Gertrud Kolmar
Wir erinnern
Als Tochter eines Rechtsanwalts wurde Gertrud Kolmar, die eigentlich Gertrud Käthe Chodziesner hieß, am 10. Dezember 1894 in Berlin geboren. Sie absolvierte ein Sprachlehrerinnen-Examen, war als Dolmetscherin tätig und wandte sich der Erziehung taubstummer Kinder zu. Immer entschiedener kehrte sie sich von den Auffassungen und Lebensregeln des Bürgertums ab, aus dem sie stammte. Der Faschismus schließlich trieb sie, die Jüdin, in unerträgliche Vereinsamung, der sie ihr dichterisches Wort entgegensetzte. Ihr letzter Brief stammt vom 21. Februar 1943. Am 27. Februar, im Verlauf einer Aktion gegen jüdische Zwangsarbeiter [1], wurde sie nach Auschwitz deportiert. Das Datum ihres Todes ist nicht bekannt. Eins der Gedichte aus dem Zyklus "Das Wort der Stummen" hat sie in der Zeit von August bis Oktober 1933 in Verzweiflung und Empörung niedergeschrieben.
Der Mißhandelte (15. Oktober 1933)
In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht.
Ich stehe an der Wand und schlafen darf ich nicht;
Denn alle zehn Minuten kommt ein Wärter, mich zu schaun.
Ich wache an der Wand. Sein Hemd ist braun.
Die andern kehren wieder, unterhalten sich
Mit meinem Schrein und Stöhnen, lachen über mich.
Sie recken mir die Arme gewaltsam, nennen's Sport.
Ich breche in die Knie … und endlich gehen sie fort.
Ich seh nicht Bäume, Sonne - ob es die wirklich gibt?
Ob wo ein armes Kind noch seinen Vater liebt?
Kein Zeichen mehr, kein Brief - und ich habe doch eine Frau! -
Sie sagten: "Du bist rot; wir schlagen dich braun nd blau."
Sie peitschten mit stählernen Ruten und mein Rumpf war bloß …
O Gott! O Gott! Nein. Nein. Ich bin ja glaubenslos,
Ich habe nicht gebetet im Felde, im Lazarett,
Nur abends als kleiner Junge, und die Mutter saß am Bett.
Die Erde ist Kerkergruft, der Himmel ein blaues Loch.
Hörst du, ich leugne dich! Mein Gott … ach, hilf mir doch!
Du bist nicht: wenn du wärst, erbarmtest du dich mein.
Jesus litt für uns alle; ich leide für mich allein.
Ich steh und sinke ein bei Wasser und wenig Brot
Stunden und aber Stunden. Wie gut, wie gut ist der Tod!
Hingelegt … und verschlossen in tiefem, dunklem Schacht.
Keine grelle Lampe. Nur Schlaf. Nur Stille. Nacht ...
Quelle: Gertrud Kolmar, Frühe Gedichte (1917-22), Wort der Stummen (1933), Kösel-Verlag München 1980, S. 220f, ISBN 3-46610075-5.
Siehe auch: Gertrud Kolmar, Das lyrische Werk, 3 Bde.: Frühe Gedichte; Gedichte 1927-1937; Anhang und Kommentar (Hrsg. v. Regina Nörtemann), Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
Anmerkung:
[1] Siehe Mitteilungen 2/2013, Rücktitel. Gertrud Kolmar war die Cousine von Georg und Walter Benjamin.