Gift des Hasses
Ellen Brombacher, Berlin
Eindrücke anlässlich des antisemitisch motivierten Anschlags in Halle
Der faschistische Mörder von Halle sieht sich in einem »Rassenkrieg«, mit dem Ziel, möglichst viele »Antiweiße« zu ermorden. Juden seien dabei »bevorzugt«. Da es ihm nicht gelang, in der Synagoge ein Massaker anzurichten, schoss er auf eine Straßenpassantin und in einen Dönerladen. Der Hass auf Minderheiten hat stets ein übergeordnetes Prinzip: Menschenfeindlichkeit. Synagoge oder Dönerladen – für Faschisten ein zu vernachlässigender Unterschied.
Menschenfeindlichkeit ist kein Alleinstellungsmerkmal der Neonazis. Sie charakterisiert das Profitsystem, in dem der Ellenbogen immer mehr und die Empathie immer weniger zählt. Und hier liegt – so bitter das ist – das Bindeglied zwischen dem mörderischen Verbrechen und dem dumpfen Alltagsrassismus, von dem so viele befallen sind. Letzterer kommt nicht von alleine, sondern ist das Resultat einer permanenten Massenmanipulation. Thilo Sarrazin oder Björn Höcke, Alexander Gauland oder Hans-Georg Maaßen, Alice Weidel oder Friedrich Merz und nicht nur sie huldigen offen oder verbrämt dem völkischen Prinzip. Und die Medien liefern ihnen die Podien. Die Manipulation ist kein Selbstzweck. Mit dem sich erweiternden Weltwirtschaftskrieg und dessen verheerenden Folgen, mit jedem gefährdeten Arbeitsplatz, mit jedem zusätzlichen Arbeitslosen, mit der steten Erweiterung des Niedriglohnsektors, mit den explodierenden Mieten – mit all diesen zunehmend zur Normalität werdenden Auswüchsen des Kapitalismus wächst die Notwendigkeit für das Kapital, Sündenböcke zur Hand zu haben. Kurz, Horst Seehofer und Boris Johnson, Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński und wie sie alle heißen liefern diese. Das Gift des Hasses frisst sich in alle Poren der Gesellschaft. Die nachfolgenden Zeilen habe ich einen Tag vor dem Anschlag von Halle geschrieben.
Es gibt Tage, da möchte man verzweifeln. Es begann mit dem ZDF-»Morgenmagazin« vom 7. Oktober. Zwei SPD-Mitglieder aus dem Ruhrgebiet – der Vater, Ingenieur, zweiundsiebzigjährig, und der Sohn, Chemiker – wurden vom ZDF-Reporter im Anschluss an eine der SPD-Regionalkonferenzen gefragt, warum sich ihre Partei in einem so schlimmen Zustand befinde. Die Antwort: Das bewirke deren Flüchtlingspolitik. Überall fehle es an Geld für notwendige Dinge. Für die Flüchtlinge aber sei es da. Das könnten die Menschen nicht verstehen. Offenkundig ist das so – sehr viele Menschen akzeptieren das Erklärungsmuster, die Flüchtlinge seien schuld an jeglicher Misere. Von SPD-Genossen erwartet man das nicht unbedingt. Doch auch für die beiden ist nicht die Agenda 2010 schuld. Es sind nicht die enormen, der Militarisierung geopferten Summen. Es war nicht der völkerrechtswidrige Krieg gegen Jugoslawien, in dem ein SPD-Bundeskanzler erstmalig nach 1945 deutsche Soldaten wieder töten ließ. Es ist nicht die irrsinnige, zuvörderst der deutschen Wirtschaft schadende Russland-Politik der großen Koalition oder deren unverbrüchliche Verbundenheit zum US-Imperialismus. Nicht diese und weitere Todsünden brachten die SPD an den Abgrund: Es ist die Flüchtlingspolitik. Und das, obwohl kaum noch welche hier ankommen.
Am selben Tag ging ich zum Rehasport und hörte mir – meine erste Übung auf dem Rad absolvierend – fünfzehn Minuten lang das Gespräch zwischen zwei Frauen an. Alsbald waren sie bei den Flüchtlingen. Die bekämen alles und würden das auch verlangen. Und alle wollten nach Deutschland. Besonders die Schwarzen; und was im Görlitzer Park laufe, wisse ja jeder. Aber wenn man das sage, sei man gleich ein Nazi. Nun würden bald wieder so viele kommen wie 2015. Und die Herkommenden kriegten dann in Deutschland viele Kinder. In fünfzig Jahren würde hier der Islam herrschen, wenn es so weitergehe. Klar: Man könne die nicht ersaufen lassen. Aber zurückbringen müsse man sie: nach Libyen, in die Türkei oder wo die sonst noch herkämen.
Nicht die Profiteure werden an den Pranger gestellt ...
Nachdem ich mein Pensum bewältigt hatte, stieg ich vom Rad und ging zu den beiden. »Entschuldigen Sie«, sprach ich sie freundlich an, »ich habe ihr Gespräch unfreiwillig mitgehört und möchte Sie etwas fragen. Warum spielt es für Sie keine Rolle, dass viele Menschen vor den Kriegen fliehen, die vor allem der Westen, darunter wir, in den Herkunftsländern der Flüchtenden führt und mit Waffenlieferungen befeuert?« »Die fliehen nicht vor dem Krieg«, wurde mir entgegengehalten. »Und warum«, so meine Frage, »riskieren die Menschen ihr Leben und das ihrer Kinder?« Die Antwort: »Weil sie zu uns nach Deutschland wollen.« In Afrika sei kein Krieg, und gerade die Schwarzen kämen, sagte eine. Sie sei in Afrika gewesen. Ich verzichtete darauf, Kriege in Afrika aufzuzählen und darauf hinzuweisen, dass die EU mit subventionierten Waren die afrikanischen Kleinbauern ins Elend konkurriert. Zu ungehalten die Gesichter meiner Gesprächspartnerinnen. »In Afrika verhungern sie nur«, sagte ich. »Ja – aber die können nicht alle zu uns nach Deutschland kommen.« Ich flüchtete zum nächsten Gerät.
Danach wurde nur noch getuschelt, wenn ich in der Nähe war. Was ich hörte und wohl auch hören sollte, war: »Man wird ja wohl noch seine Meinung sagen können.« Das galt für mich eher nicht. Auch diese Frauen wollten nicht belehrt werden, was sie zu sagen und zu denken haben. Dabei hatte ich nur eine Frage gestellt.
Ein Extrem? Nein – der Alltag! So auch die Phrase, wir könnten ja nicht alle aufnehmen. Niemand bei vollem Verstand wird annehmen, »alle« würden kommen. Aber – mit dieser Feststellung kann sich jede und jeder total aus der Verantwortung stehlen. Wir verantworten Kriege mit. Kann sein – aber wir können nicht alle aufnehmen. Wir beuten die ärmsten Länder aus. Ja, aber wir können nicht … Menschen verhungern, aber Bürgerkriege werden durch unsere Waffenlieferungen angeheizt. Möglich, aber … Nicht die werden an den Pranger gestellt, die vom Elend in der Welt profitieren, sondern diejenigen, deren Leid am größten ist. Das sich dahinter auch verbergende Maß an fehlender Empathie schmerzt. Und dennoch kann man Menschen, denen die gesellschaftlichen Verhältnisse das Gefühl verkümmern ließen, nicht einfach abschreiben. Nicht abschreiben heißt nicht, sich ihnen anzupassen. Es heißt für Linke, eine Politik zu verfechten, die geleitet ist von den Interessen der lohnabhängigen und prekär lebenden Menschen, und zugleich darüber aufzuklären, dass das Profitsystem Kriege, Umweltzerstörung und soziale Verelendung verursacht. Der Liberalismus gibt keine brauchbaren Antworten. Wir müssen diese Wahrheiten aussprechen, müssen antikapitalistisch denken und agieren – und uns kümmern um den Alltag der Menschen, gleich welcher Nationalität und Hautfarbe. Wir dürfen nicht hinter dem zurückbleiben, was Hans-Jürgen Urban formulierte, der auf dem IG-Metall-Gewerkschaftstag die meisten Stimmen erhielt: »Wir leben heute in einem globalen Kapitalismus, der die Welt in Menschen mit und ohne Lebenschancen spaltet.« Dieser wachse, indem er die Natur zerstöre. »Die Überwindung dieses Modells ist zur Überlebensfrage der Menschheit geworden.«
Erstveröffentlichung: junge Welt, 14. Oktober 2019, Seite 3 / Schwerpunkt Faschistischer Terror
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