichende Problem auf, ob die Rechtsgebundenheit des Staates zu dessen Struktur- oder zu dessen Substanzprinzipien gehöre, also in einem formellen oder auch in einem inhaltlichen Sinne zu verstehen sei, und welche Konsequenzen ein materiales Rechtsstaatsverständnis mit seiner Rückbindung des Rechts an diese oder jene Gerechtigkeitsvorstellungen hat. Darauf wird zurückzukommen sein.

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Auch das von einem Parlamentarischen Rat in Bonn beratene und mehrheitlich (gegen die Stimmen der beiden KPD-Mitglieder) beschlossene und nach seiner Genehmigung durch die Alliierten Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen sowie seiner Annahme durch die Landesparlamente (mit Ausnahme Bayerns) am 23. Mai 1949 verkündete, seitdem durch mehr als fünfzig Änderungsgesetze modifizierte und ergänzte sowie schließlich seit dem 3. Oktober 1990 für ganz Deutschland geltende Grundgesetz nennt das Wort »Rechtsstaat« nicht. [10] Wohl aber werden in drei Grundgesetz-Artikeln »rechtsstaatliche Grundsätze« mit verpflichtender Wirkung erwähnt: Art. 16 verbietet die Auslieferung eines Deutschen an das Ausland, es sei denn, dass durch ein Gesetz eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einen internationalen Gerichtshof getroffen worden ist, »soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind«; Art. 23 gebietet die Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europäischen Union, die (u.a.) »rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet ist«; und laut Art. 28 muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern den »Grundsätzen des sozialen Rechtsstaates entsprechen«.

Diskrepanz zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit

Nirgends aber wird im Grundgesetz mitgeteilt, worin diese rechtsstaatlichen Grundsätze bestehen. Das für die Interpretation des Grundgesetzes – im konkreten Fall sogar mit verpflichtender Wirkung – zuständige Bundesverfassungsgericht wie auch die »zuständigen« Rechtswissenschaftler sehen das Rechtsstaatsprinzip vor allem im GG-Art. 20 III verankert. Er lautet: »Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden«. Die damit angeordnete Bindung der Legislative an die Staatsverfassung und der Exekutive wie der Judikative an die Gesetze gehört spätestens seit Hobbes, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant als geronnene Erfahrung vieler Jahrhunderte zu den gesicherten Erkenntnissen, an denen kein Fortschritts- und kein Freiheitsweg vorbeiführt. Die in den GG-Artikeln 16, 23 und 28 erwähnten und im GG-Art. 20 III in verbindliches Recht umgeformten rechtsstaatlichen Grundsätze sind also wesentlich älter als die Rechtsstaatsvokabel der deutschen Sprache. Die sich aus der Weiterentwicklung von Rechtsforderungen zu Rechtsnormen ergebende Verpflichtung der legislativen, exekutiven und judikativen Staatsgewalt, sich rechtsstaatlich zu verhalten, gehört zum harten Kern des Grundgesetzes, denn eine Einschränkung oder gar Aufhebung des Rechtsstaatsprinzips ist gemäß GG-Art. 79 III auch bei einem darauf zielenden einstimmigen Votum aller Bundestags-Abgeordneten unzulässig, wäre also illegal. Gleiches gälte nach eben diesem GG-Artikel 79 für eine Einschränkung oder gar Aufhebung der im GG-Art. 1 genannten, die Würde des Menschen, die Menschenrechte und die Grundrechte betreffenden Grundsätze. Diese Unaufhebbarkeits-Gemeinsamkeit von Menschenrechts- und Rechtsstaatsgrundsätzen hat dazu beigetragen, sie auch inhaltlich zu vermischen, was nicht ihrer je eigenen Klarheit gedient hat.

In seinen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht das Rechtsstaatsprinzip als »Leitidee« (BVerfGE 2/403), als »Verfassungsgrundsatz« (35/47), als »elementares Prinzip« (20/331), als »fundamentalen Grundsatz« (22/426) bezeichnet. Das ist umso zutreffender, als durch die sogenannte Rechtswege-Garantie der GG-Art. 19 und 34 einem jeden, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten, auch in seinen Bürgerrechten, verletzt wird, der Rechtsweg offen steht. Allerdings: da das Recht auf Arbeit zwar von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Art. 23 ihrer »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948 und im Art. 6 des von ihr ausgehenden »Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« von 1966 (dessen Mitglied die BRD seit 1973 ist) zu den Menschen- und Bürgerrechten gezählt wird, aber in der Bundesrepublik Deutschland keinen Gesetzesrang hat, ist es auch nicht einklagbar. Die Diskrepanz zwischen der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit ist eines der die Bundesrepublik als kapitalistisch ausweisenden Grundübel ihrer Rechtsordnung.

Das Rechtsstaatsprinzip ist also ein Strukturprinzip, kein Substanzprinzip der bundesrepublikanischen Staats- und Rechtsordnung. Es garantiert die Rechtssicherheit und besagt nichts über die Rechtsrichtigkeit. Um einem Fehlverständnis vorzubeugen: Das Rechtsstaatsprinzip ändert nichts an der fundamentalen Gegebenheit, dass Gesetz und Recht – wie auch die Verfassung selbst! – das Produkt von Interessenkämpfen, in weiten Bereichen von Klassenkämpfen ist, bei denen sich die Träger gesellschaftlicher Macht durchzusetzen pflegen. Die Macht- und Gewalthaber sind, wenn schon nicht die Rechthaber, so doch die Rechtbehalter. Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung von Interessengegensätzen, besonders von Interessenantagonismen, vermittelt Unaufgeklärten die Illusion, dass die bürgerliche Gesellschaft eine Gemeinschaft sei, deren Recht auf einem entpolitisierten oder zumindest entpolitisierungsfähigen Konsens beruhe. Dem Anschein nach herrschen im Staat als einer Rechtsgemeinschaft wie in der vielberufenen Staatengemeinschaft nicht Menschen über Menschen, sondern das Recht herrscht über die Menschen und die Staaten. Als ob nicht »rule of law« zunächst einmal »rule by law« ist! (Um etwas Historisches einzuflechten: In der Verfassung Massachusetts von 1780 heißt es im Artikel 30: die rechtsstaatlichen Regelungen verfolgen das Ziel, dass in dieser Gesellschaft [wohlgemerkt einer bürgerlichen Gesellschaft samt Sklaverei!] Gesetze herrschen und nicht Menschen – »a government of laws and not of men«.) Indem das Rechtsstaatsprinzip die Herrschaft mit Hilfe des Rechts als Herrschaft des Rechts suggeriert (womit allzu leicht »Gerechtigkeit« assoziiert wird), begünstigt es die Selbsttäuschung, dass das Recht interessenlose Ideen, von Begierden ungetrübte Vernunft enthalte.

Recht und/oder Gerechtigkeit

Begründet aber das Vorhandensein derartiger Illusionen und angesichts der Ungleichheit der Menschen unter dem Gesetz ein Verwerfen der jeder Rechtsstaatlichkeit immanenten Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz? Auch wenn ein rechtsstaatlich verfasster Staat keine Alternative zum Machtstaat ist (und indem er vorgibt so etwas zu sein, entmythologisiert zu werden verdient), so ist er doch diejenige Teilklasse der Machtstaaten, die jedenfalls bessere Chancen für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft bietet als Staaten, denen rechtsstaatliche Grundsätze fremd sind. Auch wenn sich infolge des privatisierten Eigentums an Produktions-, Distributions- sowie an den Manipulierungsmitteln der Medien die strukturellen Gewalten in der bundesrepublikanischen Gegenwartsgesellschaft rechtsstaatlich unangefochten zu behaupten vermögen, ist das noch lange kein Grund, die Verfassungsgebundenheit des Parlaments sowie die Gesetzesgebundenheit von Regierung und Gericht zu verwerfen. Der Freiraum für eine Rechtsentwicklung von Unten würde geringer werden, wenn das Grundgesetz nicht mehr für die Legislative, die Exekutive und die Judikative verbindlich wäre oder die in ihren Rechten verletzten Bürger nicht mehr der Rechtsweg auch für ihren Anspruch auf Schadensersatz offenstünde. Oder wenn das Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen nicht mehr als ein absolutes Recht gelten würde. Rechtsstaatlichkeit hebt gewiss den Klassencharakter des Rechts nicht auf, aber sie macht es leichter, ihn offenzulegen und gegen seinen konkreten Gehalt zu opponieren.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Rechtsstaatsprinzip zumindest die Nähe zur Idee der Gerechtigkeit bescheinigt (BVerfGE 20/331; 37/65; 52/144; 70/308), woraus der zeitweilige Bundesinnenminister und langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts (CDU) schlussfolgerte, dass »Rechtsstaatlichkeit auch Gerechtigkeit bedeutet«, zumal sich aus dem Demokratieprinzip die Aufgabe und Befugnis der Volksvertretung ergebe, »auf die Frage nach der Gerechtigkeit die unter den sich wechselnden Verhältnissen jeweils angemessene Antwort zu suchen«. [11] Als ob Parlamentarier für Gerechtigkeitsideen Interessen mobilisieren, und nicht für Interessen sich Gerechtigkeitsmäntelchen einfallen ließen. Es ist der Rechtsstaat sogar schon unvermittelt als ein Staat definiert worden, in dem Recht und Gerechtigkeit herrschen, und noch reduzierter ist er schlicht als »Gerechtigkeitsstaat« definiert worden. [12] Wenn aber das Rechtsstaatsprinzip statt als Struktur- zumindest auch als Substanzprinzip ausgegeben und seinem formalen ein materialer Gehalt hinzuerfunden wird, dann droht aus Rechtstheorie Rechtsideologie zu werden – Ideologie im Marxschen Sinne als falsches Bewusstsein. Ein »materiales« Rechtsstaatsverständnis kann zum Einfallstor nahezu beliebiger Wertvorstellungen werden; vor allem aber dient es dazu, deren herrschende Versionen als Unterordnungsverstärker zu nutzen. Mit der dadurch verbindlich gemachten Rückbindung des positiven Rechts an überpositives Recht ist er dazu angetan, die verfassungsgesetzliche Limitierung der Regierungs- und Gerichtsgewalt ebenso wie die verfassungsgesetzliche Rechtsstellung des Bürgers – und damit die Kerngedanken des Rechtsstaatsbegriffs – zu untergraben. Die Rückführung aller staatlichen Hoheitsakte auf Diesseitsgesetze (und nicht auf ein Jenseitsnaturrecht) gehört zu den fundamentalen Forderungen der europäischen Aufklärung. Wenn gewesene »Bürgerrechtler« sich darüber mokieren, dass sie Gerechtigkeit gewollt, nun aber bloß einen Rechtsstaat bekommen haben, könnten Sie ihre Enttäuschungen dadurch kleinarbeiten, dass sie diese als Produkt eigener Täuschungen begreifen lernen. Wertvorstellungen, von wem auch immer und wie lange schon gehegt und erst recht, wenn sie zu einer »objektiven Wertordnung« (BVerfGE 39/67) verdichtet werden, eignet nicht die Würde philosophischer Rationalität und juristischer Verbindlichkeit. Autorität kraft göttlicher Gnade oder erschauter Werte steht außerhalb von Verfassungslegalität.

4

Während das »Kommuniqué über die Bildung des Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien« in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands vom 14. Juli 1945 als dritte von fünf Hauptaufgaben die »Herstellung voller Rechtssicherheit auf der Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates« nennt, [13] findet sich weder in den 1946/47 angenommenen Länderverfassungen von Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg und Brandenburg noch in den DDR-Verfassungen von 1949 und 1968/74 das Wort »Rechtsstaat«. In dem im Staatsverlag der DDR 1988 publizierten umfangreichen Rechts-Lexikon findet sich kein den Rechtsstaat behandelndes Stichwort.

Diese Nichterwähnung von »Rechtsstaat« ist konzeptionell bedingt. Der bolschewistische Rechtstheoretiker Jewgeni B. Paschukanis (1891-1937) nannte in seinem international anerkannten Meisterwerk Allgemeine Rechtslehre und Marxismus von 1924 den Rechtsstaat eine der Bourgeoisie bequeme »Fata Morgana«. [14] Bei Karl Polak (1905-1963), der entgegen Arthur Baumgarten, Max Fechner und Karl Schultes die in der DDR herrschende Meinung bildete und repräsentierte, hieß es in einem ursprünglich 1946 im Juli-Heft der Einheit publizierten Artikel: Da man mit dem Rechtsstaatsbegriff den politischen Gegner leicht diffamieren könne, indem man dessen Politik zu einer rechtsbrecherischen und das Ergebnis zu Unrecht stempele, sei er zwar in der politischen Propaganda gefährlich, da er aber von jeder historischen Formation für sich in Anspruch genommen werden könne – es gebe einen antiken, einen feudalen, einen bürgerlichen, einen sozialistischen, auch einen nationalsozialistischen Rechtsstaat – sei er »vollkommen inhaltsleer und halte keiner wissenschaftlichen Analyse stand«. [15]

DDR-Rechtsordnung war nicht demokratisch-sozialistisch genug

Auch wenn im Verlauf der Entwicklung, etwa auf dem VI. und VII. Parteitag der SED 1963 und 1967 und dann noch einmal auf dem 6. Plenum des ZK der SED 1988 parteioffiziell von der DDR als von einem »sozialistischen Rechtsstaat« gesprochen wurde, [16] unterblieb die Ausarbeitung einer angemessenen sozialistischen Rechtsstaatstheorie und die Verwirklichung einer ihr gemäßen Rechtspraxis. Lediglich das bis dahin Erreichte oder den antifaschistischen Grundgehalt der neuen Ordnung, die Aufhebung von Ausbeutungsverhältnissen und die praktizierte Friedenspolitik als sozialistische Rechtsstaatlichkeit zu bezeichnen, ohne grundsätzliche Veränderungen zu wollen und durchzusetzen, hieße den Terminus nur als Verschönerungsvokabel zu missbrauchen. Diese Veränderungen hätten sich vor allem abgrenzen müssen von der herrschend gewordenen Auffassung, dass das Recht immer nur Mittel der Macht, nie aber auch deren Maß sein könne. Den Klassencharakter auch eines sozialistischen Rechts festzustellen, widerspricht jedoch nicht der Einsicht, dass dieses Recht infolge seines Normativcharakters eine relative Eigenständigkeit aufweisen muss, denn ohne subjektive Rechte gibt es kein objektives Recht. Ohne eine relative Selbstständigkeit des Rechts und der Gerichtsbarkeit ist keine Rechtsstaatlichkeit zu haben, weder eine normativ begrenzte Regierungsgewalt noch eine durch Rechtsnormen gesicherte Freiheit von Bürgern. Von einem marxistischen Standpunkt aus gesehen ist es so theoretisch falsch wie praktisch kontraproduktiv, die sozialistische Gesetzlichkeit lediglich als Befolgung von Obrigkeitsanordnungen durch die Bürger zu verstehen, statt sie auch und zunächst als Anspruch der die Staatsgewalt erst konstituierenden Bürger auf lediglich gesetzlich geregelte Eingriffsmöglichkeiten von Staatsorganen in ihre Freiheitssphäre zu begreifen. Wenn die von der Verfassung festgeschriebene Führungsrolle der Partei in gesetzlich geregelte Beziehungen verändernd eingreift, ist sie Ausdruck einer extralegalen, also illegalen Dominanz. Am Negativbeispiel: bis 1964 gab es über die durch DDR-Gerichte zu verhängenden Todesstrafen Politbürobeschlüsse (die teils zugunsten, teils aber auch zuungunsten des zu verurteilenden Täters ausfielen). [17]

Das Ende der DDR war gewiss nicht durch deren Rechtsordnung verursacht. Auch wenn (im Unterschied zum Grundgesetz der BRD) die Verfassung der DDR den Test einer Volksabstimmung bestanden hatte, und in weiten Bereichen hier die Rechtssicherheit – die Lebenssicherheit sowieso – größer war als die in kapitalistischen Staaten zu erlebende, ist doch nicht zu übersehen, dass es begünstigende Bedingungen für den Untergang des frühsozialistischen Gesellschaftssystems in der Rechtsordnung der DDR gegeben hat. Dazu gehört die Unterbewertung der subjektiven, erforderlichenfalls auch gerichtlich durchsetzbaren Rechte des Bürgers im Staats- und Verwaltungsrecht ebenso wie das in Theorie und Praxis betriebene Ungleichgewicht zwischen den sozialen Bürgerrechten einerseits und den politischen Bürgerrechten andererseits. Die immer wieder praktizierte Reduktion der sozialistischen Demokratie auf eine Einbeziehung der Bevölkerung in die bereits andernorts getroffenen Führungsentscheidungen der exekutiven Partei- und Staatsorgane (obwohl doch Demokratie nichts anderes sein kann als die Identität von Regierenden und Regierten) hat ganz gewiss dazu beigetragen, dass sich viele Bürger zunehmend nicht mehr mit dem Staat zu identifizieren vermochten. Für Nachdenkende dürfte klar sein: Nicht weil die Rechtsordnung der DDR nicht bürgerlich-kapitalistisch war, sondern weil sie nicht demokratisch-sozialistisch genug war, ist sie mitverantwortlich für das Scheitern des ersten Versuchs auf deutschem Boden, eine zum Realkapitalismus alternative Gesellschaftsordnung zu entwickeln.

Nicht unsere Ehre!

Mit diesen – in jeder, auch persönlicher, Hinsicht – selbstkritischen Bemerkungen soll nicht etwa den Primitivismen derer zugearbeitet werden, die, wenn von der DDR die Rede ist, die Unrechtsstaatskeule schwingen. Die, alphabetisch geordnet: Gauck, Herzog, Jahn, Knabe und Merkel, e tutti quanti, verwenden dabei eine erstmals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von einem Wegbereiter des politischen Katholizismus verwendete Diffamierungsvokabel, die sich nicht einmal in heutigen Wörterbüchern der Politik findet, von Rechtslexika ganz zu schweigen. Aber: nicht weil die DDR zu wenig demokratisch, sondern weil sie zu viel sozialistisch war, wird ihr von den Siegern im Kalten Krieg die Ehre abzuschneiden versucht. Doch die Ehre derer, die sich als Nutznießer des Kapitalismus dessen Endgültigkeit verschrieben haben und ihn deshalb als alternativlos ausgeben – sie ist nicht unsre Ehre!

Um auch das noch zu sagen: Die Repressalien der heute Herrschenden legitimieren nicht das Versagen ihrer Vorgänger; es fällt sogar schwerer, die sich in der heutigen Rechtsordnung widerspiegelnden Antagonismen zwischen Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht, Krieg und Frieden zu erkennen, wenn man die Ursachen und begünstigenden Bedingungen für das Scheitern der DDR nicht zur Kenntnis nimmt, etwa aus Angst, für jemand gehalten zu werden, der die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr als Struktur- und Entwicklungsform eines sich brutalisierenden Realkapitalismus zu erkennen wagt, weil er sich bereits zu ihrem Mitspieler gemausert hatte.

5

Die normative Verankerung der im Grundgesetz mehrfach erwähnten »rechtsstaatlichen Grundsätze« durch die vom GG-Art. 20 vorgeschriebene Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht, sollte nicht als Behauptung verstanden werden, dass die BRD ein Rechtsstaat ist. Sondern: dass sie es sein soll. Es handelt sich nicht um den Wahrheitsanspruch einer soziologischen Erkenntnis, sondern um die rechtsverbindliche Aufforderung an die Organe des Staates, sich rechtsstaatlich zu verhalten. Es ist der permanente Widerspruch von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, die Differenz von Sein und Sollen, von Aussage und Norm, die hier zum Tragen kommen und deren Übersehen zu Fehlurteilen und zu Fehlhandlungen führt.

Verteidigung und Kritik

Es sind zwei voneinander unterscheidbare Ebenen, auf denen sich Sozialisten und Kommunisten auf die Rechtsstaatsprinzipien einzustellen haben:

  1. Wie die Erfahrung zeigt, sind die sich aus diesen Prinzipien ergebenden normativen Anforderungen durch die Realpolitik der Macht- und Gewalthaber verletzungsgefährdet; sie bedürfen ihrer Verteidigung. Man denke an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1956, mit dem auf Antrag der Bundesregierung die von den Nazis am tödlichsten verfolgte Partei, die KPD, aufgelöst und enteignet wurde; an die darauf folgenden knapp 140.000 Ermittlungsverfahren mit etwa 7.000 Verurteilungen, an die Berufsverbotspraxis; an die (ungeachtet des durch GG-Art. 103 geltenden Rückwirkungsverbots im Strafrecht) nach 1990 erfolgten Verurteilungen von zweihundert DDR-Juristen durch eine BRD-Justiz, die zuvor nicht einen einzigen Richter der Nazi-Justiz mit ihren 50.000 Todesurteilen rechtskräftig verurteilt hatte; an die Beteiligung der Bundesrepublik, wenn auch nur als Vasall eines anderen Staates, an den zumindest illegal begonnenen, als Ganzes: völkerrechtswidrigen Kriegen, die gegen Jugoslawien (1999), gegen Afghanistan (2001), den Irak (2003) und gegen Libyen (2011) auf dem Grabe von nationaler und internationaler Rechtsstaatlichkeit sowie mit informationeller Totalüberwachung samt Foltermethoden geführt wurden, und an denen sich beteiligt zu haben als zur Staatsräson der BRD gehörig erklärt wird – Staatsräson heißt aber ein Handeln des Staates ohne Rücksicht auf Moral und Recht! Hier ist ein Dauereinsatz für die Rechtsstaatsprinzipien erforderlich, nicht vordergründig im juristischen, wohl aber im Fortschrittsinteresse der Menschheit. [18]
  2. Die Umformung der rechtsstaatlichen Grundsätze in Rechtsnormen trägt als Bestandteil einer insgesamt kapitalistischen Rechtsordnung zur Aufrechterhaltung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen bei. Da, wie Ernst Bloch es ausdrückte [19], »trotz der relativen Rechtssicherheit in prosperity ein Rechtsstaat für arm und reich zugleich doch ein Verkleidungsstück […] ist, dazu tauglich, dem interessierten Formalismus auch noch den Anschein einer besonderen Objektivität zu verleihen, den der Unparteiischkeit und ihrer Gerechtigkeit«, bleibt Kritik an ihm unausweichlich. Auch deshalb, weil die für die ökonomisch Ungleichen juristisch gleiche Rechtssicherheit dazu beiträgt, dass die durch die strukturellen Machtverhältnisse tatsächlich Unterdrückten sich nicht für Unterdrückte, sondern für vor allem Aufstiegsberechtigte halten und mit fast logischer Zwangsgewalt zu einer opportunistischen Bereitschaft für eine Anpassung an die jeweils kleineren Übel verführt, die von den Herrschenden nur zu gern den anderen auferlegt werden und die dann häufig in deren Mittäterschaft endet. Die Erkenntnisse von Wolfgang Abendroths Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1967, auch von Helmut Ridders [Alternativ-]Kommentar zum Grundgesetz, Neuwied 1984, weiterführend, ist ungebrochener Widerstand geboten. Freilich: es ist das nicht nur eine Einsichts-, es ist auch eine Charakterfrage.

Im Oktober 2014

 

Anmerkungen:

[1] Die nachträglich aufgezeichnete, auch überarbeitete Fassung des am 6. September 2014 als Gast der Bundeskoordinierungssitzung der KPF gehaltenen Vortrages basiert auf einigen Veröffentlichungen des Autors, von denen genannt seien: »Gesetzgebung und Gesetzlichkeit« [1956], in: Staat und Recht, 39 (1990), S. 372-381; »Von der Pflicht zur Gesetzgebung im Rechtsstaat«, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung, 75 (1992), S. 275-283; »Zur Gerechtigkeit des Rechtsstaates«, in: Berliner Debatte Initial, 4/1996, S. 7-13; »Rechtsstaat versus Machtstaat«, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung, 8 (1997), S. 31-42; »Zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Gerechtigkeit«, in: Zwischen Triumph und Krise, Opladen 1998, S. 393-401; Recht und Unrecht, Bielefeld 2004; Historisierende Rechtsphilosophie, Freiburg 2009; »Legalität / Legitimität«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8, Hamburg 2012, S. 799-839; »Marx/Engels-Anthologie zur Natur des Staates«, in: Marxistische Blätter, 2014, Heft 6.

[2] Kant, Rechtslehre, Berlin 1981, S. 125 ff.; Humboldt, Menschenbildung und Staatsverfassung, Berlin 1994, S. 229.

[3] Adam H. Müller, Die Elemente der Staatskunst [Berlin 1809], Jena 1922, S. 165, 200.

[4] Vgl. Rechtsphilosophie bei Rotteck/Welcker (Texte aus dem Staatslexikon 1834-1847), Freiburg 1994, S. 390-418: »Natürliches Recht und liberaler Rechtsstaat«.

[5] Marx/Engels, Werke, Bd. 42, Berlin 1983, S. 23.

[6] Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. II/2, Heidelberg 1856, S. 137 ff.

[7] Vgl. Detlef Joseph (ed.), Rechtsstaat und Klassenjustiz, Freiburg/Berlin 1996: Texte aus der sozialdemokratischen Neuen Zeit 1883-1914.

[8] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 53.

[9] Vgl. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, Tübingen 1929; Radbruch, Rechtsphilosophie [1932], Heidelber2003, S. 169-174; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 91; Schmitt, Legalität und Legitimität, München 1932, S. 19.

[10] Vgl. Fischer/Künzel (ed.) Verfassungen deutscher Länder und Staaten [von 1816 bis 1974], Berlin 1989; Horst Dreier / Fabian Wittreck (ed.), Grundgesetz [der BRD mit sämtlichen Änderungen und anderen Texten zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht], Tübingen 2012.

[11] Ernst Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1994, S. 720-728.

[12] Horst Tilch (ed.), Deutsches Rechtslexikon, Bd. 3, München 2001, S. 3498 f.; Creifelds Rechtswörterbuch, München 2002, S. 1112.

[13] Abgedruckt in: Geschichte des Staates und des Rechts der DDR (Dokumente 1945-1949), Berlin 1984, S. 58.

[14] Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus [1924/1929], Freiburg 1991, S. 153.

[15] Polak, »Rechtsstaat und Demokratie, in: Max Fechner (ed.), Beiträge zur Demokratisierung der Justiz, Berlin 1948, S. 76-80; Polak, Reden und Aufsätze, Berlin 1968, S. 141-144.

[16] Vgl. die Details und Analysen bei Uwe-Jens Heuer / Gerhard Riege, Der Rechtsstaat – ein Legende?, Baden-Baden 1992, S. 82-99; U.-J. Heuer (ed.), Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995, S. 611-622.

[17] Vgl. Volkmar Schöneburg, Rechtspolitik und Menschenwürde, Potsdam 2014, S. 201-204 (von den in der DDR zwischen 1949-1981 verhängten 231 Todesurteilen, davon 94 gegen Nazi-Verbrecher, sind 160 vollstreckt worden).

[18] Vgl. H. Klenner, »Terrorismusverdacht und Bürgerrechte«, in: Mitteilungen der KPF, 1- 2008, S. 1-17; auch in: Ellen Brombacher (ed.), Klartexte, Berlin 2009, S. 284-308.

[19] Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde [1961], Frankfurt 1985, S. 158.

 

Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:

2014-06: Juristisches zum Krim-Konflikt

2013-10: Mandela zu Ehren

2013-07: Karl Marx – Ein Ochsenkopf von Ideen