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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Geburtstagsfeier für Bersarin?

Dr. Gesine Lötzsch, Berlin

 

Am 1. April 2024 wäre Nikolai Erastowitsch Bersarin 120 Jahre alt geworden. Wird es eine Geburtstagsfeier für ihn geben? Wer würde diese Feier ausrichten? Wer würde einer Einladung Folge leisten? Würde Bundeskanzler Scholz, Bundespräsident Stein­meier und der Regierende Bürgermeister Wegner kommen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Geschichte schon wieder neu geschrieben wird und dabei vieles unter den Tisch fällt.

Einige Politiker haben scheinbar vergessen, wer Auschwitz und später Berlin befreit hat. Die Leistung der Roten Armee werden immer häufiger verschwiegen. Das ist unanstän­dig. Ja, die russische Regierung führt einen Krieg gegen die Ukraine. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Doch Waffenstillstand oder sogar Frieden werden aus dem Wortschatz der Regierungsfraktionen gestrichen. Die Bundesregierung liefert immer mehr Waffen und Munition in die Ukraine. Damit trägt die Bundesregierung eine Mitverantwortung für den Tod von Tausenden Soldaten, Frauen und Kindern. Verantwortung übernehmen heißt heute Kriege beenden. Das erfordert allerdings mehr Mut, als Kriege am Laufen zu halten. Diesen Mut hat die Bun­desregierung nicht.

Würde Bersarin heute wieder Ehrenbürger Berlins werden?

Am 11. Februar 2003 beschloss der Berliner Senat, dem ehemaligen Stadtkommandan­ten Bersarin die Ehrenbürgerwürde Berlins wiederzuverleihen. Bereits drei Jahre zuvor – noch zu Zeiten der Großen Koalition von CDU und SPD – sollte der Beschluss umge­setzt werden. Doch nichts passierte.

Die 5. Armee unter Führung Bersarins erreichte 1945 als erste sowjetische Einheit die Berliner Stadtgrenze. Bersarin wurde nach dem Krieg der erste alliierte Stadtkomman­dant. Mit großem Engagement nahm er die Reparatur der völlig zerstörten Strom- und Wasserleitungen in Angriff und baute eine Kommunalverwaltung auf. Die Bevölkerung wurde mit Lebensmitteln versorgt. Er setzte sich dafür ein, dass Theater und Kinos wie­der spielen konnten. Das erste Symphoniekonzert für die Berliner fand am 16. Mai statt, nur eine Woche nach der Kapitulation. Als Stadtkommandant sorgte er dafür, dass im zerstörten Berlin wieder eine Zeitung erschien und setzte sich für die Inbetrieb­nahme des Rundfunksenders ein. Zeitzeugen berichten über den hohen persönlichen Einsatz, den der Stadtkommandant bei der Wiederherstellung des öffentlichen Lebens an den Tag legte. Übergriffe und Plünderungen durch seine eigenen Soldaten bestrafte er hart. Bersarin starb am 16. Juni 1945 bei einem Motorradunfall im Alter von nur 41 Jahren.

Im Sommer 1992 »bereinigte« der vom Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) geführte Senat die Ehrenbürgerliste mit einem Handstreich. Nach seiner politi­schen Auffassung durfte es nicht sein, dass ein Russe Ehrenbürger der Hauptstadt ist.

Da war es auch nicht verwunderlich, dass der gleiche Diepgen die Umsetzung des Par­lamentsbeschlusses vom Sommer 2000 boykottierte. Während der Koalitionsverhand­lungen von SPD und PDS setzte ich mich in der zuständigen Arbeitsgruppe dafür ein, dass dieser Beschluss nun endlich umgesetzt wird. Aus meiner Sicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es gab aber auch einige Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die Angst hatten, wir könnten mit diesem Beschluss die Westberliner verschrecken. Diese Bedenkenträger vergaßen geflissentlich, dass sich zum Beispiel bei einer Umfra­ge des Tagesspiegels – der vor allem im Westen der Stadt gelesen wird – eine Mehrheit für die Rehabilitierung des 1. Stadtkommandanten Bersarin entschieden hatte. Zudem gab es unter diesen Menschen nicht wenige Westberliner, die sich seit Jahren auch mit finanziellen Mitteln für Besarin engagierten.

Geschichte darf nicht umgeschrieben oder relativiert werden

Als damaliges Mitglied des Abgeordnetenhauses beauftragte ich den Historiker Lutz Prieß, eine Broschüre über das Wirken von Bersarin zu erarbeiten. Diese Broschüre wurde an zahlreiche Vereine, Bibliotheken und Einzelpersonen verschickt. Damit wollte ich einen Beitrag zu einer wichtigen Debatte in unserer Stadt leisten. Das war aber nur der erste Schritt. Der nächste musste sein, die Wiederaufnahme Bersarins in die Ehren­bürgerliste Berlins auch würdig zu begehen.

Zwei Monate später wurde im Festsaal des Abgeordnetenhauses Nikolai E. Bersarin die Würde als Ehrenbürger Berlins wiedergegeben. Die Enkeltochter Alexandra bedankte sich mit bewegenden Worten. Die PDS-Fraktion hatte diejenigen eingeladen, die sich seit Jahren für eine gerechte geschichtliche Bewertung eingesetzt hatten. Viele sind inzwischen enge Freunde geworden. Als ich Alexandra und ihren Mann Pjotr durch den Reichstag führte, begleitete mich eine Dolmetscherin, deren Vater kommunistischer Reichstagsabgeordneter war und nach dem Reichstagsbrand verhaftet wurde. Geschichte bleibt lebendig, wenn wir sie lebendig halten.

Heute müssen wir feststellen, dass es nicht nur darum geht, Geschichte lebendig zu halten. Wir müssen heute dafür kämpfen, dass Geschichte nicht umgeschrieben wird. Der furchtbare Krieg zwischen Russland und der Ukraine darf nicht missbraucht wer­den, um den 2. Weltkrieg umzuinterpretieren. Es bleibt dabei: Deutschland hat ganz Europa in den Krieg gestürzt. Deutschland trägt die Verantwortung für über 50 Millio­nen Tote.

Die Linke ist in der Defensive. Sie wird nicht erfolgreich sein, wenn sie dem Mainstream folgt und die Geschichte relativiert. Geschichte darf nicht als Verhandlungsmasse bei Koalitionsverhandlungen missbraucht werden.

Ich werde am 1. April mit einem Glas Wodka auf Bersarin anstoßen. Wir haben ihm viel zu verdanken!

 

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