Grenzregime heute
Dr. Artur Pech, Schöneiche
Die Medien überschlagen sich mit Meldungen zur »Flüchtlingskrise«. Es gehen unterschiedlichste Vorschläge um, wie die Bundesrepublik Deutschland oder die EU der damit verbundenen Probleme Herr werden sollen. Bei allen Nuancen zwischen den Parteien der Regierungskoalition von CSU, CDU, SPD sind sie sich doch in der zentralen Frage einig: Die Verschärfung des Grenzregimes soll es richten.
So wünscht sich Herr Oppermann, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, eine Verringerung der Flüchtlingszahlen durch die Sicherung der Außengrenzen und die Verbesserung der Lage der Flüchtlinge außerhalb der EU. Der Bundesverkehrsminister von der CSU ist da schon einen Schritt weiter und will sich auch innerhalb der EU auf Grenzschließungen vorbereiten.
Wie dem auch sei: Es geht beiden um die (möglichst kurzfristige) Beherrschung, nicht um die Lösung des Problems. Abgehobener Politiker-Sprech vernebelt, was ein solcher Versuch der Beherrschung des Problems konkret bedeuten würde.
Im ZDF-Morgenmagazin gab es dagegen Klartext: »Die deutsche Grenze, etwa die zu Österreich, müsste ohne Vorwarnung geschlossen werden, um eine Torschlusspanik zu verhindern. Österreich und Slowenien würden nachziehen. Es käme zu einem Rückstau. Binnen kürzester Zeit säßen zehntausende Flüchtlinge auf der Balkanroute fest. Bei Temperaturen unter Null Grad. Europas Gewissen würde auf eine harte Probe gestellt.«
Wie die scheinbar freundlichere Lösung an den Außengrenzen aussieht, machte Günter Grass 2011 deutlich:
»Es ist dringend nötig, dass sich in Europa Bürgerinnen und Bürger zusammentun, um auf einen ungeheuerlichen Skandal aufmerksam zu machen: das tausendfache, von unseren Behörden und Regierungen weitgehend vertuschte, Massensterben an den Außengrenzen der Europäischen Union. Mit dem Abbau von Mauer und Stacheldraht im Innern hat sich die ›Festung Europa‹ gegenüber ihren Nachbarregionen nur umso mehr abgeschottet. Die Wachtürme, die einst das Bild am ›Eisernen Vorhang‹ prägten, sind nicht verschwunden, sondern nur um einige hundert Kilometer versetzt worden.«
Sowohl für die Außen- als auch für die sogenannten Binnengrenzen gilt, was Prof. Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück im genannten Beitrag des ZDF ausführte:
»Wenn es um eine Überwachung einer Grenze geht, dann muss letztlich der Grenzschutz auch überlegen, wie weit er gehen möchte, um die Grenze auch zu schützen, das heißt also: Geht es darum, die Grenze auch konkret zu verteidigen, geht es um den Einsatz von Waffen?« (ZDF-Morgenmagazin, 19. Januar 2016, Das passiert, wenn Grenzen dicht sind ..., Bericht Andrea Maurer)
Breitester Zustimmung erfreut sich die Forderung, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Aber was sind diese Ursachen? Sollen das tatsächlich die miesen Zustände in Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien sein? Da stellt sich doch die Frage, warum Menschen in solche Lager flüchten?
Es entsteht manchmal schon der Eindruck, dass der Verweis auf zweifellos vorhandene Rand- und Folgeprobleme von den Ursachen ablenkt.
Mitte Januar 2016 wird viel von »Wirtschaftsflüchtlingen« aus Algerien und Marokko berichtet, die das deutsche Asylsystem belasten und Kriminalität ins Land bringen. Der Wirtschaftsminister Siegmar Gabriel droht diesen Staaten dann schon mal mit dem Entzug von Entwicklungshilfe, wenn sie diese Menschen nicht zurücknehmen. Aber: 2015 kamen rund 1 Million Menschen nach Deutschland, davon nur rund 5.000 aus Algerien und Marokko.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge meldet für Dezember 2015 48.277 Erst- und Folgeanträge auf Asyl, davon 25.250 aus Syrien, 4.875 aus Irak, 4.204 aus Afghanistan.
Damit stammen rund drei Viertel der Asylanträge im Dezember von Menschen aus Ländern, denen von westlichen Demokratien ein »Regime-Change« mit Feuer und Schwert verordnet wurde. Allein aus dem Irak kamen im Dezember 2015 fast so viele wie aus Algerien und Marokko zusammen im ganzen Jahr.
Wer tatsächlich Fluchtursachen bekämpfen will, der muss das politische Grundmuster überwinden, das in den letzten Jahren exzessiv praktiziert wurde: Eigene Interessen auch mit Gewalt durchsetzen und zugleich ein Grenzregime entwickeln, das die Konsequenzen dieser Politik von der eigenen Schwelle fernhalten soll.
Schon während der Debatte im Bundestag über brennende Flüchtlingsunterkünfte im Jahre 1991 führte Gregor Gysi aus:
»Es erschüttert mich tief, dass die ganze Diskussion auf einer falschen Schiene stattfindet. Sie ist nicht nur deshalb so falsch, weil sie Ausländerfeindlichkeit schürt; das ist schon ein großes Problem. Aber das andere große Problem ist – und das finde ich wirklich gefährlich –, dass sie Illusionen weckt. Sie führen hier eine Debatte, als ob Sie über Grundgesetzregelungen, über Visabestimmungen das Elend der Dritten Welt von dieser Welt fernhalten können.« Und weiter: »Machen Sie sich doch bitte einmal folgenden Gedanken: Was passiert denn an dem Tage, an dem an unseren Grenzen 500.000 oder 600.000 Menschen stehen? Sagen Sie schon hier und heute, was Sie dann zu tun gedenken! Mit Visabestimmungen werden Sie dieses Problem dann mit Sicherheit nicht lösen.«
Nun kam 2015 eine Million Menschen nach Deutschland. Und die Art der heutigen Diskussion erinnert fatal an 1991.
Auch an den sogenannten Binnengrenzen berühren sich noch immer verschiedene Rechtssysteme. Die Aufhebung der trennenden Wirkung von Grenzen zwischen den EU-Staaten kann daher nur über die Angleichung von innerstaatlichen Regelungen auf vielen Gebieten erfolgen und schließt auch die Übertragung von souveränen Rechten der Staaten auf ihre gemeinsamen Institutionen ein.
Vollständig aufgehoben werden können auch diese trennenden Wirkungen erst mit der vollständigen Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an gemeinsame Institutionen, d.h. mit der Beendigung eigenstaatlicher Existenz innerhalb der EU.
Unabhängig von einer solchen Perspektive vollzieht sich mit der Reduzierung der trennenden Wirkungen der Binnengrenzen die Übertragung solcher Wirkungen auf die Außengrenzen: So ist ein einheitlicher Standard der Grenzkontrollen an den Außengrenzen tatsächlich eine Voraussetzung für den Wegfall von Grenzkontrollen zwischen den EU-Staaten.
Egal wie das von den einzelnen Akteuren gesehen werden mag: Die Forderung nach Abschaffung der Grenzen ist in ihrer Substanz die Forderung nach einer Abschaffung des Staates und damit auf Sicht nicht realistisch.
Tatsächlich vollziehen sich derartige Prozesse eben nicht als eine gegenseitige Annäherung unter Gleichen. Tatsächlich bleiben die Interessen der Schwächeren unberücksichtigt, wenn ihnen die Kraft und/oder der Mut fehlt sie zu verteidigen, wenn sie Illusionen über die Konsequenzen ihres Tuns haben.
Das seit 1985 konstituierte Grenzregime der EU hat für die Bundesrepublik Deutschland viele Vorteile. Seit dem Beitritt Polens und Tschechiens zum Schengen-Raum ist die BRD zu Lande nur von EU-Binnengrenzen umgeben. Die deutschen Grenzkontrollen reduzierten sich auf die Flug- und Seehäfen.
Zugleich wurde ein striktes Regime für die Sicherung und Kontrolle der Außengrenzen festgeschrieben. Asylanträge dürfen nach der Dublin-Regel nur in dem Land gestellt werden, das Flüchtlinge nach der Überschreitung der Außengrenze als erstes erreichen. Das ist eine für die Bundesrepublik Deutschland sehr komfortable Regelung. CDU-Bundestagsabgeordnete machen daran ihre Forderung fest, aus Deutschland in diese Länder abzuschieben – denn nach der Bundesrepublik Deutschland sind die betreffenden Personen ja aus »sicheren Drittstaaten« eingereist.
Auch die Akzeptanz für die Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten der EU ist in dieser Frage selbst begrenzt.
Am 6. Oktober 2015 erschien in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein Interview mit Giannis Mouzalas, Minister für Migrationspolitik in der Griechischen Regierung Tsipras. Auf die Frage nach dem Umgang Griechenlands mit Flüchtlingen stellte er klar: »Eine erste Identifizierung findet also auf den Inseln statt, und danach werden die Menschen in die Aufnahmelager auf dem Festland gebracht, wo das Verfahren abgeschlossen wird. Manche verlassen das Land allerdings vorher illegal, aber wir können die Menschen nicht von Soldaten bewachen lassen. Wir werden unser Land nicht in ein Konzentrationslager verwandeln. Wir haben nicht vor, die Leute einzusperren.«
Am 16. Januar 2016 fand sich in der gleichen Zeitung – gewissermaßen als Echo auf diese Position – die Forderung, nun müsse »die heikle Frage« beantwortet werden, »ob die EU Grenzschützer auf dem Gebiet von Mitgliedstaaten einsetzen soll, auch wenn diese das nicht wollen. Im Fokus ist damit wieder ein alter Problemkandidat der Euro-Krise: Griechenland.«
Es geht also um die Durchsetzung des Grenzregimes, es geht um die Beherrschung der Probleme.
Demgegenüber ist klarzustellen. Fluchtursachen bekämpfen heißt, die Mitwirkung an Kriegen zu beenden, vor deren Auswirkungen die Menschen fliehen, heißt zu begreifen, dass die oft beschworenen westlichen Werte, wie immer wer zu ihnen steht, kein Exportartikel sind, die mit Soldaten oder Waffen über die Welt gebracht werden sollten. Auch das »moderne« Grenzregime vermag es nicht mehr, die Urheber dieser Politik vor ihren Folgen zu schützen. Es produziert viele Opfer und vermag dennoch allenfalls, die Flüchtlingsströme zwischen den Kanarischen Inseln und dem griechischen Evros zu verschieben.
Die EU ist in ihrer aktuellen Krise Opfer ihrer eigenen Politik.
Mehr von Artur Pech in den »Mitteilungen«:
2011-01: Kriegsverhinderung verlangt klare Begriffe
2010-07: Kämpfer der Internationalen Brigaden in Spanien bleiben unvergessen
2009-12: Alles Stasi – oder was?