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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Geschichtsdebatte jenseits von Vorurteilen

Kurt Julius Goldstein (3. November 1914 – 24. September 2007)

 

Liebe Genossinnen und Genossen, nach den grauenhaften Erfahrungen der Nazizeit gehörte ich zu denen, die eine neue, nicht vom Streben nach Profit regierte Gesellschaft wollten. Es war selbstverständlich, daß viele aus meiner Generation in der DDR eine neue Heimat fanden und ihre Kraft in sie investierten - solche, die gegen Hitler gekämpft hatten und solche, die von den Faschisten verführt worden waren. Gemeinsam arbeiteten wir an einer antifaschistischen Ordnung, in der die sozialökonomischen Ursachen für die mörderischste Form der Kapitalherrschaft beseitigt wurden. Diese Investition bedaure ich nicht. All das, was wir beim Versuch, Sozialismus auf deutschem Boden zu errichten, falsch machten, und auch, was wir uns zuschulden kommen ließen, muß Gegenstand unserer Analyse bleiben. Gründe, sich von vierzigjähriger nichtkapitalistischer Entwicklung auf deutschem Boden zu distanzieren, werden sich für zigtausende Mitglieder der Linkspartei.PDS und für ungezählte frühere Bürger der DDR nicht daraus ergeben. Die DDR gibt es seit knapp siebzehn Jahren nicht mehr. Die Sowjetunion, ohne die es für uns keinen antifaschistischen Neubeginn gegeben hätte und ohne die ich nicht mehr lebte, existiert nicht mehr. Machen die historischen Verdienste der Sowjetunion die Repressionen unter Stalin ungeschehen? Wie könnte das sein? Ich erinnere mich an das Entsetzen, mit dem ich vom bittren Schicksal meiner Frau Kenntnis nahm. Margots Vater war im Hotel Lux 1937 verhaftet und 1939 ermordet worden. Ihre Mutter mußte 1940 mit ihr und dem Bruder nach Deutschland zurückkehren. Margot war zwölf Jahre und kam in ein Umerziehungslager der Nazis. So etwas dürfen gerade Sozialisten und Kommunisten nicht vergessen. Diese moralische Verpflichtung steht nicht im Widerspruch zur Anerkennung der Tatsache, daß die Welt besser aussah, als der Kapitalismus in Europa mit einer wenn auch in vieler Hinsicht sehr unzulänglichen gesellschaftlichen Alternative konfrontiert war. Und noch etwas: Nicht weniger als an unverzeihliche Praktiken und an schlimme, von uns begangene Dummheiten erinnere ich mich daran, mit welchem Haß wir vom Westen bekämpft wurden.

So viel, liebe Genossinnen und Genossen, im Telegrammstil zu den Grunderfahrungen meines Lebens. Ich bin weder bereit, so zu tun, als sei der gewesene Sozialismus in der Sowjetunion oder in der DDR ein makelloses Unterfangen gewesen, noch bin ich bereit, antikommunistische Vorurteile zu bedienen. Diese Vorurteile bestimmen die veröffentlichte Meinung und werden auch von manchen Linken kolportiert. Die Geschichtsdebatte in unserer Partei sollte jenseits dieser Vorurteile erfolgen. Wenn das nicht endlich gemeinsamer Wille in unserer Partei wird, werden wir im Alltag noch mehr Mitglieder verlieren und bei Wahlen noch mehr Stimmen.

Ich will die Frage zuspitzen: Warum sind die Auffassungen eines Herrn Momper, der bei der Einweihung des Steins in Friedrichsfelde betonte, die Inschrift des Steins umfasse alle Opfer, manchen in der Linkspartei.PDS näher als die Positionen von Friedrich Wolff, Heinrich Fink, Andrej Reder und ungezählten anderen? Da läuft etwas schief. Ich plädiere für eine offene Diskussion über unser Geschichtsverständnis an der Basis der Partei. […]

Auf dem Berliner Landesparteitag am 11. März 2007 vorgetragen (s. Mitteilungen 4/2007)

Dieses und weitere Dokumente (von Prof. M. Benjamin, E. Brombacher, D. Dahn, K. Goldstein, Prof. E. Hahn, J. Herold, Prof. U.-J. Heuer, G. Karau, Prof. H. Karl, Prof. H. Klenner, E. Krenz, Prof. A. Latzo, Prof. R. Lötzsch, S. Lorenz, Prof. M. Mebel, Prof. K. Pätzold, Dr. A. Reder, W. Ruge, S. Villegas, S. Wagenknecht, Dr. F. Wolff, W. Wüste) sind auch in dem von der KPF zusammengestellten Dokumentationsband »Klartexte. Beiträge zur Geschichtsdebatte« (400 Seiten, 9,90 Euro) enthalten. Er kann bezogen werden per E-Mail (kpf@die-linke.de) oder über: Kommunistische Plattform, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin.