Für mich wiegen die Errungenschaften schwerer
Interview mit Ursula Jeske, Berlin
Vor 50 Jahren, im Februar 1965, beschloss die Volkskammer der DDR das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Wir kommen auf dieses Gesetz zurück. Du hast 36 Jahre in der Volksbildung gearbeitet, warst 15 Jahre Direktorin einer zehnklassigen polytechnischen Oberschule. Wie war Dein Werdegang?
Gelernt hatte ich den Beruf einer Textilfachverkäuferin. Ich war aktiv in der FDJ und Arbeit mit Kindern machte mir immer Spaß. 1956 begann in Prenzlauer Berg meine Tätigkeit als Pionierleiterin. In Sommerswalde - dort wurden Pionierleiter ausgebildet - absolvierte ich meine erste Lehrerprüfung. Danach wurde ich Referentin für außerschulische Erziehung in der Abteilung Volksbildung in Berlin Prenzlauer Berg und machte extern meine zweite Lehrerprüfung als Unterstufenlehrerin. Ab 1966 arbeitete ich als Lehrerin an der 24. Oberschule Prenzlauer Berg, war zugleich ehrenamtliche Parteisekretärin und wurde 1970 stellvertretende Direktorin für außerunterrichtliche Tätigkeit. In einer Frauensonderklasse wurde ich zur Diplompädagogin ausgebildet.
Was ist eine Frauensonderklasse?
Frauen, die für Leitungsfunktionen vorgesehen waren, wurden ein Jahr von der Arbeit freigestellt und von der Volksbildung bezahlt. Ich war mit einem NVA-Offizier verheiratet. Wir hatten seinerzeit zwei, später drei Kinder und diese Qualifizierungsform war für Frauen wie mich eine große Möglichkeit. Mir ging es nie darum, Karriere zu machen. Man sagte mir, Du wirst gebraucht und ich war bemüht, das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Dabei war ich mit Herz und Verstand Pädagogin und weiß gerade heute: Diese Entwicklung - aus einem Arbeiterhaushalt kommend, von der Textilfachverkäuferin zur Schuldirektorin - konnte ich so nur in der DDR nehmen. Natürlich nicht ohne eigenes Zutun. Ohne Zielstrebigkeit, ohne den Willen, zu lernen und gut zu arbeiten, hätten mir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch nichts genützt. Aber ohne diese Bedingungen wäre es ebenso wenig möglich gewesen. Und ich war keine Ausnahmeerscheinung. Einen solchen Weg sind - in den verschiedensten Berufen - ungezählte Frauen in der DDR gegangen.
Zurück zur Volksbildung. In der DDR war stets die Rede von der Einheit von Bildung und Erziehung. Was hieß das für eine Pädagogin, einen Pädagogen?
Als Klassenlehrerin und auch später als Direktorin hatte ich stets einen guten Draht zu den Schülern. Sehr wichtig waren mir die Kontakte zu den Eltern, speziell zum Elternaktiv, aber auch die Beziehungen zur Patenbrigade und zu anderen gesellschaftlichen Kräften. Stets waren wir um einen qualifizierten Fachunterricht bemüht, der von gut ausgebildeten Lehrern durchgeführt wurde. Aber, es ging um mehr. Es ging um die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zum Frieden, zur Völkerfreundschaft und zum Antifaschismus. Das wird heutzutage als Ideologisierung abgetan. Damit muss niemand mehr über Wertvorstellungen, die wir vermittelten, nachdenken. Um es konkret zu machen: Unsere Schule trug den Namen Rudolf Gyptner. Der war ein deutscher Antifaschist, sollte mit dem Fallschirm für die Rote Armee im deutschen Hinterland abspringen, landete aber im okkupierten Polen, wurde verraten und von der SS und Gestapo gefasst und ermordet. Seinen Namen erhielt unsere Schule nicht einfach so. Wir selber schlugen vor, um den Namen Rudolf Gyptner zu kämpfen. Klassen erhielten Forschungsaufträge, nahmen Kontakt zu Familienangehörigen auf, zu Brigaden in Betrieben, die seinen Namen trugen und auch zu einem, diesen Namen tragenden NVA-Regiment. Besonders berührend waren die Gespräche mit Gyptners Pflegemutter Luise Zenk. Als uns der Name verliehen wurde, wussten die Schüler um das Leben und die Motive Rudolf Gyptners, hatten sie sich ein Stück ganz konkreter Achtung vor antifaschistischer Haltung erworben. Im Übrigen kämpften, wie wir, alle Schulen in Prenzlauer Berg um einen Namen, oftmals um einen antifaschistischen. Was daran negativ sein soll, erschließt sich mir nicht. Oder nehmen wir die Erziehung zur Solidarität. Da wurden Bleistifte für das im US-Bombenhagel liegende Vietnam gesammelt, abertausende Briefe erreichten Angela Davis im US-Gefängnis, Solidaritätsbekundungen für Nelson Mandela und den chilenischen KP-Vorsitzenden Luis Corvalán gehörten zu unserem Alltag. Als Angela Davis nach ihrer Freilassung in die DDR kam, war vorgesehen, dass sie von etwa 5.000 Pionieren und FDJlern auf dem Flughafen empfangen wird. 50.000 kamen nach Schönefeld. Ähnlich war es bei Luis Corvalán. Alles verordnet? Blödsinn. Oder ein ganz anderes Beispiel. Zwischen der 870. Moskauer Oberschule und uns gab es eine lebendige Patenschaftsbeziehung. Alle zwei Jahre fuhren 30 unserer Schüler gemeinsam mit ihren Russischlehrern in die sowjetische Hauptstadt, und im Jahr dazwischen kamen die Moskauer zu uns. Untergebracht waren wir in der Schule. Am lebhaftesten in Erinnerung blieb vielen der Tag der Familie, die sprichwörtliche russische Gastfreundschaft. Das stimulierte letztlich auch das Interesse am Russischunterricht. Ich bin überzeugt: Solche zehntausendfachen Erlebnisse, ich denke da auch an die FDJ-Freundschaftszüge in die SU, sind nicht vergessen. Auch wenn es heutzutage unüblich ist, darüber zu reden.
Das klingt alles sehr perfekt. Gab es auch anderes?
Selbstredend. Ich erinnere mich an die sogenannte »Aktion Ochsenkopf«. Da verpflichteten sich die Schüler - und das unter moralischem Druck - kurz nach dem 13. August 1961, keine Westsender mehr zu sehen und zu hören. Kaum einer hielt sich daran. Aber es wurde nicht darüber geredet. So wird Heuchelei gezüchtet und so vertat man die Möglichkeit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was über die bürgerlichen Medien in die Köpfe unserer Schüler gelangte. Damals habe ich das nicht so gesehen, aber ich weiß seit langem, dass das falsch war und uns geschadet hat. Oder ein anderes Beispiel: In meiner Schule waren Mitglieder der Jungen Gemeinde. Diese und der Jugendpfarrer luden zum Gespräch ein. Die Abteilung Volksbildung untersagte die Teilnahme. Wir hätten uns diesen Auseinandersetzungen stellen müssen. In den letzten Jahren der DDR spitzten sich die Probleme zu. Staatsbürgerkunde habe ich dann nicht mehr gerne unterrichtet. Antworten auf die Alltagsfragen der Schüler wurden immer phrasenhafter, weil wir uns unsere Lage nicht eingestanden. Im Grunde genommen verloren wir die Jugend in den achtziger Jahren. Das wurde in der Wendezeit besonders deutlich. Und irgendwann wurden manche unserer »Antworten« unverantwortlich. 1989, ich war auch Stadtverordnete, wurde ich in die unabhängige Untersuchungskommission zur Aufarbeitung der Vorkommnisse vom 7. bis 9. Oktober 1989 berufen. Da waren Sicherheitskräfte gegen Demonstranten in einer brutalen Weise vorgegangen, wie ich das bis dahin in der DDR nicht für möglich gehalten hätte. Das hat bei mir schmerzliches Nachdenken ausgelöst und befördert, Dinge zu hinterfragen. Damit es keine Missverständnisse gibt: Am Versuch Sozialismus teilgenommen zu haben, darauf bin ich stolz, trotz der Fehler, die wir gemacht haben. Aber die DDR lässt sich ebenso wenig auf ihre Fehler reduzieren wie auf ihre Errungenschaften. Für mich allerdings wogen und wiegen die Errungenschaften schwerer.
Welche zum Beispiel?
Einige habe ich schon genannt. Hinzugefügt sei: Jedem Schüler war die Berufsausbildung sicher und danach ein Arbeitsplatz. Heutzutage hört man hin und wieder von saturierten Leuten, diese Fürsorge des Staates habe Menschen bequem gemacht. Da mag einiges dran sein. Ein Asthmatiker schätzt die normale Atmung, während ein Nicht-Asthmatiker gar nicht wahrnimmt, wie lebenswichtig die ist. Es ist kein Vorteil, krank zu sein, weil man dann die Gesundheit mehr zu schätzen weiß. Der polytechnische Unterricht machte die Schüler mit der Praxis vertraut. Bildungsschranken gab es nicht mehr. Privatschulen wären undenkbar gewesen. Schulgeld- und Lernmittelfreiheit waren Selbstverständlichkeiten. Der Lehrer spielte in der Gesellschaft eine geachtete Rolle. Im außerunterrichtlichen Bereich gab es ungezählte Möglichkeiten sinnvoller Freizeitgestaltung. In der Kinder- und Jugendorganisation, in Arbeitsgemeinschaften naturwissenschaftlicher, künstlerischer, sportlicher oder anderer Natur. Es war eigentlich niemand auf der Straße, musste es zumindest nicht sein. Ich könnte diese Aufzählung lange fortsetzen. Das würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Die Finnen haben das Bildungssystem der DDR nicht umsonst weitgehend für sich übernommen. Und ich erinnere mich an Gespräche mit Kreuzberger Direktoren in der Wendezeit, die uns sagten: Lasst Euch das nicht nehmen. Heute wissen wir: Nichts durfte bleiben. Ob das die Volksbildung betrifft, das Gesundheitswesen oder vieles andere. Alles fiel und fällt der Verteufelung der DDR zum Opfer. Ein Beleg dafür, dass wir nicht alles falsch gemacht haben können.
Lass uns noch einmal auf Deine Zeit als Schuldirektorin von 1973 bis 1988 zurückkommen. Welche sind Deine wesentlichen Erinnerungen an diese Jahre?
Ich war gerne Direktorin. Man hat sich für alles verantwortlich gefühlt. Ich war die erste in der Schule und verließ sie meist als letzte. Natürlich habe ich auch selber unterrichtet, habe bei meinen Lehrern hospitiert und von den besten immer wieder auch gelernt. Mein Augenmerk galt dem Hort, der Pionierorganisation und der FDJ, aber auch den technischen Kräften; natürlich immer in Zusammenarbeit mit meinen Stellvertretern. Wichtig waren die Beziehungen in das Wohngebiet hinein, zu den Volksvertretern und anderen gesellschaftlichen Kräften. Von besonderer Bedeutung waren die Kontakte zu den Eltern, vorwiegend über den Elternbeirat und die Elternaktive. Ohne die Eltern wäre vieles nicht gegangen. Prenzlauer Berg hatte - wie jeder Bezirk - ein Landschulheim für die Klassen 1 bis 4. Dort fand natürlich Unterricht statt, verbunden mit vielfältiger Freizeitgestaltung. Klassenleiter konnten sich für das Landschulheim anmelden und zwei Wochen dorthin fahren. Da wurden begleitende Eltern unbedingt gebraucht. Lehrer, die diese Möglichkeit nutzten, haben davon nicht zuletzt hinsichtlich des Lehrer-Schüler-Verhältnisses aber auch hinsichtlich der Beziehungen zu den Eltern profitiert. Ebenso wären die örtlichen Ferienspiele ohne Unterstützung der Eltern nicht durchführbar gewesen. Unser Bezirk hatte seinen Ferienspielplatz an der Regattastraße in Berlin-Grünau, direkt am Wasser. Hier konnten die Kinder ihren Interessen nachgehen. Ein spezieller S-Bahnzug brachte die Schüler täglich hin und zurück. Ein warmes Mittagessen war gesichert. Für drei Wochen örtlicher Feriengestaltung war die symbolische Summe von 1 Mark zu bezahlen. Ähnlich günstig war der Aufenthalt in zentralen oder Betriebs-Ferienlagern. Jedes Lager hatte einen Trägerbetrieb, der für das Materielle verantwortlich war. All diese Dinge und vieles mehr gehörten zum Spektrum meiner Direktorentätigkeit. Was ich machte, verlangte ich auch den Lehrerinnen und Lehrern im Verhältnis zu ihren Klassen ab. Die Pädagogen waren keine reinen Wissensvermittler, sondern gleichermaßen für die Erziehung verantwortlich.
Heute wird oft behauptet, die Individualität der Schüler sei im Kollektiv untergegangen. Habt Ihr Euch um den einzelnen bemüht?
Nach dem, was ich heute über die Situation an vielen Schulen höre, wäre ein Kümmern um die Individualität, wie es bei uns üblich war, eine lichtvolle Angelegenheit. Aber das nur nebenbei. Aus dem Prinzip der Einheit von Bildung und Erziehung ergab sich, dass Pädagogen alle Kinder im Blick haben mussten. Dass das mit unterschiedlichem Niveau geschah, hatte damit zu tun, dass das Engagement der Lehrer durchaus unterschiedlich war. Aber der Grundsatz des Herangehens war, dass ein Lehrer verantwortlich war für jedes einzelne Kind. Dazu gehörte nicht zuletzt, zu organisieren, dass die stärkeren Schüler den schwächeren halfen. Patenschaften über lernschwache Schüler in verschiedenen Fächern waren das Normalste von der Welt. Zugleich wurden die Leistungsstärksten durch Zusatzaufträge gefördert. Im Pädagogischen Rat berichteten die Lehrer über ihre diesbezügliche Arbeit. Hausbesuche bei den Eltern waren immanenter Bestandteil der pädagogischen Arbeit. Werktätige aus Patenbrigaden waren häufig so etwas wie eine moralische Instanz. Für besonders schwierige Fälle gab es nicht nur an meiner Schule eine Erziehungsberatungskommission. In ihr arbeiteten Vertreter der Jugendhilfe, der jeweilige Klassenleiter, der Abschnittsbevollmächtigte der VP, Vertreter des Wohngebiets und natürlich Mitglieder des Elternbeirates mit. Hier wurden einzelfallbezogen Maßnahmen beraten, wie besonders schwierigen oder leistungsschwachen Schülern geholfen werden kann, nicht selten auch im Zusammenhang mit komplizierten häuslichen Situationen. Oftmals brachte das voran. Im Extremfall wurde bei der Jugendhilfe ein Antrag auf Heimeinweisung gestellt. In den eineinhalb Jahrzehnten meiner Direktorentätigkeit kam es zweimal dazu.
Apropos Heimeinweisungen. Da wird jetzt so getan, als seien Exzesse, wie sie in der Bundesrepublik gerade auch in kirchlichen Einrichtungen vorkamen, auch in DDR-Heimen üblich gewesen. Kannst Du dazu etwas sagen?
Es kann in der DDR nichts besser gewesen sein als in der BRD. Dieser Grundsatz erklärt manches. Ich kann Euch nur empfehlen, in den Mitteilungen die Reportage aus dem ND vom 2./3. November 2013 zu dokumentieren, in der es um DDR-Kinderheime geht.
Kommen wir am Schluss dieses Interviews auf das von der Volkskammer vor 50 Jahren beschlossene Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem zurück. Es zu lesen, lohnt sich (siehe: www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz65.htm). Worin besteht für Dich das Wesentliche dieses Gesetzes?
In der Einheit von Bildung und Erziehung und der konkret gefassten Verantwortung der gesamten Gesellschaft hierfür. Eine hohe Allgemeinbildung für alle war gesichert. Das begann in den Kinderkrippen und -gärten und führte bis zu den Universitäten. Die zehnjährige Schulpflicht und der polytechnische Unterricht waren das Fundament. Hinzu kamen Spezialschulen verschiedenster Art, in denen besondere Talente früh entwickelt wurden. Über die inhaltlichen Erziehungsschwerpunkte habe ich einiges gesagt. Dieses Bildungssystem war einfach gut und den Kolleginnen und Kollegen, die es - sehr oft mit großem persönlichem Engagement - mit Leben erfüllten, gebührt Dank.
Was hast Du nach 1989/90 gemacht?
Als Sozialpädagogin leitete ich von 1992 bis 2000 das Projekt für Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien. Nach meiner Pensionierung führte ich diese Arbeit noch über Jahre ehrenamtlich weiter. Meine Klienten kamen vor allem aus Bosnien, aber auch aus anderen Teilrepubliken des früheren Jugoslawiens. Einige »meiner« Flüchtlinge halten bis heute zu mir Kontakt und ich gehöre nach wie vor zum Berliner Flüchtlingsrat. Warum das wichtig ist, muss ich hier in Anbetracht der Lage nicht ausführen.
Die Fragen stellte Ellen Brombacher.