Gründlich bis ins Detail: Die Beseitigung jüdischer Namen auf Berlins Straßenschildern [1]
Horsta Krum, Berlin
»Soweit dies noch nicht geschehen ist, sind sämtliche nach Juden … und jüdischen Mischlingen I. Grades benannten Straßen oder Straßenteile unverzüglich umzubenennen.
Bestehen Zweifel darüber, ob jemand als Jude oder jüdischer Mischling I. Grades anzusehen ist, so ist die Reichsstelle für Sippenforschung, Berlin, NW, Schiffbauerdamm 26, um entsprechende Auskunft zu ersuchen.
Die Straßenschilder mit jüdischen Namen dürfen nicht, wie dies sonst bei Straßenumbenennungen üblich ist, noch längere Zeit neben den neuen belassen werden; sie sind gleichzeitig mit der Anbringung der neuen zu entfernen.
Über die vollzogene Umbenennung ist mir bis spätestens 1.10.1938 zu berichten … An alle Pol.- und Gemeindebehörden …«
So verfügte das Reichs- und Preußische Ministerium des Innern in einem Runderlass vom 27. Juli 1938.
Erste Umbenennungen
Doch dem Berliner Oberbürgermeister Julius Lippert konnte es anscheinend nicht schnell genug gehen. Bevor er sein Amt antrat, hatte er sich bereits durch Entlassungen und Enteignungen jüdischer Mitbürger hervorgetan, als es die entsprechenden Gesetze noch gar nicht gab. So wurden auf seine Anordnung Berliner Straßenschilder mit jüdischen Namensträgern abmontiert: beispielsweise die der Komponisten Mahler, Offenbach, Mendelssohn und Meyerbeer, des Malers Max Liebermann, des Dichters Heinrich Heine, des heute wenig bekannten Schriftstellers Bertold Auerbach. Die Straßenschilder, die diese Namen trugen, wurden fast alle am 16. Mai 1938 entfernt, also mehr als zwei Monate, bevor das Ministerium des Innern den entsprechenden Erlass herausgegeben hatte.
Doch nicht nur das Andenken an Künstler sollte ausgelöscht werden: Lippert wollte auch die Erinnerung an andere, weniger bekannte Juden auslöschen, beispielsweise an den Politiker und Juristen Karl Rudolf Friedenthal, der in preußischen Diensten gestanden hatte, unter anderem als Minister.
Andere Namen wurden noch früher entfernt: bereits im Oktober 1933 etwa Ferdinand Lassalle, der einst mit Karl Marx in theoretischem Konflikt gelegen hatte; die bekannten und erfolgreichen Verleger Rudolf Mosse im Juli 1934 und Leopold Ullstein im Mai 1935.
Die ersten Straßenumbenennungen, solche vor 1938, erachteten die Nazis offensichtlich als besonders dringend, weil jemand wie Lassalle sozialistisches Gedankengut verbreitet hatte. Wenn es vor 1933 eine Karl-Marx-Straße gegeben hätte, so wäre dieser Name ganz sicherlich noch vor Lassalle weggefallen! Übrigens erhielt die Karl-Marx-Straße im Westberliner Bezirk Neukölln ihren Namen 1947.
Den Ullstein-Verlag führten die Söhne weiter, bis sie 1934 enteignet wurden. Die Nazis nutzten den Verlag für sich und nannten ihn »Deutscher Verlag«. Das hieß in der damaligen Sprache: sie »arisierten« ihn. So war die baldige Umbenennung der Ullsteinstraße durchaus konsequent.
Den Mosse-Verlag gab es nicht mehr, aber die Familie besaß eine Sammlung kostbarer Gemälde. Ob die Nazis in der frühzeitigen Tilgung des Namens eine Möglichkeit sahen, sich den Kunstbesitz dieser Familie frühzeitig anzueignen? Früher, als das offizielle Gesetz den Kunstraub weitgehend freigab?
Ein konsequenter zeitlicher Ablauf bei der Umbenennung ist nicht immer erkennbar, aber eine Tendenz zeichnet sich ab: Die Namen der Juden (und auch Nicht-Juden), die mit der Waffe des Wortes umgegangen waren, verschwanden als erste, wohl eine Nachwirkung der Bücherverbrennung im Mai 1933. Später folgten Musiker, und dann Persönlichkeiten, die nur Fachleuten bekannt waren, wie der Jurist Julius Lazarus und Wissenschaftler, wie beispielsweise die Mediziner Julius Paul Morgenroth und Emmanuel Mendel. Die ihnen gewidmeten Straßen wurden im September 1938 umbenannt.
Dem Fabrikanten Salomon Haberland verdankt Berlin mehrere freundliche Wohnviertel. Dass in »seinem« Bayerischen Viertel (Schöneberg) noch zu seinen Lebzeiten eine Straße nach ihm benannt wurde, war eine besondere Auszeichnung, die die Nazis im September 1938 rückgängig machten.
Nicht nur Juden ...
Auch manche nicht-jüdische Namen entfernten die Nazis. Es ist erstaunlich und kann nur als Affront angesehen werden, dass der Bezirk Neukölln noch am 30. Januar 1933, am Tage der Machtübertragung, ein Schild mit dem Namen »Dietzgenweg« anbrachte. Josef Dietzgen hatte Karl Marx nahegestanden und in Deutschland und den USA für die Arbeiterbewegung gekämpft. Übrigens erwähnt Marx ihn im »Kapital«. So ist es nur folgerichtig, dass die Nazis bald seinen Namen tilgten, nämlich im August 1935, auch wenn sich das Straßenschild nicht im dicht bewohnten Teil des Bezirks befand, sondern abseits im dörflichen Buckow.
Nicht in Charlottenburg und Reinickendorf, wohl aber in Steglitz, verschwand der Name des plattdeutschen Schriftstellers Fritz Reuter im Juli 1934 aus dem Straßenbild. Seine Bücher waren und sind weit über Mecklenburg hinaus beliebt. Welche Gründe hatten die Nazis? War es die Tatsache, dass Fritz Reuter als Student wegen Hochverrats sieben Jahre im Gefängnis gewesen war? Den Militarismus kritisch beschrieben hatte? Die Neuköllner Moses-Löwenthal-Straße (umbenannt im Oktober1933) mag einen zusätzlichen Hinweis geben: Moses Löwenthal ist eine Figur aus Reuters Roman »Paster Behrens«. Lebendes Vorbild dieser Figur war Moses Isaak Salomon, den Reuter in seiner Heimatstadt Stavenhagen kennengelernt hatte.
Sogar der Name Heinrich von Kleist wurde bereits im Juni 1933 in Steglitz gelöscht, während die Kleiststraße in Zehlendorf bestehen blieb. Die Schöneberger Kleiststraße meint einen preußischen General.
Und gar Lessing! Wie Goethe, ein häufiger Straßenname. Einige Bezirke beließen ihn (Hellersdorf, Mitte), andere nicht. In Lichtenberg und Zehlendorf beispielsweise wagten es die Nazis, seinen Namen zu ersetzen. War es »Nathan der Weise« und dessen lebendes Vorbild, der aufklärerische Philosoph Moses Mendelssohn, der gegen die Benachteiligung der Juden gestritten hatte?
In Schöneberg störte der »Nathanaelplatz«, der noch bis März 1939 existierte. Dieser biblische Name mag den Nazis wohl zu jüdisch geklungen haben. Die Nathanael-Kirche behielt ihren Namen.
Auch an missliebige Politiker der Vergangenheit, etwa Paul Singer, Mitglied des Reichstages, oder Gustav Stresemann, der für die Weimarer Republik steht, sollte kein Straßenschild erinnern. So verschwanden diese Namen längst vor 1938.
Die Nazis entfernten auch manche Schilder, die keine Person bezeichneten, beispielsweise in Spandau den »Russenweg« (November 1935) und die »Jüdenstraße« (September 1938), die ihren Namen vor 1400 erhalten hatte.
Ersatz-Namen
Die Straßenschilder, die den Umbenennungen folgten, waren im Allgemeinen wenig aussagekräftig, vermutlich, weil der Reichsminister des Innern im April 1934 eine »bescheidene Zurückhaltung« forderte. So wurde aus der Offenbachstraße der Pfalzgrafenweg, andere umbenannte Straßen trugen nun geographische Bezeichnungen wie Homburger Straße für Mossestraße oder Egsdorfer Weg in Tempelhof für Meyerbeerstraße. Mahler wurde durch nicht-jüdische Komponisten ersetzt, in Charlottenburg durch Reger, in Hellersdorf durch Telemann; der Maler Liebermann durch Martin Schongauer. Der nicht-jüdische Wissenschaftler Dünkelberg stand nun für den jüdischen Wissenschaftler Morgenroth. Reuters Romanfigur Moses Löwenthal wurde durch eine andere, nicht-jüdische Figur aus demselben Roman ausgetauscht.
Besonders diskret, fast unmerklich, ging die Umbenennung der »Auerbachstraße« in Charlottenburg vor sich. Der Jude Bertold Auerbach war einer der meistgelesenen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Sein Name wurde am 16. Mai 1938 ersetzt durch »Auerbacher Straße«, der Stadt Auerbach im Vogtland. In Tempelhof erfolgte die Umbenennung am selben Tag, war aber weniger diskret: aus der Auerbachstraße und dem Auerbachweg wurden Ekensunder Straße bzw. Ekensunder Weg.
Nach 1945
Viele Umbenennungen bestehen bis heute; einige Straßen erhielten ihre ehemaligen Namen zurück, beispielsweise Lassalle, Mendel, Dernburg, Ullstein; auch die »Haberlandstraße« gibt es wieder, wenn auch verkürzt. Die Mossestraße wurde »Rudolf-Mosse-Straße«. Der Dietzgenweg in Buckow behielt seinen bescheidenen Namen Glimmerweg; aber im Bezirk Pankow gibt es seit 1951 die lange und breite Dietzgenstraße.
Darüber hinaus ...
Viele andere Namen, jüdische oder nicht, wären noch zu nennen. Da gibt es das sog. Fliegerviertel in Tempelhof, angelegt in Form eines Rutenbündels. [2] Am 22. April 1918 war der wohl beliebteste Jagdflieger Manfred von Richthofen beigesetzt worden. Am selben Tag des Jahres 1936 erhielten viele Straßen gleichzeitig die Namen anderer Flieger, die meisten aus dem ersten Weltkrieg. Der Name »Udet« wurde sogar noch 1957 (!) hinzugefügt. Alle diese Straßenbenennungen sind bis heute geblieben. [3]
Aufzuzeigen wäre auch, wie ab 1933 im Straßenbild immer mehr Orte aus Elsass/Lothringen und Polen auftauchten. Oft sind es Orte, die der Versailler Vertrag 1919 Frankreich und Polen zugeschrieben hatte; wobei die deutsche Form der Namen suggerierte, dass diese Orte zu Deutschland gehören müssten – was der Krieg dann verwirklichen sollte.
Es ist deutlich geworden, dass die Straßenumbenennungen systematisch geplant und durchgeführt wurden. Spontanes Handeln bildete die Ausnahme, wie im Falle Wilhelm Gustloff. Der war im Februar 1936 von einem Juden in der Schweiz erschossen worden. Am Tage seiner Beisetzung in Schwerin erhielten in Berlin eine Straße und ein Platz, die beide dem jüdischen Juristen und Politiker Heinrich Dernburg gewidmet waren, den Namen Gustloffs.
Jede Straße hat ihre Geschichte! Und manche dieser Geschichten sind lang und wechselhaft. Sie konnten auf dem hier zur Verfügung stehenden Platz nur beispielhaft angedeutet werden. Deshalb ist diese Untersuchung bruchstückhaft. Eine Gesamtuntersuchung, die es für Berlin (noch) nicht gibt, wäre ein notwendiger Beitrag zur Faschismus-Forschung. [4]
Auch die Frage, wie die einzelnen Bezirke in Ost und West nach 1945 mit diesen Umbenennungen umgingen, ist noch nicht bearbeitet. Und eine Untersuchung der Umbenennungen nach 1989 steht ebenfalls aus – es gibt noch viel Arbeit!
Anmerkungen:
[1] Die folgende Untersuchung fußt auf den Straßenverzeichnissen, die die einzelnen Berliner Bezirke zwischen 1993 und 2003 durch den Luisenstädtischen Bildungsverein veröffentlichen ließen. Für jede Straße ist auch die jeweilige Umbenennung angegeben, allerdings mit unterschiedlicher Sorgfalt. So erwähnt nur der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf regelmäßig, wenn der Namensträger jüdischer Herkunft war.
[2] Das Rutenbündel (latein: fascis) war ein politisches Symbol der Römerzeit. Mussolini übernahm es als Symbol des italienischen Faschismus (fascismo).
[3] Straßenschilder in anderen Städten tragen diesen Namen ebenfalls, und auch die Luftwaffe der Bundeswehr setzt diese Tradition fort – ein anderes, aber dringendes Thema. Ein Versuch, die Namen im Fliegerviertel zu ersetzen, scheiterte.
[4] Die Stadt Hamburg hat zur Geschichte der Straßen mit jüdischen Namensträgern bereits mehr geleistet.
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