Gerechtigkeit am Galgen
Dr. Ronald Friedmann, Berlin
Vor 75 Jahren, am 16. April 1947, wurde das Todesurteil gegen Rudolf Höß, den Kommandanten des KZ Auschwitz, vollstreckt
Fast ein Jahr lang hatte sich Rudolf Höß seiner Verantwortung entziehen können, ehe es den britischen Nazijägern des War Crimes Investigation Team (WCIT) gelang, den einstigen Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz zu finden und zu verhaften. Höß war in den letzten Kriegstagen auf der sogenannten Rattenlinie Nord nach Schleswig-Holstein entkommen, wo er seither unter dem Namen Franz Lang auf einem abgelegenen Bauernhof gelebt und gearbeitet hatte.
In den frühen Morgenstunden des 11. März 1946 stürmten britische Militärpolizisten die Scheune, in der Höß schlief. Noch ehe ein Wort fiel, hatte der Offizier, der das Unternehmen leitete, Höß eine Pistole in den Mund gestoßen. Angesichts der Erfahrungen mit dem »Reichsführer SS« Heinrich Himmler, der sich im Jahr zuvor nach seiner Festnahme durch den Biss auf eine im Mund versteckte Giftkapsel selbst gerichtet hatte, sollte so ein weiterer Selbstmord verhindert werden. Die Sorge war allerdings unbegründet, Höß hatte die ihm kurz vor Kriegsende übergebene Giftkapsel längst verloren.
Organisator der Massenvernichtung
Zunächst leugnete Höß, der gesuchte Kriegsverbrecher zu sein. Doch die Inschrift in seinem Ehering, von dem er sich nicht getrennt hatte, bewies seine tatsächliche Identität. Nachdem klar wurde, dass weiteres Leugnen zwecklos war, erklärte sich Höß umgehend zu detaillierten Aussagen bereit. Bereits am 14. März 1946 unterschrieb er ein vorläufiges Geständnis, das auf acht Seiten ein erstes knappes Bild der in Auschwitz begangenen Verbrechen zeichnete. In groben Zügen beschrieb Höß den Ablauf der Massenvernichtung, die Kapazitäten der Anlagen, weitere organisatorische Details. Mehr noch, Höß lieferte erste Hinweise auf die Dimensionen des Massenmordes: Etwa drei Millionen Menschen, so seine Darstellung, seien zwischen 1940 und 1945 in Auschwitz zu Tode gekommen, davon seien 2,5 Millionen in den Gaskammern des Vernichtungslagers getötet worden. [1] Diese Zahlen seien einem Bericht von Adolf Eichmann an Himmler vom April 1945 entnommen. Ihm selbst sei es verboten gewesen, die eingehenden Transporte und die anschließende »Sonderbehandlung« zu dokumentieren oder auch nur statistisch erfassen zu lassen.
Anfang April 1946 wurde Höß nach Nürnberg gebracht, wo im Oktober 1945 der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher begonnen hatte. Er sollte als Zeuge der Verteidigung von Ernst Kaltenbrunner, dem Chef des sogenannten Reichssicherheitshauptamtes, weitere Aussagen machen. Bei dieser Gelegenheit berichtete Höß, dass er im Sommer 1941 nach Berlin bestellt worden sei, wo Himmler ihm mitgeteilt habe, dass von Hitler der Befehl zur »Endlösung der Judenfrage« ergangen sei. [2] Himmler habe ihm daher befohlen, in Auschwitz ein Vernichtungslager einzurichten. Gemeinsam mit Adolf Eichmann habe er, also Höß, entschieden, für die geplante massenhafte Tötung das Gas Zyklon B zu verwenden, da er sich bei einem Besuch im Lager Treblinka davon überzeugen musste, dass die dort verwendeten Abgase von Automotoren nur »unzuverlässig« wirken würden.
Ende Mai 1946 wurde Höß an die polnischen Justizbehörden übergeben. Grundlage war die Moskauer Deklaration vom Oktober 1943, in der sich die Mitgliedsstaaten der Antihitlerkoalition zur Verfolgung und konsequenten Bestrafung aller Kriegsverbrecher verpflichtet hatten. In Polen hatte inzwischen das Oberste Nationale Tribunal Polens seine Arbeit aufgenommen, dessen vorrangige Aufgabe es war, alle auf polnischem Territorium begangenen Nazi-Verbrechen zu untersuchen und die Verantwortlichen abzuurteilen.
Die Monate in der Haft bis zum Beginn seines Prozesses nutzte Höß zur Niederschrift seiner Autobiographie, der er den Titel »Meine Psyche, Werden, Leben und Erleben« gab. Die knapp 240 Blatt, beidseitig beschrieben, sind eine sonderbare Mischung aus Lügen, Wahrheiten und Halbwahrheiten. Empathie mit den Opfern oder gar Reue ließ Höß nicht erkennen.
Bereits bei seinem Geburtsdatum lieferte Höß die erste falsche Angabe. Er machte sich ein Jahr älter, denn nur so war es ihm möglich, seiner völlig frei erfundenen Geschichte eines 17-jährigen Soldaten, der im Ersten Weltkrieg an verschiedenen Fronten im Nahen Osten kämpfte, größere Glaubwürdigkeit zu geben. [3] Im Verlauf des Jahres 1919, nach dem Abschluss der Schule und einer Lehre, das zumindest entsprach der Wahrheit, schloss sich Höß dem Freikorps Roßbach an, das insbesondere im Baltikum, im Ruhrgebiet und in Oberschlesien wütete. Im Mai 1923 war Höß an einem Fememord im mecklenburgischen Parchim beteiligt. Er wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, aber bereits im Juli 1928 im Zuge einer allgemeinen Amnestie freigelassen.
Täter wie Höß machten industrialisierten Massenmord erst möglich
Höß schloss sich nun den Artamanen an, einem völkischen Siedlungsprojekt, für das Himmler großes Interesse zeigte. Himmler war es auch, der 1933 den Eintritt von Höß in die SS veranlasste und ihn 1934 als Blockführer im Konzentrationslager Dachau bei München einsetzte. Ab August 1938 war Höß Adjutant des Lagerkommandanten im neu errichteten KZ Sachsenhausen, das die Führung der SS als »idealtypisches« Lager konzipiert hatte. Im November 1939 wurde Höß Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen, doch bereits im Mai 1940 erfolgte seine Versetzung als Lagerkommandant in das noch im Aufbau befindliche KZ Auschwitz. [4] Von seinem ersten Einsatz im KZ Dachau bis zu seiner letzten Aktion als Kommandant von Auschwitz begleitete ihn der Ruf größter Brutalität und Grausamkeit.
Höß gab sich in seinen schriftlich niedergelegten Erinnerungen und seinen mündlichen Aussagen als weisungsgebundener Befehlsempfänger ohne Spielraum für eigene Entscheidungen. Er sei nur ein »kleines Rädchen im großen Getriebe« gewesen, behauptete er noch in seinem Abschiedsbrief an seine Frau, den er nur Stunden vor seinem Tod verfasste. Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, nichts von den Verbrechen in Auschwitz gewusst zu haben. Als Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz habe er erst während der Untersuchung und des Prozesses erfahren, welch schrecklichen Dinge dort geschehen seien, und es sei unbeschreiblich, wie man ihn hintergangen und wie man seine Anordnungen verdreht habe. »Wie tragisch«, so Höß, »der ich von Natur aus weich, gutmütig und stets hilfsbereit war, wurde zum größten Menschenvernichter, der kalt und bis zur letzten Konsequenz jeden Vernichtungsbefehl ausführte.« [5]
Doch der Aufbau und der Betrieb der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz waren sein Werk, das er ständig zu perfektionieren bemüht war. Er war stets über alles, was im Lager geschah, auch in Einzelheiten informiert. Er benötigte keine detaillierten Befehle, um zu tun, was von ihm erwartet wurde. Es waren Täter wie Höß, die den industrialisierten Massenmord überhaupt erst möglich machten.
Prozess und Urteil
Der Prozess gegen Höß fand vom 11. bis 29. März 1947 in Warschau statt. Die Anklage war vom zuständigen Untersuchungsrichter mit großer Sorgfalt und Gründlichkeit vorbereitet worden. Trotz der Vielzahl der vorgelegten Beweise seiner persönlichen Schuld betrachtete sich Höß als zu Unrecht angeklagt, denn er habe, wie er immer wieder betonte, »nur seine Pflicht getan« und »Befehle befolgt«. In dieser Hinsicht unterschied er sich, trotz seiner grundsätzlichen Bereitschaft, auch belastende Aussagen zu machen, nicht von den übrigen Tätern des »Dritten Reiches«, die vor Gericht regelmäßig jede eigene Verantwortung abstritten.
Am 2. April 1947 wurde Höß zum Tode verurteilt. Eine Gruppe ehemaliger Häftlinge regte in einer Petition an, das Urteil gegen Höß auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz zu vollstrecken.
Rudolf Höß wurde am 16. April 1947 hingerichtet. In den frühen Morgenstunden hatten deutsche Kriegsgefangene vor dem Gebäude der ehemaligen Kommandantur des KZ Auschwitz, wo Höß seine Arbeitsräume gehabt hatte, einen Galgen errichtet. Um genau 10 Uhr wurde Höß aus einer Zelle des Bunkers im berüchtigten Block 11 über die Hauptstraße des Lagers zur Richtstätte geführt. Um 10.08 Uhr wurde das Urteil vollstreckt, um 10.21 Uhr erklärte ein Arzt Höß für tot. Der Leichnam wurde außerhalb des Lagers verbrannt, die Asche an einem unbekannten Ort beseitigt.
Der Galgen, an dem Rudolf Höß starb, steht noch heute auf dem Gelände der Gedenkstätte im einstigen Lager Auschwitz. Er bezeugt das Ende eines Menschen, der durch seine unvorstellbaren Verbrechen das Recht verwirkt hatte, Teil der menschlichen Gemeinschaft zu sein.
Anmerkungen:
[1] Nach heute vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen lag die tatsächliche Opferzahl in Auschwitz bei 1,1 bis 1,5 Millionen.
[2] Karin Orth hat bereits 1997 eine äußerst lesenswerte Untersuchung vorgelegt, in der sie die Richtigkeit der Datierung eines Befehls über die »Endlösung der Judenfrage« im Sommer 1941 infrage stellt. Ihre Feststellungen sind auch durch neuere Forschungen nicht widerlegt. Karin Orth, Rudolf Höß und die »Endlösung der Judenfrage«. Drei Argumente gegen deren Datierung auf den Sommer 1941, in: WerkstattGeschichte 18, Ergebnisse Verlag, Hamburg 1997, S. 45-57.
[3] Höß wurde am 25. November 1901 in Baden-Baden geboren.
[4] Zur Geschichte des Lagers Auschwitz siehe auch die Beiträge von Ronald Friedmann in den »Mitteilungen« vom März und Oktober 2021 sowie seinen Beitrag über Josef Mengele, den »Todesengel von Auschwitz«, im Februarheft 2019.
[5] So zitiert in: Volker Koop, Rudolf Höß. Der Kommandant von Auschwitz, Böhlau Verlag, Köln 2014 (eBook).
Mehr von Ronald Friedmann in den »Mitteilungen«:
2022-01: Im Januar 1942 wurde am Berliner Wannsee der Mord an den europäischen Juden geplant
2021-10: Birkenau
2021-03: IG Auschwitz