Genug ist genug! Freiheit für Mumia Abu-Jamal
Noam Chomsky, USA
Mumia Abu-Jamal ist aus gutem Grund zum Symbol für einen der skandalösesten Missstände der amerikanischen Gesellschaft geworden, und sein Fall spiegelt die typischsten Merkmale dieses Skandals wider: ein schwarzer Mann, der viele Jahre im Todestrakt verbringen musste und immer noch im Gefängnis sitzt, aber nie ein faires Gerichtsverfahren hatte.
Als Mumia vor dreißig Jahren zum Tod verurteilt wurde, bewegte sich die Pro-Kopf-Zahl der Gefangenen in den USA noch in einem ähnlichen Rahmen wie die vergleichbarer Gesellschaften – sie war hoch, aber nicht wirklich extrem. Seitdem ist sie ständig gewachsen und liegt heute fünf- bis zehnmal höher als in den anderen Industrieländern. Soweit überhaupt Daten vorliegen, ist sie die höchste der ganzen Welt. Zielscheibe dabei sind überwiegend schwarze Männer wie Mumia.
Wichtigster Vorwand dabei ist der so genannte "Antidrogenkrieg", der von Präsident Nixon neu angekurbelt und unter Ronald Reagan und seinen Nachfolgern noch wesentlich brutaler wurde. Und ich verwende das Wort "Vorwand" hier mit Absicht. Erst kürzlich wurde auf der Konferenz der Länder der westlichen Hemisphäre in Kolumbien klar festgestellt, dass der "Antidrogenkrieg" keinerlei Wirkung auf den Drogenkonsum hatte. Dabei kommen sowohl Nachfrage als auch Angebot – über Waffenlieferungen an lokale Drogenbarone – hauptsächlich aus den USA. Diese stehen mit ihrer massiven Kriminalisierungspolitik heute fast allein da, haben doch quasi-staatliche Studien längst gezeigt, dass Drogenprävention und -entzug wesentlich effizientere Maßnahmen sind.
Wenn eine Politik verfolgt wird, die keine Wirkung auf das angebliche Problem hat, und gleichzeitig die effektivsten Methoden systematisch gemieden werden, sollte man nach den eigentlichen Motiven der Politik suchen und dabei nach deren vorhersehbaren Folgen fragen. In unserem Fall sind die Folgen vollkommen klar: In den USA selbst war die Folge die selektive Einkerkerung der "Unterklasse", der Menschen also, die mit der Umorientierung der Wirtschaft auf Börsenprofite und Auslagerung der Produktion ins Ausland überflüssig wurden. Für diese Analyse spricht noch vieles andere, und auch über die negativen Konsequenzen außerhalb der USA gäbe es viel zu sagen.
Mit all dem wird eine der dunkelsten Perioden der US-Geschichte wiederbelebt. Nachdem der Bürgerkrieg die Sklaverei beendete, waren die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner formal frei. Doch schon zehn Jahre später legalisierte ein Pakt zwischen Nord- und Südstaaten die Kriminalisierung schwarzer Lebensformen, womit eine äußerst brutale Form von Sklaverei wiedereingeführt wurde. Damit wurde nicht zuletzt für disziplinierte und streng reglementierte Arbeitskräfte für die amerikanische industrielle Revolution gesorgt.
Dieses System dauerte ungefähr bis zum zweiten Weltkrieg, mit dessen Ausbruch freie Lohnarbeit für die Kriegsindustrie benötigt wurde, die dann auch im raschen Wachstum der fünfziger und sechziger Jahre zur Anwendung kam. Dann kamen die uns bekannten scharfen wirtschaftlichen Veränderungen, die Durchsetzung einer Variante des Neoliberalismus und die erneute Kriminalisierung schwarzen Lebens. In den fast 500 Jahren, seit die amerikanischen Kolonisten die ersten Sklaven ins Land brachten, hat die afroamerikanische Bevölkerung nur ein paar Jahrzehnte wenigstens relativer Freiheit und Gleichberechtigung gekannt.
Während schwarze Männer die Hauptopfer der grausamen Politik der Masseneinkerkerung sind, sind sie bei weitem nicht die einzigen. Zu den Opfern gehören auch politische Gefangene, und Mumia kann mit Recht als einer von ihnen betrachtet werden. Ein weiterer prominenter Fall derzeit ist der von Bradley Manning, der des Verbrechens der Veröffentlichung diplomatischer Depeschen bezichtigt wird, um der Bevölkerung zu ermöglichen, zu sehen, was ihre Regierung tut – in Wirklichkeit also ein Dienst an der Öffentlichkeit. Er ist jetzt seit zwei Jahren ohne Verfahren im Gefängnis, mehr als die Hälfte davon in Isolationshaft, eine Form der Folter, die in unserem Gefängnissystem nur allzu üblich ist. Und außer ihm gibt es viele andere.
In einigen Jahren begehen wir den 900. Jahrestag der Magna Charta, der ersten Grundlegung moderner bürgerlicher Freiheiten, mit der die Inhaftierung freier Menschen verboten wurde, "es sei denn durch das rechtmäßige Urteil von Bürgern ihresgleichen und entsprechend dem gültigen Gesetz" und unter Gewährung eines zügigen und fairen Verfahrens. Im Lauf der Jahrhunderte seitdem sind solche Rechte in beträchtlichem Maß erweitert worden, aber der gegenwärtige Trend ist alles andere als ermutigend in dieser Hinsicht. Bei Mumia Abu-Jamal geht es also um weit mehr als nur um ihn selbst.
Darum wünsche ich dieser Demonstration allen Erfolg.
Grußadresse an die Berliner Demonstration am 21. April 2012 von Noam Chomsky, Cambridge, MA, 18. April 2012. Die Demonstration forderte: Freiheit für Mumia Abu-Jamal! – Stop the Prison Nation - weg mit der Gefängnisindustrie! – Abschaffung der Todesstrafe überall! – Freilassung der politischen Langzeitgefangenen in den USA!