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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Gegen eine in jeder Hinsicht reaktionäre Entwicklung

Bericht des Bundessprecherrates von Stephan Jegielka, Bundessprecher der KPF

 

Liebe Genossinnen und Genossen, der Besuch des Papstes in der Demokratischen Republik Kongo Anfang Februar dieses Jahres warf ein kurzes Schlaglicht auf das an Rohstoffen unermesslich reiche Land, in dem zugleich unermessliche Armut herrscht. Die entscheidenden Profiteure dieser Situation sind internationale Konzerne. Die sind an Öffentlichkeit nicht interessiert. Vor allem nicht daran, dass die Bewohner der Länder mit sogenannter regelbasierter Ordnung, also des kollektiven Westens, erfahren, dass allein im Zweiten Kongokrieg von 1998 bis 2003 »Schätzungen zufolge fünf Millionen Menschen getötet worden sein [sollen]. Vor allem im Osten des zweitgrößten Landes Afrikas dauert die Gewalt bis heute fort.«[1] Über sechs Millionen Flüchtlinge im Land berichtete der UN-Hochkommissar Volker Türk. Das sei die größte Zahl an Binnenvertriebenen in ganz Afrika.[2] Fünf Millionen Tote! Sechs Millionen Flüchtende! Den Westen interessiert das nicht. Profitiert doch vor allem er von der Lage und es sind ja auch keine blonden, blauäugigen Menschen, denen so unvorstellbares Leid widerfährt. Es ist eine widerwärtige Mischung von Kapitalinteressen, über die ein Mantel des Schweigens gedeckt wird und von nicht als solchem wahrgenommenen Rassismus. Kurz gesagt: Kriege, über die zu schweigen dem Westen zweckmäßig erscheint, spielen in der veröffentlichten Meinung so gut wie keine Rolle. Anders ist es, wenn die strategischen Gegner des Westens medial angegriffen werden können. Von Waffenlieferungen und Wirtschaftskriegen ganz zu schweigen.

Meinungsfreiheit ist nicht mehr angesagt

Länger als ein Jahr tobt nun schon der Krieg in der Ukraine. Unsere große Hoffnung liegt jetzt in der Friedensinitiative Chinas und darin, dass diese von sehr vielen Ländern, die nicht zum elitär-regelbasierten Westen zählen, mit Sympathie betrachtet wird. Stellvertretend sei an Lula in Brasilien gedacht. Die Anzahl derer nimmt zu, die meinen: Letztlich sei es ein Krieg der USA, mit der NATO im Schlepptau, gegen Russland. Rammstein beweist es gerade wieder. Wer die Vorgeschichte dieses Krieges nicht kennt, sie wissentlich vergisst oder umdeutet, dem scheint das aggressive Agieren der NATO durch den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine legitimiert. Selbst vor so manchen Linken macht das Verwechseln von Ursache und Wirkung nicht unbedingt halt. So war in einem Leserbrief im nd vom 31.01.2023 über die Kriegsbereitschaft die Rede, »die von Putins Russland auf die NATO übergesprungen zu sein scheint«. Man muss doch den Krieg in der Ukraine nicht gutheißen, wenn man feststellt, dass nicht Russland die Erfinderin völkerrechtswidriger Kriege und Verhaltensweisen ist, sondern der sogenannte kollektive Westen. Hermann Klenner hat in einer Rezension des von Wolfgang Gehrke und Christiane Reymann herausgegebenen Buches »Ein willkommener Krieg?«[3] kompakt die Völkerrechtsbrüche des Westens, besonders die der USA, zusammengefasst. Wir empfehlen all jenen diese Lektüre, die die Kriegsbereitschaft der NATO als von Russland initiiert betrachten.

Legitimiert werden sollen auch alle hierzulande aus diesem Krieg real oder vermeintlich resultierenden Konsequenzen: Da ist die offene Kriegsvorbereitung. Denken wir nur an das im Juni bevorstehende größte Luftkriegsmanöver seit Bestehen der NATO. Und dieses Manöver wird vor allem über dem Osten Deutschlands stattfinden. Da ist die zunehmende Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens, begleitet von Superprofiten der Rüstungsindustrie. Da ist die ideologische Kriegsvorbereitung. Noch vor wenigen Jahren wäre eine Sendung »Hart aber fair«[4] unter der Überschrift »Die Ukraine kämpft, die Bundeswehr übt noch: Muss Deutschland Krieg können« undenkbar gewesen. Undenkbar ebenso folgende Äußerung des Kommandeurs des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr, Generalmajor Markus Kurczyk: »Es geht nicht darum, welche Waffensysteme wir haben. Es geht darum, ob wir Menschen haben, die bereit sind, für Deutschland in den Krieg zu ziehen, die bereit sind, für ihre Überzeugung, für unsere Werteordnung bis ans Ende der Welt zu gehen.«[5]

Inzwischen wird solcherart Kriegsverherrlichung zur Normalität, so wie es einst normal war, auf den Straßen zu grölen »und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«. Da ist die unerträgliche Russophobie, die in Anbetracht deutscher Schuld zutiefst verbrecherisch ist. 27 Millionen Tote hat der Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands gegen die Sowjetunion das Land gekostet. Für sehr viele Menschen in der alten Bundesrepublik ist »Der Russe« immer der Feind geblieben. Anders in der DDR. Das ist der entscheidende Grund, warum zum Beispiel im Osten Waffenlieferungen an die Ukraine in wesentlich höherem Maße abgelehnt werden als im Westen. Nicht der Einfluss der AfD in puncto Russland ist der Grund für diese Stimmungen im Osten, sondern diese sich vertiefenden Stimmungen veranlassen die AfD, scheinbar russlandfreundlich zu agieren. Zurück zur Russophobie. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht wenige Kinder, Enkel und Urenkel der Angehörigen der faschistischen Wehrmacht die Stunde für gekommen halten, in der man über die Russen endlich sagen kann, was man immer schon einmal sagen wollte. In dieser Hinsicht ist die Meinungsfreiheit grenzenlos.

Meinungsfreiheit ist nicht mehr angesagt, wenn nach Hintergründen für den Ukraine-Krieg gefragt wird; wenn festgestellt wird, dass der 24. Februar 2022 eine Vorgeschichte hat und dass die gegenwärtige Situation nicht durch Waffenlieferungen und Sanktionen zum Positiven verändert wird, sondern dass das Gegenteil der Fall ist. Meinungsfreiheit ist auch nicht erwünscht, wenn Bandera-verherrlichende faschistische Umtriebe in der Ukraine entlarvt werden. Da reichen irgendeinem Anwalt zwei zweifelhafte Sätze in einer Rede, um Anzeige zu erstatten, der – entsprechend der Gesetzeslage – zwangsläufig ein polizeiliches Ermittlungsverfahren folgen muss. Absolut nicht zwangsläufig ist es hingegen, wenn den Ermittlungen ein Strafverfahren nach § 140 StGB – Billigung oder Belohnung von Straftaten – mit Verurteilung folgt. Der Bundessprecherrat der Kommunistischen Plattform hat deshalb am 25. Januar 2023 eine Solidaritätserklärung mit dem Genossen Heinrich Bücker abgegeben, gegen den ausgehend von dem oben erwähnten Ermittlungsverfahren ein Strafverfahren eingeleitet wurde, in dessen Ergebnis ein skandalöses Urteil gefällt wurde. Aufgrund der gegen das Urteil eingelegten Berufung hat selbiges noch keine Rechtskraft. Man muss nicht mit jedem Satz aus der Rede von Heinrich Bücker, die er am 22. Juni 2022 am Treptower Ehrenmal hielt, übereinstimmen. Aber man muss sich dagegen wehren, dass eine andere Auffassung als Billigung oder Belohnung einer Straftat ausgelegt und geahndet wird. Das führt auf Dauer zur Ausschaltung jeder Meinung, die nicht dem Mainstream entspricht. Der Kampf gegen die massiven Angriffe auf die bürgerliche Meinungsfreiheit wird immer dringlicher. Seit Oktober 2022 ist der § 130 StGB um einen Absatz 5 erweitert worden. Horsta Krum hat dazu auf der Bundeskonferenz am 28.11.2022 gesprochen und wir haben in den April-Mitteilungen zur gleichen Thematik ein Interview aus der jungen Welt mit dem Rechtswissenschaftler Ralf Hohmann veröffentlicht und wollen dazu heute nichts wiederholen. Nur so viel sei gesagt: Dieser Absatz 5 bietet jedem Richter zumindest an Willkür grenzende Spielräume, Meinungsäußerungen zu strafbaren Handlungen zu erklären.

…voll des unbeschreiblichen Hasses gegen Russland

Eine weitere Konsequenz der NATO-Politik im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist der wohl unvermeidbare wirtschaftliche Abstieg Deutschlands. Wir erleben, dass das Modell wirtschaftlicher Erfolge hierzulande – die Synthese von aus Russland günstig bezogener Energie und hiesigem wissenschaftlich-technischem Know-how – gerade zugrunde geht. Der US-Imperialismus profitiert davon. Europa, besonders Deutschland, verliert, und zwangsläufig schreitet die soziale Polarisierung voran, getrieben durch hohe Energiepreise, wachsende Inflation und das weitere Sterben des Mittelstandes. Die sozialen Negativkonsequenzen sind enorm und der Widerstand wächst. Denken wir an Frankreich aber auch an die jüngsten Warnstreiks hier, die das Land lahmlegten. Denn die Leidtragenden der verheerenden Politik des regelbasierten Westens sind diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen oder nicht einmal mehr das können. Leidtragend ist der Mittelstand, nicht zu reden von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Die Frage nach den Konsequenzen des Sanktionskrieges einerseits und den Unsummen, die für Rüstung ausgeben werden, andererseits führt uns zu der Antwort, welches die Ursachen sind für die wachsende Polarisierung im Land. Diese Polarisierung anzuprangern, hat nichts mit Nationalismus, sondern mit dringend erforderlichem Antikapitalismus zu tun. Denn der Kapitalismus erweist sich wie kaum zuvor als Wurzel allen Übels. Ein Beispiel soll genügen: »Die Aktien des an der ›Leopard‹-Produktion beteiligten Rheinmetall-Konzerns legten am 25. Januar 2023 um knapp drei Prozent zu und erreichten ein Rekordhoch, seine Titel sind seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine um 170 Prozent gestiegen.«[6] An eben jenem 25. Januar teilte die Bundesregierung mit, Deutschland werde der Ukraine »in einem ersten Schritt eine Kompanie mit 14 Leopard-2-A6-Panzern zur Verfügung stellen, die aus Beständen der Bundeswehr stammen«.[7]

Kurz gesagt: Wir erleben eine in jeder Hinsicht reaktionäre Entwicklung, die von einer zerrissenen Ampel orchestriert wird. Im Rahmen des dort herrschenden Irrsinns ist der Kanzler hin und wieder noch vergleichsweise vernünftig. Scholz und die ihm loyal Gesinnten begreifen wenigstens irgendwie, dass der Bogen nicht länger überspannt werden darf und kann. Was man dann tut, wenn das Damoklesschwert der Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zur »Cum-Ex-Affäre« über einem schwebt, ist eine andere Frage. Die Grünen sind gegenwärtig die am meisten kriegstreiberische Kraft in Deutschland, voll des unbeschreiblichen Hasses auf Russland. Mit ihnen wetteifert nur noch die FDP. Die angeblich vierte Gewalt, die in Wirklichkeit einflussreicher Teil der Kapitalherrschaft ist, produziert Stunde für Stunde ein stetig giftiger werdendes Klima. Aber selbst ein Teil dieser Medien bekommt es mit der Angst zu tun, wenn Frau Baerbock mal eben Russland den Krieg erklärt und üben hin und wieder offen und ansonsten eher verhalten an ihr Kritik. Kurz gesagt: Nüchternheit gewinnt an Raum und Rechte tragen diesen Stimmungsänderungen Rechnung. Sie fordern ein Ende der Sanktionen und machen deutlich, dass allein die USA gegenwärtig aus der aktuellen Situation deutlichen Profit schlagen. Das ist nicht deshalb falsch, weil es die AfD sagt. Das ändert nichts am Charakter dieser Partei und an unserem Verhältnis zu ihr. Wir haben uns auf der Bundeskonferenz vor fünf Monaten ausführlich mit dieser Problematik befasst.

Erfurt war nicht das Ende der friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei

Und DIE LINKE? Nach dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 gab unsere Partei ein Bild der Zerrissenheit ab, und dieses Bild wurde verschärft durch das dreiste Auftreten derer, die sich »Progressive Linke« nennen; aber auch durch das resignative Verhalten eines Teils des linken Flügels, der die Partei als verloren erklärte und erklärt. Statt zu arbeiten, wurde und wird von manchen nur noch gejammert und geschimpft. Das ist erklärlich, hilft aber nicht weiter. Die Situation auf dem Erfurter Parteitag wurde mit jener der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 verglichen. Der Erfurter Parteitag war tatsächlich eine Zumutung; wir haben diesen sowohl in unserer Erklärung »Wider die NATO – Das ist der mögliche und notwendige gemeinsame Nenner!« vom 2. Juni 2022 als auch in unserem Referat auf der Bundeskonferenz am 26. November 2022 hinlänglich öffentlich eingeschätzt. Aber – der Erfurter Parteitag war nicht das Ende der friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei. Denn im entscheidenden Punkt konnten sich die Parteirechten nicht durchsetzen: In der Frage der Waffenlieferungen. Die fundamentale Bedeutung dessen ging zunächst einmal unter in der berechtigten Empörung über den Grad an Manipulation, den die Parteitagsregie erzeugte. Auch neigten nicht wenige Parteilinke dazu, Äußerungen führender LINKEN-Politikerinnen und Politiker für wichtiger zu halten als die geltende Beschlusslage. Diese Missachtung von in harten Auseinandersetzungen errungenen Teilerfolgen ist ebenso fehl am Platze wie deren Überschätzung. Uns wird voraussichtlich jetzt eine Programmdebatte aufgezwungen werden – vermutlich mit dem Ziel, im Europawahlprogramm programmatische Veränderungen vorwegzunehmen. Wir werden uns dem stellen und müssen sehr genau wissen, was unbedingt verteidigt werden muss. Wir haben uns daher vor dem 24. Februar 2023, dem ersten Jahrestag des Ukrainekrieges, entschieden, anlässlich dieses Ereignisses einen entsprechenden Antrag an die Sitzung des Parteivorstandes der LINKEN am 12.02.2023 einzubringen. Wir taten dies in dem Bewusstsein, dass es notwendig ist, einen zu erwartenden Beschluss des Parteivorstandes nicht allein dastehen zu lassen, und wir waren uns darüber im Klaren, dass – in Anbetracht des im Parteivorstand herrschenden Kräfteverhältnisses - unser Antrag abgelehnt werden wird. Es ging uns einzig darum, ausgehend von unseren Positionen – die sich übrigens in Übereinstimmung mit dem Parteiprogramm und der Beschlusslage des Erfurter Parteitages befinden – Widerstand zu leisten gegen das erschreckende Maß der Anpassung von Parteigremien an die NATO-Verharmlosung. Wir haben den Verlauf des entsprechenden Tagesordnungspunktes der PV-Sitzung sofort öffentlich gemacht und setzen dies als bekannt voraus.

Nicht Zusammenschlüsse erzeugen Zerrissenheit

Sehr häufig werden wir mit der Auffassung konfrontiert, die Zerstrittenheit in der Partei resultiere aus der Existenz zu vieler verschiedener Strömungen, Zusammenschlüsse und Plattformen. Weniger häufig, aber doch oft genug werden Probleme in der Partei mit der Ost-West Zusammensetzung begründet. So schreibt Raul Zelik im nd vom 20.12.2022: »Vor allem in Teilen der Ostmitgliedschaft ist die Diskrepanz – so mein subjektiver Eindruck – zwischen rhetorischer Radikalität und Obrigkeitshörigkeit oft groß, wobei beide Haltungen unvermittelt ineinander übergehen können. So wird in Ostberliner Bezirksverbänden oft ein radikaler Antikapitalismus propagiert, andererseits bedeutet das aber nicht unbedingt, dass sich die Parteimitglieder dort auch besonders aktiv an sozialen Kämpfen beteiligen.«[8] Sehen wir einmal davon ab, dass Antikapitalismus nur radikal sein kann, oder es ist keiner. Nehmen wir sachlich zur Kenntnis, dass Zelik – im gleichen Atemzug mit seinem »subjektiven Eindruck« – den Berliner Landesverband für die Pflege-Kampagne, die Aktivierung der Bezirksverbände für das Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co. Enteignen« oder die die Mobilisierung »Genug ist genug« lobt. Sofort im Anschluss daran folgt wiederum Zeliks Behauptung: »Doch strukturell bestimmend ist eher das Gegenteil, wie die Auseinandersetzung um die Berliner Regierungsbeteiligung regelmäßig zeigt. Bei Ostberliner Ortsgruppen der Linken bekommt man oft die Klage zu hören, die eigene Partei sei zu angepasst. Mit diesem Argument werden auch viele Austritte aus der Linken erklärt (zuletzt etwa derjenige der ehemaligen DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft)«.

Soweit noch einmal Zelik; hört er sich eigentlich selbst zu? Die Ostberliner Mitglieder sind radikal und obrigkeitshörig, inaktiv, sogar strukturell – außer bei Kampagnen, die im ganzen Land Beachtung finden und beschweren sich über Angepasstheit und Regierungsbeteiligung. Eine, die selbst der DDR-Obrigkeit angehört hatte, tritt deshalb sogar aus der Linken aus. Da fehlt nicht nur jegliche Stringenz, das ist gegenüber den aus dem Osten kommenden Mitgliedern schon denunziatorisch. Die Bezirksverbände Mitte oder Lichtenberg haben nicht weniger für das Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« getan als Tempelhof-Schöneberg oder Neukölln. Manche Funktionäre aus dem Westteil der Stadt sind nicht weniger obrigkeitshörig als manche im Osten, die übrigens nicht selten aus dem Westen stammen. Und wer den Basisorganisationen – ob in Ost- oder Westberlin – vorwirft, sie seien angepasst, der hat sich noch nie ernsthaft mit der Frage befasst, wie von Vorständen mit Kritik der Basis umgegangen wird. Oft nämlich überhaupt nicht. Wer, das negierend, Basisschelte betreibt, dem mangelt es zumindest an dialektischem Herangehen. Wenn Zelik aber meint, viele alte Mitglieder der Linken im Osten hätten ein anderes Parteiverständnis als viele im Westen, dann ist das nicht falsch. Ohne dieses Parteiverständnis, welches auch durchaus Nachteile hat, wäre die Partei im Osten schon sehr lange zerfallen. Und ohne die Genossinnen und Genossen im Westen, die häufig eine etwas andere Art der Bindung an die Partei haben, kann DIE LINKE auch nicht existieren. Darum geht es. Was Zelik – und nicht nur er – da an Pappkameraden aufbaut, geht an den eigentlichen Problemen der Zerrissenheit der Linken vorbei, ja es vertieft diese. Und in dieser Frage kann die Kommunistische Plattform für sich in Anspruch nehmen: Wer zu uns auf die Konferenzen kommt oder an den Bundeskoordinierungsratssitzungen teilnimmt, der wird – und das seit Jahr und Tag – umsonst nach Ost-West-Konflikten suchen und stattdessen Solidarität und kulturvollen Umgang miteinander finden. Warum ist das so? Weil wir uns in grundlegenden inhaltlichen Fragen gemeinsame Positionen zu Grundfragen erarbeiten und manchmal auch erstreiten, weil Streit fast immer respektvoll verläuft, und so eine Atmosphäre des gemeinsamen Denkens, Handelns und auch Fühlens entstanden ist, die einen vergifteten Umgang miteinander so gut wie ausschließt. Manche der sogenannten progressiven LINKEN könnten von uns, den in ihren Augen dogmatischen Kommunistinnen und Kommunisten, lernen, was Toleranz ist und wie sie funktioniert.

Kehren wir kurz zu der häufigen, nicht selten auch von uns Nahestehenden geäußerten Position zurück, die Zerrissenheit in der Partei resultierte aus den vielen, in der Satzung vorgesehenen Zusammenschlüssen und sogenannten, in Satzung und Programm nicht fixierten Strömungen. Die Vielzahl der Zusammenschlüsse ist nicht problemlos. Inflationierungen sind stets problembehaftet. Und schaut man sich die Geschichte der Zusammenschlüsse seit 1989/90 an – die KPF existiert seitdem – so könnte man leicht zu dem Schluss gelangen, dass so mancher Zusammenschluss gegründet wurde, um einen anderen aus dem Feld zu räumen. Da nicht wenige von uns von Anbeginn in diese Prozesse involviert waren und sind, ließe sich diese Feststellung leicht belegen. Die KPF hat jedoch diese Polemik nie geführt und wir werden das auch heute nicht tun. Der Grund dafür: Nachdem die Strukturen der SED auch mit Hilfe der Zusammenschlüsse zerschlagen waren, Fraktionsbildung war ja in der SED undenkbar, hatten auch die neuen Kader – die durchaus manchmal die alten waren – ein Interesse an der Möglichkeit, so widerstandsfrei wie möglich zu agieren. Und so gab es immer wieder Vorstöße, die Rechte der Zusammenschlüsse zu beschneiden bzw. sie abzuschaffen. Das wollten wir nie. Deshalb war uns das solidarische Miteinander der Zusammenschlüsse stets sehr wichtig. Und es gibt keine Solidarität, wenn man sich gegenseitig das statutarisch vorgesehene Existenzrecht abspricht. Hinzu kommt, und das ist wesentlich: Auch die Vielzahl der Zusammenschlüsse erzeugt nicht die Zerstrittenheit der LINKEN. Um es konkret zu machen: Eine Forderung nach Waffenlieferungen seitens der stellvertretenden Parteivorsitzenden Katina Schubert oder ebenso vom Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, für den zudem die »NATO-Frage« »geklärt« ist[9], oder auch eine Reise der Bundestagsabgeordneten Caren Lay nach Taiwan spalten die Partei mehr als die Existenz aller Zusammenschlüsse gemeinsam. Mit anderen Worten: Nicht die durch unterschiedliche Sozialisation von Ost- und Westmitgliedern unserer Partei existierenden Unterschiede sind maßgeblich für innerparteiliche Konflikte, nicht die Zusammenschlüsse erzeugen Zerrissenheit, sondern konträre inhaltlich Positionen, die – ausgewählt – nachfolgend noch einmal skizziert werden sollen.

  1. Spätestens Mitte der 90er Jahre begann in der Partei, seinerzeit die PDS, die Auseinandersetzung darüber, ob die Partei in erster Linie eine oppositionelle sein sollte, oder ob das Bestreben, an Regierungen teilzunehmen, wichtiger sei, weil dort mehr bewirkt werden könne. Dieser Streit betraf die Kommunalpolitik nicht. Hinsichtlich der Teilnahme an Landesregierungen hat sich die normative Kraft des Faktischen ebenso durchgesetzt, wie die Analyseverweigerung. Über Vorteile des Mitregierens wird geredet. Über Negativfolgen eher nicht. Das elementare Problem ist nunmehr auch seit Jahrzehnten das Streben nach der Regierungsbeteiligung im Bund. Warum? Im Bund kann nur mitregieren, wer die Staatsräson der BRD, also ihre Bündnisverpflichtungen, so in der NATO, akzeptiert und im gegebenen Falle zu erfüllen bereit ist. Um es unumwunden zu sagen: Wer in die Bundesregierung will, kann nicht gegen die NATO sein, muss Auslandseinsätze der Bundeswehr akzeptieren und letztlich auch die ökonomischen, politischen und ideologischen Konsequenzen, die daraus resultieren. Keines der bisherigen Parteiprogramme der PDS und seit 2007 der LINKEN erlaubt eine solche Position. Die ununterbrochenen Vorstöße seit 1996, an dieser Programmatik etwas zu ändern, stellen immer wieder die Identität der Partei infrage, sowohl ihren friedenspolitischen Charakter als auch ihren sozialistischen Anspruch. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf die innerparteiliche Situation bleiben und bleibt es auch nicht.
     
  2. Bis etwa 2014/2015 drehte sich die Auseinandersetzung um die friedenspolitischen Grundsätze der Partei primär um das Thema der sogenannten Einzelfallprüfung. Die Befürworter einer solchen suggerierten, auch sie seien gegen Auslandseinsätze. Irgendwann haben sie dann den Begriff der Kampfeinsätze eingeführt, der die Auslandseinsätze harmloser erscheinen ließ. Aber, so schränkten sie ein, es könne Situationen geben, wo im Einzelfall geprüft werden müsse, so bei Völkermord, ob einem Militäreinsatz nicht aus humanitären Gründen zugestimmt werden müsste. So näherten sie sich unausgesprochen dem Menschenrechtsimperialismus an. Die Einzelfallprüfung erhielt nie eine Mehrheit auf Parteitagen.
     
  3. Seit der massiven Zunahme der Aggressivität der USA mit der NATO und ihren Vasallenstaaten im Schlepptau gegen China und Russland ist das Thema der Einzelfallprüfung nicht vom Tisch. Das geht ja auch gar nicht. Aber das Verhältnis zur NATO ist zum Schwerpunkt der Auseinandersetzung um die friedenspolitischen Grundsätze der LINKEN geworden. Und das hörte sich spätestens seit der Eingliederung der Krim in die russische Föderation bis zum 24.02.2022 wie folgt an: Heutzutage sind alle mächtigen Staaten imperial bzw. imperialistisch. Deshalb bedarf es nicht nur der Distanz z.B. zu den USA, sondern auch zu China und Russland. Äquidistanz ist sozusagen das Gebot der Stunde. Auf diese anscheinend gesellschaftspolitisch objektive Art und Weise erfolgte schleichend – und darum ging und geht es eigentlich - eine Verharmlosung der NATO.
     
  4. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges endet nunmehr auch diese Phase der seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauernden Bestrebungen, die friedenspolitischen Grundsätze der PDS bzw. der LINKEN zu schleifen. Nimmt man den Erfurter Parteitag vom Juni 2022, so wurde dort durch die Parteitagsregie alles getan, damit der Eindruck entsteht, es gäbe wohl kaum einen aggressiveren Staat auf dieser Erde als die Russische Föderation. Dieser Eindruck sollte und soll vor allem durch die historische Ent-Kontextualisierung erzeugt werden. Mit dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine seien die Gründe unwesentlich geworden, die maßgeblich zum 24. Februar 2022 führten. Diese Gründe sind ja in der LINKEN durchaus akzeptiert worden, wie der Beschluss »Auch für den Ukraine-Konflikt gilt: Internationale Solidarität« aus dem Jahr 2014 belegt, den wir in der Januar-Ausgabe der Mitteilungen noch einmal dokumentiert haben. Doch inzwischen meinen die sogenannten progressiven Linken sowie Teile der Bewegungslinken, die NATO-Osterweiterung sei keine Bedrohung Russlands. Damit muss man die sicherheitspolitischen Interessen Russlands auch nicht unnötig ernst nehmen. Wer diese Position einnimmt, hält die NATO irgendwann für friedensstiftend. Dass das nicht übertrieben ist, verdeutlicht ein Punkt in einem vom Parteivorstand selbst eingereichten Änderungsantrag zum Leitantrag des Parteivorstandes L03 »Keine Aufrüstung, kein Krieg. Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität«, der in Erfurt mehrheitlich angenommen wurde. In diesem Änderungsantrag L03.172.1 heißt es u.a.: »Welche Maßnahmen sind aus unserer Sicht sinnvoll, Ländern wie Moldawien oder Georgien, die real von einem aggressiven Nachbarn militärisch bedroht sind, auch ohne NATO tatsächliche Sicherheit zu bieten?« In dieser Frage steckt unumwunden die Feststellung, mit der NATO gäbe es tatsächliche Sicherheit. Mit dem geltenden Parteiprogramm hat das nichts mehr zu tun. Kurz gesagt: Während bis zum 24. Februar 2022 der gleiche Abstand zu Russland und China einerseits und zu den USA und der NATO andererseits gewahrt werden sollte, unterstellt Udo Wolf Herrn Biden mittlerweile, der wolle keine militärischen Konflikte. Und Katja Kipping räsoniert, ebenso wie Bodo Ramelow, über eine Neuaufstellung der LINKEN in Sachen NATO. Wer feststellt, dass das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands in der Ukraine ein Glied in einer Kette massenhafter Völkerrechtsbrüche des Westens, vor allem der USA, seit Jahrzehnten ist, der relativiert den Krieg Russlands. Wir sagen: Wer meint, die Untaten des Westens aufzuführen, sei eine Relativierung vergleichbarer russischer Handlungen, der relativiert in Wirklichkeit das westliche Agieren. Seit August 1945 haben die Vereinigten Staaten mehr als 50 Staaten rund um die Welt angegriffen, direkt oder indirekt, einige davon mehrmals. Das erklärte Ziel dieser militärischen Interventionen war stets, einen »Regimewechsel« zu bewirken. Um diese einseitigen und illegalen Interventionen zu rechtfertigen, wurden sie immer unter dem Deckmantel »Menschenrechte« und »Demokratie« verübt.[10]
     
  5. Diese Kernpunkte der Auseinandersetzung um die friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei machen das Wesen dessen in der LINKEN aus, was dann mit Formulierungen wie Querelen, innerparteiliches Gezänk und ähnlichem umschrieben wird. Oder aber es wird personalisiert: Personen zankten sich und sollten damit mal aufhören, damit es der Partei wieder gut geht. Oder die Anstifter der Polarisierungen sollten gehen. Tunlichst wird vermieden, über grundlegende inhaltliche Differenzen zu reden. Denn diesbezüglich müssten die sogenannten progressiven Linken und Teile der Bewegungslinken hinsichtlich der Friedensfrage damit rechnen, dass sie nicht in der Mehrheit wären. Mit dem kryptischen Gerede über Querelen und ähnlichem kann Stimmung gemacht werden. Stimmungen sind immer eine »gute« Grundlage für Manipulationen. Und die Partei soll manipuliert werden, ja zu sagen zu einem die NATO letztlich bejahenden Kurs. Der Friedensaktivist Jürgen Wagner hat in seinem jüngsten Buch[11] in diesem Zusammenhang treffende Worte gefunden, indem er ausgehend vom Ukrainekrieg formulierte, es sei erschreckend, wie angesichts des »zweifelsfrei völkerrechtswidrigen Angriffes (Russlands) bei Teilen der Linken friedenspolitische Vorstellungen wie ein Kartenhaus zusammenbrachen und sie blitzschnell ins Lager der ›eigenen‹ Militaristen überliefen.«[12] Diejenigen in der LINKEN, auf die diese Charakterisierung Wagners zutrifft, träumen wohl immer noch von einer Regierungsbeteiligung im Bund, und sei es mit einer Bellizistin wie Baerbock. Über diese Träume – für die Partei sind es eher Alpträume – nähern wir uns dem Zustand, nicht mehr in den Bundestag zu kommen.
     
  6. Natürlich ist die Auseinandersetzung um die friedenspolitischen Prinzipien nicht die einzige existierende grundlegende Differenz, aber es ist die mit Abstand bedeutendste. Auf andere Differenzen wollen wir hier nicht näher eingehen, weil es den Rahmen dieser Konferenz sprengen würde; denken wir nur an die Auseinandersetzungen um den Umgang mit der Geschichte und somit um die Bewertung des europäischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts und damit der DDR. Längst bestimmt die opportunistische Linie der Verleugnung des gewesenen Sozialismusversuchs das Agieren von Parteiführungen der PDS bzw. LINKEN. Doch nach wie vor teilen wesentliche Teile der Parteibasis diese Anpassung an den Zeitgeist nicht, und nicht wenige junge Linke interessieren sich durchaus für eine alternative Sicht auf die DDR. Auch andere Differenzen charakterisieren das Klima in unserer Partei. Diese Differenzen verlaufen auch zwischen Genossinnen und Genossen, die sich in der Friedensfrage unbedingt einig sind. Wir fragen uns, wozu diese Auseinandersetzungen gut sein sollen, und beteiligen uns daran möglichst nicht.
     
  7. Wir sind Sahra für ihre Rolle beim Zustandekommen des Manifests für Frieden und der gewaltigen Friedenskundgebung am 25. Februar 2023 außerordentlich dankbar. Und mehr als das. Wir sind uns dessen bewusst: Niemand in unserer Partei außer ihr wäre in der Lage, eine solche Breite an Unterstützung zu organisieren. Und – um es gleich zu sagen: Sahra hat sofort, nachdem Chrupalla die Petition unterschrieben hatte, öffentlich erklärt, dass eine Unterstützung seitens der AfD nicht erwünscht ist. Oskar Lafontaine und Diether Dehm hätten gut daran getan, auf ihre völlig überflüssigen Bemerkungen zur AfD zu verzichten, die nur den Gegnern der großartigen Initiative von Sahra und Alice Schwarzer Nutzen brachte. Und noch etwas: dankbar sind wir Sahra ebenso für ihre glänzende und gleichermaßen mutige Rede im Bundestag am 8. September 2022[13]. Unsere Übereinstimmung mit Sahra in elementaren Fragen bedeutet nicht, dass wir mit allen von ihr vertretenen Positionen einverstanden sind. In manchen Fragen haben wir durchaus Differenzen. Ein halbes Jahr vor den Bundestagswahlen ein Buch vorzustellen, welches die sogenannte Identitätspolitik in den Mittelpunkt der Kritik stellt und in dem weder Friedenspolitik vorkommt, noch eine antikapitalistische Stoßrichtung zu verzeichnen ist, war nicht hilfreich. Vielmehr hat dieses Buch dazu beigetragen, Nebenschauplätzen eine sehr übertriebene Bedeutung beizumessen. Und es hat auch dazu beigetragen, Klischees, die über Sahra wegen ihrer ambivalenten Bemerkungen in der Flüchtlingskrise verbreitet werden konnten, zu verfestigen. Das heißt nicht, dass die im Buch angesprochenen Probleme nicht existieren. Auch wir finden es unerträglich, dass fehlendes Gendern in diesem Land schlimmer erscheint als die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen. Auch wir finden es unerträglich, dass der Name Mohrenstraße weitaus mehr Empörung auslöst als fünf Millionen tote Kongolesen. Auch wir finden es unerträglich, wenn Menschen z.B. ihrer Homosexualität wegen diskreditiert werden oder Schlimmeres mit ihnen geschieht. Es ist kein Beweis für das Gegenteil, wenn wir verlangen, dass die stete Diskriminierung von Arbeitslosen oder Grundsicherungsempfängern nicht weniger Abscheu hervorrufen sollte und vor allem Widerstand. Mit anderen Worten: Wir akzeptieren nichts, was die Erniedrigten und Beleidigten gegeneinander ausspielt. Die Rechte und die Würde von Minderheiten zu verteidigen, war und ist stets die Sache der Linken. Aber die Minderheiten überproportional im Fokus zu haben und der Mehrheit der vom Kapital Ausgepressten nur randständige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, das bedeutet, einer modernen Form von »Teile und herrsche« auf den Leim zu gehen. Und die Auseinandersetzung zu diesen Fragen in unserer Partei zeugt davon, wie sehr wir an dem Leim schon kleben. Wer daran Zweifel hat, der sei auch diesbezüglich an den Erfurter Parteitag erinnert, auf dem im Namen des Feminismus Zeitabläufe manipuliert wurden, die eine notwendige Debatte zu den dringlichsten Fragen auf ein Minimum reduzierten. So verteidigt man Frauenrechte nicht, so beschädigt man sie. Und noch etwas: Alle das nd Lesenden mögen die in diesem Referat getroffenen Feststellungen täglich überprüfen. Sie werden sie bestätigt finden. Abschließend noch ein an Irrsinn grenzendes Beispiel, über welches die junge Welt am 7. Februar 2023 berichtete. Ein Kulturzentrum im niederländischen Groningen hat die Aufführungen des Stückes »Warten auf Godot« von Samuel Beckett gestrichen, weil darin nur Männer spielen. Die Landstreicher Estragon und Wladimir, Herr Pozzo und sein Diener Lucky und ein Junge als Bote Godots sind nun einmal Männer, und sie sind nun einmal die einzigen Personen im Stück. Becketts Stück ist absurdes Theater. Der Umgang mit diesem Kunstwerk von Weltrang übertrifft dessen Absurdität um ein Vielfaches.

Wunschdenken ist unsere Sache nicht

Kommen wir noch einmal auf Sahra zurück. Wir unterstreichen heute die Überlegungen von Gesine Lötzsch, dass Sahra nicht die alleinige Verantwortung für die in der Partei entstandene Lage zugewiesen werden kann.[14] Die KPF hat es an diesbezüglicher Klarheit nie fehlen lassen. Allein seit der letzten Bundeskonferenz am 26. November 2022 haben wir vier Erklärungen abgegeben, in welchen die Solidarität mit Sahra gegen die unerträglichen Angriffe seitens führender Genossinnen und Genossen der LINKEN bekundet wird, bzw. Initiativen befürwortet werden, an deren Zustandekommen Sahra maßgeblich beteiligt war. Es sind die folgenden Erklärungen:

  • Wer führt uns in die Gosse? Eine linksprogressive Glosse. Oder: Warum Wagenknecht an allem schuld ist. (8. Dezember 2022)
     
  • Aufruf zur Teilnahme an der Kundgebung am 25. Februar 2023 am Brandenburger Tor. Offener Brief an den Vorstand der Partei DIE LINKE. (14. Februar 2023)
     
  • Eine Querfront kennt ihre Führer. Erklärung des Bundessprecherrates nach der Kundgebung am 25. Februar 2023 (1. März 2023)
     
  • Lasst endlich die Partei zu Wort kommen. Offener Brief an die Vorsitzenden der Partei DIE LINKE (24. März 2023)

In diesem offenen Brief forderten wir, dass die Parteivorsitzenden ein gemeinsam von Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht verfasstes und an ihre Adresse gesandtes Papier veröffentlichen sollten. Gregor Gysi hatte dazu gesagt, sie – die Vorsitzenden – »sollten bloß sagen, dass sie es (das Papier) im Kern gut finden«, was er und Sahra vorgelegt hatten. Janine und Martin antworteten auf unseren offenen Brief unter anderem, dass wir uns, da sie ja nicht die Autoren des Papiers seien, doch bitte direkt an Gregor wenden müssten. Wir teilten daraufhin mit, dass wir das nicht tun werden, weil unser Anliegen ist, die Parteimitgliedschaft einzubeziehen, wenn ein Gesprächsangebot der vielleicht prominentesten Protagonisten der LINKEN vorliegt. Der Bundessprecherrat wurde gestern zum Gespräch eingeladen.

An Solidarität mit Sahra haben wir es nie fehlen lassen. Allerdings leisten wir niemandem Gefolgschaft. Wir halten es für nicht verantwortbar, dass Sahra in dieser sozial aufgeladenen, international äußerst gefährlichen Situation zunächst seit Monaten in der Schwebe hielt, ob sie eine neue Partei gründen will, um dann im März anzukündigen, bis Ende des Jahres entscheiden zu wollen, ob eine neue Partei konstituiert werden soll. Und das kurz nach der Friedenskundgebung vom 25. Februar, die unter Beweis stellte, welchen Rückhalt Sahra nicht zuletzt in ihrer Partei hat. Dieser Rückhalt hätte eine innerparteiliche Kampfansage ermöglicht. Stattdessen suhlen sich die bürgerlichen Medien im Schlamm der Spekulationen und Denunziationen. Ein Interview jagt das nächste, und die Journaille, die seit Jahrzehnten auf die Zerstörung der LINKEN bzw. der PDS hingearbeitet hat, fragt voller Vorfreude wieder und wieder, wann es denn so weit ist mit der neuen Partei und wer denn dabei sein wird. Merkwürdigerweise fragen sie nicht nach einem Programm! Dieser Freudentanz der Journaille müsste doch stutzig machen. Offenkundig nicht. Vielmehr erfreut er jene in der Partei, die die schwachsinnige Überzeugung haben, wenn Sahra ginge, zöge Ruhe ein und alles ließe sich zum Guten wenden. Sie meinen wohl, die vielen Genossinnen und Genossen, die dann die Partei verließen, seien leicht zu ersetzen durch diejenigen, die sich mittlerweile von den Grünen abwenden. Was für eine intellektuelle Fehlleistung. Welches Mittelmaß.

In all dem Schlamm gehen Stimmen der Vernunft einfach unter; genannt seien Gregor Gysi, Dietmar Bartsch, Gesine Lötzsch, Sören Pellmann, und auch wir zählen uns dazu. Deshalb haben wir auch die im nd vom 15./16. April 2023 veröffentlichte Erklärung »Es reicht!« unterstützt. Ungezählte Genossinnen und Genossen an der Basis sind verzweifelt und beinahe hilflos. Sie wollen die politische Linie des Parteivorstandes nicht mehr – völlig zu Recht. Aber sie wollen ebenso wenig eine Parteispaltung. Ein Dilemma. Gäbe es eine Lösung? Wie wäre es damit, in der Partei zu kämpfen, statt nur noch über Medien zu wirken, statt sukzessive einflussreiche Positionen aufzugeben, informelle Strukturen zu initiieren, derer man sich bedient oder aus denen man sich zurückzieht – wie es gerade passt –, wie wäre es damit, um Mandate auf Parteitagen zu ringen, was allerdings voraussetzt, an der Parteibasis zu arbeiten, auf Parteitagen Positionen zu vertreten und Ähnliches mehr. Seit 2018 läuft der Rückzug. Wir können und wollen das nicht gutheißen und werden das auch nicht unterstützen. Wir sind überzeugt: Gründete Sahra eine neue Partei, dann würde das weder die LINKE überleben noch würde Sahra es schaffen. Denn all die Alltagsarbeit, die seit Jahren von Sahra und manchen ihrer Weggefährten unterschätzt wird, würde unverzichtbar sein, sollte eine neue Partei mehr werden als eine Blase, vergleichbar mit »Aufstehen«. Und die Journaille wird den Prozess einer Konsolidierung einer solchen mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln verunmöglichen und die Dienste werden mit Einflussagenten das ihrige tun. Sahra, bitte bleib in der LINKEN und kämpfe dort mit den vielen, deren Solidarität Du hast. Die Basis ist auch die Partei. Das ignorieren nicht nur die rechten Liquidatoren, sondern auch ihr linker Flügel vergisst das zu oft.

An dieser Stelle noch eine Bemerkung zu einem weiteren aktuellen Thema: Es häufen sich Forderungen nach einem Sonderparteitag. Hingegen sind keine Forderungen zu hören, den Europaparteitag vom 17. bis 19. November 2023 langfristig vorzubereiten, damit die Absicht zunichte gemacht wird, mit dem Europawahlprogramm die friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei zu schleifen. Auch wird nicht dazu aufgerufen, dass Genossinnen und Genossen des linken Flügels der Partei für die VertreterInnenversammlung kandidieren sollten. Und dass überlegt wird, wer von den Verteidigern der friedenspolitischen Grundsätze für die Liste zum Europäischen Parlament kandidieren könnte, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Was aber soll im Ergebnis eines Sonderparteitages herauskommen, der objektiv bestenfalls wenige Monate vor dem Europaparteitag stattfinden könnte, worum nicht auf dem Europaparteitag gekämpft werden könnte? Diese Frage hat uns bisher niemand beantwortet. Und ebenso wenig haben wir bisher darüber erfahren können, was auf einem Sonderparteitag mit den gleichen Delegierten wie auf dem Erfurter Parteitag anderes herauskommen soll als im Juni 2022. Die Frage wird doch nicht irrational, weil sie auch der Bundesgeschäftsführer gestellt hat. Und noch etwas. Wir halten die Delegierten nicht für Betonköpfe, die nicht neu über eine neue Situation nachdenken können. Solche Delegierte gibt es sicher auch. Aber – wer wie wir in Erfurt dabei war und gekämpft hat, muss die Vorstellung für unrealistisch halten, auf einem Sonderparteitag eine andere politische Linie als die des gegenwärtigen Vorstandes durchsetzen zu können. Wunschdenken ist unsere Sache nicht. Wir sehen es so: Ein solcher Sonderparteitag brächte keinen inhaltlichen Gewinn, es sei denn, man betrachtet es als positiv, dass die tiefen Gräben in der Partei noch mehr sichtbar werden und noch mehr von der Journaille ausgeschlachtet werden können. Wem das gleichgültig ist, der muss um einen Sonderparteitag kämpfen. Die KPF wird sich daran nicht beteiligen. Wir plädieren in unserem heutigen Beschlussentwurf für eine Strategiekonferenz im Vorfeld des Europaparteitages.

Wenden wir uns wieder den Mühen der Ebene zu. In der von uns nicht gewollten aber wohl bevorstehenden Programmdebatte sollten wir unsere klassenkämpferischen und internationalistischen Positionen so definieren, dass die Pseudo-Auseinandersetzungen zum Thema Identitätspolitik zumindest bedeutend erschwert werden.

Ausgehend vom Erfurter Parteitagsbeschluss sind der Parteivorstand und die Internationale Kommission des Parteivorstands beauftragt, einen Diskussionsprozess zur Weiterentwicklung der friedenspolitischen Positionen der LINKEN zu organisieren »und auf dieser Basis Optionen zu erarbeiten, die auf dem Bundesparteitag der LINKEN im Jahr 2023 zur Abstimmung gestellt werden«.[15] Im Beschluss des Bundesausschusses »DIE LINKE aufbauen!«[16] wird der Parteivorstand beauftragt, den Prozess der politisch-programmatischen Weiterentwicklung zu organisieren. Anscheinend ein Widerspruch. Hier geht es um die friedenspolitischen Positionen, dort gleich um die Weiterentwicklung des Parteiprogramms in Gänze. Allerdings lässt sich der Widerspruch schnell auflösen: Es geht um die Außenpolitik und damit um das Gesamtprogramm. Wenn die friedenspolitischen Grundsätze der Partei qualitativ verändert würden, könnten alle anderen Abschnitte des Parteiprogramms unverändert bleiben: Es wäre dann ein neues Programm, denn das Alleinstellungsmerkmal der LINKEN wäre liquidiert. Wir unterstellen: Auf dem im November 2023 stattfindenden Europaparteitag sollen die in einem Diskussionsprozess erarbeiteten Optionen zur Abstimmung gestellt und mutmaßlich Teil des Europawahlprogramms werden. Die zu erwartende Taktik wird wohl sein: Nicht das Parteiprogramm ist Grundlage für die friedenspolitischen Prinzipien im Europawahlprogramm, sondern letzteres soll als Parteitagsbeschluss das Parteiprogramm infrage stellen, mit der Begründung, die Welt sei 2011 eine andere gewesen als 2023.

Am 27. Januar 2023 wurden die Gliederungen und Zusammenschlüsse vom Bundesgeschäftsführer aufgefordert, bis zum 1. März 2023 auf Fragestellungen zu reagieren, ausgehend von den im Beschluss »DIE LINKE aufbauen!« benannten Schwerpunkten, die – angeblich – einer Weiterentwicklung bedürfen.

Wir haben selbstverständlich auf diese Aufforderung reagiert und unsere Reaktion in den März-Mitteilungen veröffentlicht.[17] Wir haben in unserem Papier unmissverständlich formuliert, wie wir die Lage sehen.

Jetzt kommt es darauf an, massenhaft Reaktionen zu organisieren, die eines verdeutlichen: Es ist alternativlos, dass die Linke bei folgenden friedenspolitischen Positionen bleibt:

  1. DIE LINKE lehnt die NATO ab und bleibt daher bei der Forderung nach deren Auflösung.
     
  2. DIE LINKE bleibt bei ihrer Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
     
  3. DIE LINKE bleibt auch weiterhin bei ihrer Forderung nach einem europäischen Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands.

Nur wenn es uns gelingt, nachweisbar deutlich zu machen, dass diese Eckpunkte für eine Mehrheit der Mitglieder unserer Partei und für Sympathisantinnen und Sympathisanten unverzichtbar sind, können wir den erneuten Angriff auf die friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei zurückweisen. Geschieht dies nicht, so wird der Verrat an diesen Prinzipien das Schicksal unserer Partei besiegeln.

Überzeugungen von Rosa und Karl hochhalten

Nach dem 15. Januar 2023 haben uns nicht wenige Linke angesprochen, um ihre tiefempfundene Freude über das Gelingen der Demonstration im Rahmen der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung zum Ausdruck zu bringen. Ob es die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war – 12.000 bis 13.000 demonstrierten in disziplinierter, geschlossener Formation – oder ob es die Stimmung unter den meist jungen Menschen war: Der Zug belegte, dass die Linke lebt und eine Zukunft hat; so schwer der politische Alltag für Linke auch ist. Das Bündnis zur Vorbereitung der Demonstration arbeitete kontinuierlich seit September 2022 in einer sachlichen, vertrauensvollen Atmosphäre, auf der inhaltlichen Basis eines guten Aufrufs. Einen gemeinsamen Aufruf in einer politisch extrem angespannten gesellschaftlichen Atmosphäre hinzubekommen, ist Ausdruck dessen, dass die Bündnismitglieder bereit waren, den gemeinsamen Nenner zu finden. Das setzte voraus, sich gegenseitig nicht zu überfordern. Organisatorische Schwächen in Vorbereitung der Demonstration wurden in der Auswertungsrunde am 23. Januar 2023 schonungslos angesprochen und es wurden entsprechende Schlussfolgerungen gezogen. Die Zusammenarbeit mit dem Berliner Landesvorstand verlief sachlich und wir danken den MdBs Sevim Dağdelen, Żaklin Nastić und Andrej Hunko für ihr solidarisches Verhalten. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Sevim wäre manches womöglich weniger gut verlaufen. Die Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der Demonstration war nicht schlecht, kann aber intensiviert werden. Wir danken der jungen Welt für ihre Mobilisierungsunterstützung und ebenso für die sachlich-freundliche Auswertung des 15. Januar 2023. Auch die Berichterstattung des nd war hilfreich, frei von den sonst üblichen Spitzen. Leider folgte dem Bericht von Andreas Fritsche vom 15.01.2023 ein Kommentar von Karsten Krampitz vom 20.01.2023 mit gänzlich anderem Charakter. Wir kommen darauf zurück.

Nach der Demonstration ist vor der Demonstration. Am 14. Januar 2024 treffen wir uns erneut auf der Frankfurter Allee, Ecke Warschauer Straße. Wir können also schon heute mit der Vorbereitung der Demonstration beginnen. Wir bitten alle Landessprecherräte, die es noch nicht getan haben, bis zum 30. Juni darüber zu beraten, wie der Beitrag ihres Bundeslandes zum Gelingen der jüngsten Demonstration einzuschätzen ist und welche nächsten Schritte geplant und realisiert werden. Wir bitten ebenso darum, zeitnah auf einer Seite die Ergebnisse dieser Verständigung an den Bundessprecherrat zu senden, damit auf dieser Grundlage auf der Bundeskoordinierungssitzung im September 2023 eingeschätzt werden kann, welche Voraussetzungen durch die KPF für die ebenfalls im September 2023 beginnenden Demo-Vorbereitungen gegeben sind. Wir bitten alle, diese Zeitschiene einzuhalten. Das ist das organisatorische Minimum für eine geschlossene Vorbereitung des 14. Januar 2024. Inhaltlich werden wir auch für die Demonstrationsvorbereitungen unsere Mitteilungen nutzen und danken allen Spendern, die es ermöglicht haben, dass wir unsere diesbezügliche Selbstverpflichtung für das Jahr 2022 durch ein Spendenergebnis von mehr als 24.000 Euro überbieten konnten.

Abschließend einige Anmerkungen zu Karsten Krampitz‘ Kommentar »Wo wart ihr in Lützerath? Das seltsame Gedenken an Rosa Luxemburg«[18]. Sehen wir einmal davon ab, dass weder Karsten Krampitz noch wir wissen können, welche Demo-Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Beispiel aus NRW und naheliegenden Bundesländern in Lützerath waren, also mit einer Unterstellung Stimmung gemacht wird: Der Kommentar ist auch sonst eine Ansammlung von widerwärtigen Angriffen. »Die Linke«, so schreibt er, »liebt an Rosa Luxemburg die Leiche aber nicht die Lektüre. Darf man das sagen? Wer liest heute noch ihre Bücher?«, fragt Krampitz. Zunächst: Jede Geschmacklosigkeit ist erlaubt; auch die, dass die Linke Rosas Leiche liebt. Wenn Krampitz derlei Bemerkungen für niveauvoll hält, bitteschön. Unser Niveau ist das nicht, auch deshalb nicht, weil wir von Rosa Luxemburg nicht nur den Satz kennen: »Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.« Wir haben auch nicht nur ihre wunderbaren Briefe aus dem Gefängnis gelesen, die Empathie lehren können. Wir haben über ihre Sympathie für die russische Oktoberrevolution gelesen und natürlich kennen wir auch ihre bekannten Warnungen. Vor allem aber kennen wir ihr Werk »Sozialreform und Revolution«. Würde es Karsten Krampitz kennen und hätte er es gegebenenfalls verstanden, so wüsste er um den unversöhnlichen Antikapitalismus der Luxemburg. Und was sie auch zu den heutigen Zuständen im Einzelnen sagen würde und zum Untergang des europäischen sozialistischen Versuchs des 20. Jahrhunderts – eines ist sicher: Sie würde den Kapitalismus heute mindestens ebenso ablehnen, wie sie es bis zu ihrer Ermordung tat. Inmitten des Ersten Weltkrieges, 1915 schrieb sie: »Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie.«

Sie würde höhnen über Krampitz Worte: »Zwar ist nach der Novemberrevolution ohne Zweifel Schreckliches passiert, aber ein Martyrium von 1919 bezeugt noch keine Wahrheit im Jahr 2023. Die Welt ist heute eine andere. […] Von wegen ›Sozialismus oder Untergang‹. Für einen Systemwechsel reicht scheinbar die Zeit nicht mehr, Systemwandel ist eine Illusion.« Soweit noch einmal Krampitz. Wer mit ewigen Wahrheiten, nämlich dass die Welt heute eine andere ist als die gestrige, den Kapitalismus als das Ende der Geschichte akzeptiert, der sollte von Rosa Luxemburg schweigen. Übrigens: »… ein Martyrium von 1919« bezeugte schon keine Wahrheit im Jahr 1933. 1919 begann das historische Vorspiel für die zwölfjährige Nacht des Faschismus. Und wie wir heute tagtäglich erfahren, kann es noch schlimmer kommen – in einem nuklearen Inferno. Aber: Ob 1919, 1933 oder 2023 – immer sind es die Kapitalinteressen, ist es das Streben nach bestmöglichen Bedingungen für die Profitmaximierung, ist es der »Terror der Ökonomie« – welcher die Barbarei nicht nur befördert, sondern zunehmend benötigt. Krampitz wischt das mit einem lapidaren Satz vom Tisch der Geschichte. »Von wegen ›Sozialismus oder Untergang‹«.

Um Missverständnisse zu vermeiden: In Anbetracht des Weltzustandes in der festen Überzeugung zu verharren, der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus sei eine unausweichliche Gesetzmäßigkeit, hieße den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Aber solange nicht die ganze Erde brennt, gilt es, das Bewusstsein zu schaffen, dass entweder der Kapitalismus überwunden wird oder die Zivilisation in der Barbarei versinkt. Krampitz will es bei Lützerath belassen. Wir sehen Lützerath als Teil des notwendigen antikapitalistischen Kampfes. Menschen, die diese Sicht auf die Welt haben, hält Krampitz offensichtlich für nicht zurechnungsfähig. Er schreibt über die LL-Demonstration: »Es ist das Deutschlandtreffen linksbekloppter Splittergruppen! Lothar Bisky«, so Krampitz weiter, »sprach einmal vom ›stalinistischen Wanderzirkus‹«. Nun – über Tote nichts Schlechtes. Bei Karsten Krampitz allerdings fragen wir uns: Warum diese beleidigenden Denunziationen? Da dies nicht unser Stil ist, lassen wir einfach einmal stehen, dass auch wir zu den linksbekloppten Zirkusangestellten gehören. Lieber das, als vor dem Kapitalismus kapitulieren. Wir werden jedenfalls die antikapitalistischen, antiimperialistischen, antimilitaristischen und daher sozialistischen Überzeugungen von Rosa und Karl hochhalten.

 


[1] Jörg Tiedjen: »Lange erwarteter Besuch«, junge Welt, 2. Februar 2023

[2] Jörg Tiedjen: »Geschundenes Land«, junge Welt, 3. April 2023

[3] Siehe: Marxistische Blätter, Ausgabe 2023/1

[4] ARD-Sendung vom 3. April 2023

[5] »General wünscht mehr Bereitschaft zum Krieg«, nd, 11. April 2023

[6] Arnold Schölzel: »Auch ein Leopard kommt nur bis Stalingrad«, junge Welt, 26. Januar 2023

[7] Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung 24 vom 25. Januar 2023

[8] Raul Zelik: »Probleme oben, Probleme unten«, nd, 20. Dezember 2022

[9] Nico Popp: »Hitler-Putin-Gegner des Tages: Bodo Ramelow«, junge Welt, 4. April 2023

[10] Vgl. Eric Waddell: »World Conquest: The United States’ Global Military Crusade (1945- )«, 16. Dezember 2003, https://www.globalresearch.ca/the-united-states-global-military-crusade-1945 sowie »Instances of Use of United States Armed Forces Abroad, 1798-2022«, Congressional Research Service, 8. März 2022, https://crsreports.congress.gov/product/pdf/R/R42738

[11] Jürgen Wagner: »Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zur Aufrüstung und Militarisierung«, PapyRossa Verlag, 2022, ISBN 978-3894387914

[12] Gerd Bedzent: »Keine Zurückhaltung mehr«, junge Welt, 23. Januar 2023

[13] Dokumentiert im Heft 10/2022 der Mitteilungen

[14] »Lötzsch gegen Ausschluss Wagenknechts«, Interview von ZDFheute, 24. März 2023

[15] Änderungsantrag L03.172.1 des Parteivorstands zum eigenen Leitantrag L03, »Keine Aufrüstung, kein Krieg. Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität«

[16] Beschluss 2022/L02 des Bundesausschusses vom 18. September 2022

[17] »Ist es wahr, dass Sie Ihre Frau nicht mehr schlagen? Positionen der KPF zum Diskussionsprozess zur programmatischen Weiterentwicklung«, Mitteilungen der KPF, Heft 3/2023

[18] Karsten Krampitz: »Wo wart ihr in Lützerath? Das seltsame Gedenken an Rosa Luxemburg«, nd, 20. Januar 2023 (Druckausgabe: 21./22. Januar 2023)