Gern gesehen – weil unterbezahlt
Michaela Böhm, aus VER.DI PUBLIK
Leiharbeit hat ganz wesentlich zum Aufschwung beigetragen, sagt die mittelständische Wirtschaft. Bloß nicht daran rütteln. Leiharbeiter sehen das anders. Sie stehen unter Druck. Der ist so groß, daß sie ihren richtigen Namen nicht nennen wollen. Aus Angst, auch diesen Job zu verlieren.
Nehmen wir an, ein Handelskonzern sucht für die Region Süddeutschland Leiharbeiter: ein Dutzend für die Verwaltung, 50 Fachkräfte, 300 Helfer. Der Handelskonzern startet eine Auktion übers Internet. Elf Millionen Euro – wer bietet weniger? Die erste Leiharbeitsfirma gibt ihr Angebot ab, die nächste zieht nach, die dritte folgt. Niemand weiß, welcher Konkurrent mitsteigert. Und welchen Preis er bietet. Auf dem Bildschirm tauchen nur Rangfolgen auf. Die Leiharbeitsfirma mit dem niedrigsten Angebot bekommt den Zuschlag. Internetauktionen für Leiharbeiter sind im Trend. Große Verleiher bieten im Schnitt jeden dritten Tag mit. "Wenn der Preis allerdings so absackt, daß wir unsere Beschäftigten nicht mehr nach Tarifvertrag bezahlen könnten, steigen wir aus", sagt der Manager eines großen Verleihers. So gut wie alle großen Verleiher beteiligen sich an Internet-Auktionen. Allerdings ungern, sagt Adecco-Geschäftsführer Uwe Beyer. Doch so lange sich die großen Verleiher nicht darauf einigen könnten, Internet-Auktionen zu meiden, macht auch Adecco mit. Längst ist es nicht mehr Sache von Personalabteilungen, Leiharbeiter zu beschaffen. Das erledigt der zentrale Einkauf. Der ist zuständig dafür, preisgünstig Computer zu besorgen, Toilettenpapier und eben auch Leiharbeiter.
Männlich, zuvor arbeitslos, qualifiziert
Ob er im Paket ersteigert worden ist, weiß Uwe Horn, 47, nicht. Er ist seit fünf Jahren Leiharbeiter. Notgedrungen. Der gelernte Stahlbauschlosser hatte in einem Maschinenbaubetrieb gearbeitet, bis seine Abteilung dicht gemacht worden war. Die Liebe verschlägt ihn nach Hessen. Doch wo er sich auch bewirbt, es hagelt nur Absagen. "In meinem Alter bleibt eben nur die Zeitarbeit." Mal arbeitet er zwei Wochen im gleichen Betrieb, mal vier, mal drei Monate, mal ein Jahr. Wird abgezogen, wieder neu ausgeliehen.
Uwe Horn ist einer von inzwischen 650.000 und typisch für die Branche: männlich, zuvor arbeitslos, qualifiziert. Drei Viertel aller Leiharbeiter haben einen Beruf gelernt, vier Prozent sind Akademiker. Uwe Horn ist gern gesehen, der Schlosser kann fast alles. Das heißt aber nicht, daß seine Qualifikation auch honoriert wird. Jeder dritte Leiharbeiter wird als Helfer eingesetzt und auch so bezahlt. Das geht so: Leider brauchen wir keinen Schlosser, sagt die Leiharbeitsfirma. Der Kunde verlangt eine Hilfskraft. Und so landet Horn in der untersten Stufe des Leiharbeitertarifs. Kaum im Betrieb, soll Uwe Horn die Maschinen warten, eine klassische Facharbeitertätigkeit. Dafür steht ihm ein Zuschlag ab der sechsten Woche zu. Theoretisch. Wenn es nicht hieße: Wartung, das ist doch ein Helferjob.
Inzwischen hat Uwe Horn die Hoffnung aufgegeben, irgendwann fest übernommen zu werden. Seit drei Jahren arbeitet er in der Weiterverarbeitung, zunächst bei Axel Springer in Darmstadt, seit dem Zusammenschluß mit Bertelsmann und Gruner und Jahr bei Prinovis, dem europäischen Marktführer im Tiefdruck. Geschätzter Umsatz: eine Milliarde Euro. "Die Großen", sagt Horn, "stellen doch nicht mehr ein." Die nutzen Leiharbeit aber am stärksten. Fast 40 Prozent der Betriebe mit über 500 Beschäftigten greifen auf Leiharbeit zu. Auffallend oft sind darunter Unternehmen, in denen Tarifverträge mit hohen Löhnen und Gehältern gelten, stellte Tatjana Fuchs vom Internationalen Institut für empirische Sozialökonomie in einer Untersuchung fest.
Bei Prinovis transportiert Horn Papierrollen mit dem Gabelstapler, druckt Etiketten oder macht Anlegearbeiten. Für 7,38 Euro pro Stunde. Mit Schicht- und Wochenendzuschlägen schafft er es auf rund 1000 Euro netto. Zum Vergleich: Staplerfahrer, die nach dem Tarif der Druckindustrie bezahlt werden, bekommen 14,02 Euro pro Stunde. Uwe Horn ist verbittert. Weil er für die gleiche Arbeit nur die Hälfte bekommt. Weil er mit einem Vollzeitjob nicht über die Runden kommt. Weil er sich alles verkneifen muß: Essen gehen, Weihnachtsgeschenke kaufen, Urlaub, ein gebrauchtes Auto. Von der privaten Altersvorsorge gar nicht zu reden. Leiharbeit ist unser Puffer, sagen Unternehmen. Wenn die Sekretärin plötzlich krank wird oder der Maschinenführer in Kur geht. Leiharbeit hilft, um neue Mitarbeiter zu rekrutieren und Auftragsspitzen zu bewältigen, sagen die Leiharbeitsfirmen. Damit läßt sich jedoch nicht erklären, daß bei BMW in Leipzig fast jeder Dritte ausgeliehen ist. Und die Universitätsklinik Frankfurt am Main eine eigene Leiharbeitsfirma mit fast 900 Krankenschwestern, Pflegern, Verwaltungs- und Reinigungskräften, Arzthelferinnen und medizinischen Assistentinnen gegründet hat. Alles kurzfristige Engpässe? […]
Nur jeder Zehnte schafft den Sprung
Die Chancen von Leiharbeitern, eine feste Stelle zu ergattern, sind gering. Nur jeder Zehnte schafft den Sprung in ein festes Arbeitsverhältnis. Dr. Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Universität Jena, spricht von einer Drei-Klassen-Arbeitsgesellschaft: Oben die Menschen mit fester Stelle, mitten drin diejenigen mit den unsicheren Jobs, ganz unten die Langzeitarbeitslosen. Die Drei-Klassen-Arbeitsgesellschaft soll disziplinieren: "Wer nicht in Hartz IV landen will, soll sich gefälligst anstrengen und weniger Ansprüche stellen." Die gleiche Wirkung erzeugten Leiharbeiter unfreiwillig auf die Stammbelegschaft. Fest Beschäftigte erleben, daß jemand dasselbe leistet wie sie, hoch motiviert arbeitet und Arbeitsbedingungen in Kauf nimmt, die für die Stammbelegschaft inakzeptabel wären.
Leiharbeit dringt in immer mehr Berufsgruppen ein: Schweißer und Schlosser, Journalisten und Ingenieure, Programmierer und Lokomotivführer sind betroffen. Nach einer Umfrage von ver.di greift am stärksten die Druckindustrie zu Leiharbeit, aber auch Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen sind mit von der Partie, wenn es gilt, mit qualifizierten Billigkräften Tarifverträge zu umgehen. Etwa mit Ärzten.
Die junge Ärztin, 27, ist glücklich. Sie hat ihre erste Assistentenstelle. 48 Wochenstunden stehen im Vertrag. Assistenzärzte müssen ohnehin viel arbeiten, denkt sie und unterschreibt. Tatsächlich sind es meist zwischen 60 und 70 Stunden. Freizeitausgleich oder die in Krankenhäusern üblichen Zuschläge erhält sie nicht, auch keine Zahlungen in die Zusatzversorgungskasse, kein Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Mit ihrem Gehalt ist alles abgegolten. Marie Berger ist Leihärztin und arbeitet in einem privaten Krankenhaus. Was zählt, ist, möglichst viele Patienten aufzunehmen und sie möglichst schnell wieder zu entlassen. "Das ist Ausbeutung", sagt ein Oberarzt. Hier würden junge Kollegen regelrecht verschlissen.
In vielen Betrieben gibt es Regelungen, um Leiharbeit einzudämmen. Beispielsweise über Quoten. Damit der Einsatz von Leiharbeit nicht ausufert. Oberstes Ziel von Gewerkschaften bleibt jedoch: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. So wie es im Gesetz steht. Denn: Je teurer die Leiharbeit, desto uninteressanter ist es für Unternehmen, mit Leiharbeit reguläre Arbeitsplätze zu verdrängen.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Das fordern die Gewerkschaften, und so steht es auch im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Leiharbeiter sollen so behandelt und bezahlt werden wie Stammbeschäftigte. Allerdings hat die damalige rot-grüne Bundesregierung das Schlupfloch im Gesetz gleich mitgeliefert: Wendet die Leiharbeitsfirma einen Tarifvertrag an, gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht. Das führte zu einem regelrechten Ansturm auf Tarifverträge. Denn mit Tarifverträgen kommen Leiharbeitsfirmen billiger weg als ohne. Die Folge: Gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es meist nur auf dem Papier.
Leiharbeiter haben das Nachsehen. Ihr Arbeitsplatz ist weniger sicher, bei Weiterbildung gehen sie häufiger leer aus, sie werden öfter bei gefährlichen oder schmutzigen Arbeiten eingesetzt und erleiden häufiger Arbeitsunfälle. Leiharbeit ist quasi mitbestimmungsfrei: In mittleren und kleinen Leiharbeitsfirmen gibt es keine Betriebsräte. Leiharbeiter bekommen weniger Urlaub, geringere Zuschläge, keine Zusatzversorgung und verdienen weniger. Das Einkommen ist unter anderem abhängig davon, welcher Tarifvertrag gilt. Beispiel: Der Einstiegslohn für Helfer liegt im Westen bei 7,38 Euro (Tarifvertrag zwischen DGB-Tarifgemeinschaft und Bundesverband Zeitarbeit). 6,80 Euro bekommt der gleiche Leiharbeiter, wenn eine christliche Gewerkschaft den Tarifvertrag unterzeichnet hat. In Firmentarifverträgen gehen die Christen auch unter fünf Euro.
Aus: VER.DI PUBLIK, Oktober 2007, Brennpunkt, S. 3