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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Fünfzig Jahre neoliberale Wirtschaftspolitik

Prof. Dr. Thomas Kuczynski, Berlin

 

I

Es gibt historische Daten, die dem Zeitgenossen auf immer im Gedächtnis bleiben. Ein solches Datum ist für mich der 11. September, aber nicht der »nine-eleven« von 2001, als die Türme des World Trade Center einstürzten, sondern der von 1973, als in Chile die frei gewählte Regierung von Salvador Allende durch einen Militärputsch unter Führung von Augusto Pinochet gestürzt und durch eine Militärdiktatur ersetzt wurde.

Die in Chile 1970 begonnene sozialistische Revolution war deshalb so bedeutsam, weil sie andere Wege zur Überwindung des Kapitalismus einschlug als zehn Jahre zuvor die kubani­sche Revolution. Gerade weil letztere so erfolgreich war, schlugen alle Versuche fehl, ihr Modell auf andere Länder in Lateinamerika zu übertragen, denn die Gegner der Revolution waren nun gewarnt und hatten ihre Lektion gelernt. Wie so häufig in der Geschichte ver­hinderte der Erfolg der Revolution ihre Wiederholung. Auch die Große Französische Revolu­tion von 1789 oder die Große Sozialistische Oktoberrevolution von 1917 blieben singuläre Ereignisse mit zwar weitreichender Wirkung, aber alle Versuche, in anderen Ländern auf gleiche oder ähnliche Art zu verfahren, konnten von den Gegnern der Revolution auf Jahr­zehnte verhindert werden.

Das aus der Sicht ihrer Gegner besonders Gefährliche an der Regierung Allende war, dass sie das Ergebnis einer Wahl war, die auf dem Boden einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie stattgefunden hatte, und die neue Regierung sogleich daran ging, ihr wirt­schafts- und sozialpolitisches Programm in die Tat umzusetzen. Ihr Schwerpunkt war die entschädigungslose Verstaatlichung der Bodenschätze, allen voran der Kupfervorkommen, die Enteignung ausländischer Großunternehmen und der Banken sowie eine Agrarreform, bei der zwei Millionen Hektar Bodenfläche in vergleichbar kurzer Zeit von Großgrundbesit­zern an Bauern und Kollektive abgegeben werden mussten. Chiles wirtschaftliche Abhän­gigkeit vom Ausland sollte reduziert werden, insbesondere die von den USA. 1970 wurden der Kohlebergbau und die Textilindustrie verstaatlicht. Ein Jahr später wurden die noch in (vor allem US-amerikanischem) Privateigentum befindlichen Anteile am Kupferbergbau mit Zustimmung aller Parlamentsparteien enteignet.

Die Hoffnungen auf einen demokratischen Weg zum Sozialismus zerschlugen sich, nicht nur wegen des Widerstandes der kleineren und mittleren Unternehmer, der Unzufrieden­heit der Bauern mit den Ergebnissen der Landreform, den Streikaktionen der Bergarbeiter und der sich daraufhin rapide verschlechternden Lebenslage der Bevölkerung, sondern auch wegen der konterrevolutionären Agitation, die demzufolge auf fruchtbaren Boden fiel. [1] Die USA unter Präsident Richard Nixon, die schon vor der Wahl Allendes die Richtung, in der sich Chile entwickelte, mit großer Sorge betrachteten und im Rahmen der Aktion FUBELT bekämpften, »unterstützten« den Militärputsch des kurz zuvor noch zum Verteidi­gungsminister berufenen Generals Augusto Pinochet. [2]

Der Militärputsch ist für das Thema dieses Aufsatzes deshalb so bedeutsam, weil sich mit ihm auch ein radikaler Bruch in der chilenischen Wirtschaftspolitik vollzog. Eine Gruppe von Ökonomen, deren Mitglieder zuvor an der University of Chicago bei Milton Friedman, dem Begründer der US-amerikanischen Variante des Neoliberalismus, studiert hatten, war von seinen Ideen begeistert, setzte sie als erste in die Tat um und ging als »Chicago Boys« in die Geschichte ein. Chile wurde so das erste Land, dessen Wirtschaftspolitik auf der Ideologie des Neoliberalismus basierte.

II

Mit dem 1938 kreierten Terminus Neoliberalismus werden heute zwei sehr verschiedene ideologische Ansätze bürgerlicher Wirtschaftspolitik bezeichnet: Zum einen der Ordolibe­ralismus, der vor allem in den 1950er und 1960er Jahren einen wesentlichen Ausgangs­punkt für die sogennnte Soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland darstellte und mit dem Verblassen des »Wirtschaftswunders« im Gefolge der Wirtschaftskrise 1967/68 stark an Wirkungsmacht verlor; zum anderen der Monetarismus der (zweiten) Chicagoer Schule, deren Haupt Milton Friedman war, der – im Unterschied zum Ordoliberalismus – staatliche Eingriffe in die Wirtschaft grundsätzlich ablehnt und daher auch im scharfen Gegensatz zum Keynesianismus steht. Bei der im Gefolge des zweiten Weltkriegs notwendig geworde­nen Neuordnung der kapitalistischen Wirtschaft war die auf den Ideen von Keynes basie­rende Wirtschaftspolitik zunächst recht erfolgreich gewesen, aber zum Ende der 1960er Jahre, nach dem Abschluss dieser Periode, gab es zunehmende Haushaltsdefizite, eine mit Stagnation einhergehende Inflation (»Stagflation«) und gravierende Währungsdisparitäten. Die Jahre 1973/74 erzwangen dann mit dem Ausbruch einer schweren Weltwirtschafts­krise, dem Zusammenbruch des auf den Vereinbarungen von Bretton Woods seit 1944 existierenden Weltwährungssystems und dem (ersten) Erdölschock eine Abkehr von der keynesianischen Wirtschaftspolitik. An ihre Stelle trat der Neoliberalismus US-amerikani­scher Prägung, die bis heute in Europa und Nordamerika herrschende Wirtschaftsideo­logie.

III

Es sind vor allem zwei Namen, die mit der Durchsetzung der neuen Wirtschaftspolitik in Westeuropa und Nordamerika verbunden werden, Margaret Thatcher, von 1979 bis 1990 britische Premierministerin, und Ronald Reagan, von 1981 bis 1989 Präsident der USA. Ihre Bedeutung ist schon daraus ersichtlich, dass aus ihren Namen die bis heute verwen­deten Termini Thatcherism und Reaganomics abgeleitet worden sind. Charakteristika neoli­beraler Wirtschaftspolitik sind: Privatisierung öffentlichen (kommunalen sowie staatlichen) Eigentums (von den Eisenbahnen bis zu den Krankenhäusern) und Abbau des Sozialstaats, Minimierung der staatlichen Regulierung und deren Ersatz durch sogenannte Marktregula­tion, Globalisierung der Lieferketten und damit einhergehend eine drastische Reduktion der Vorratswirtschaft durch »just-in-time«-Produktion. Ihre Durchsetzung setzte einen ent­schlossenen Kampf gegen die Arbeiter- und insbesondere die Gewerkschaftsbewegung voraus; ein besonders prägnantes Beispiel mit einer enormen Langzeitwirkung war die Niederringung des britischen Bergarbeiterstreiks durch die Regierung Thatcher im Jahr 1985.

Hinzu kam, dass die Krise der nach wie vor vom Kapital dominierten Weltwirtschaft nicht ohne Einfluss auf die staatssozialistischen Länder Osteuropas blieb und sich seit Mitte der 1970er Jahre, insbesondere in der Sowjetunion, verstärkt Tendenzen zur Stagnation bemerkbar machten; der technologische Rückstand in der Systemauseinandersetzung nahm bedrohliche Ausmaße an, und all das bedingte auch, dass der politische Einfluss von der sozialistischen Idee verpflichteten Kräften stark zurückging. Der nachfolgende Zusam­menbruch des Staatssozialismus in Osteuropa und die sich ihm anschließende Rekapitali­sierung der Wirtschaft war ein bedeutender Triumph des Neoliberalismus; zugleich hat der damit verbundene Akkumulationsschub die eigentlich fällig gewesene Wirtschaftskrise für einige Jahre suspendiert.

IV

Der von Milton Friedman formulierten Maxime, »die soziale Aufgabe der Unternehmen besteht darin, ihre Profite zu erhöhen« (New York Times Magazine vom 13. September 1970), ist die neoliberale Wirtschaftspolitik über Jahrzehnte gefolgt. Sie hat dabei aller­dings übersehen, dass Profite auf zweierlei Weise erwirtschaftet werden können: Wenn die Rendite, das Verhältnis von Kapitalertrag und Kapitaleinsatz, selbst unter Berücksichtigung bestimmter Risikofaktoren, zum alles beherrschenden Bestimmungsgrund wirtschaftlicher Aktivität wird und zudem durch Spekulationen in der Finanzsphäre leichter und schneller zu erlangen ist als durch langfristige Anlagen in der Produktionssphäre, kommt die Investi­tionstätigkeit im Bereich der Realwirtschaft (unterschieden von der Finanzwirtschaft) zum Erliegen. Es findet das statt, was die »Neue Zürcher Zeitung« im Dezember 2019 eine »Kannibalisierung der realen Investitionen« durch die zwar schuldenfinanzierten, aber viel renditeträchtigeren Finanzinvestitionen genannt hat, man kann auch sagen: die Verdrän­gung der Real- durch die Finanzinvestitionen. Weil nicht profitabel genug, wird nicht in die Infrastruktur investiert, wird die Produktion in Billiglohnländer ausgelagert, wird auf die notwendige Vorratswirtschaft verzichtet usw., nicht zu reden von den Investitionen, die zur Abwendung einer drohenden Klimakatastrophe notwendig wären.

Die gegenwärtigen Wirtschaftsprobleme sind also nicht eine Folge der sogenannten Coro­nakrise, sie sind dadurch nur verschärft worden. Im Grunde ist es heute so, wie es bereits Friedrich Engels vorausgesehen hatte: »Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger wenigen, fertiger Großkapitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde ein­schlummern.« [3] Das Kapital wird also nach fünfzig Jahren Neoliberalismus im eigenen Inter­esse erneut umdenken müssen. Da es das seit zweihundert Jahren, zwar widerwillig, aber notgedrungen, tut – angefangen mit der 1833 in England gesetzlich verfügten Arbeitszeit­verkürzung –, ist nicht auszuschließen, dass es auch diesmal dazu in der Lage ist.

 

Anmerkungen:

[1]  Vgl. Werner Röhr: Volksregierung und Volksmobilisierung in Chile 1970-73. Streitfragen chilenischer Sozialisten zum Konzept und zur Politik der Unidad Popular = Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Hamburg, H. 11/2013.

[2]  Vgl. Peter Kornbluh: Chile and the United States: Declassified Documents Relating to the Military Coup, September 11, 1973 = National Security Archive Electronic Briefing Book No. 8.

[3]  Vgl. MEW, Bd. 25, S. 269, sowie meine Erläuterung in: F. Deppe, G. Fülberth, A. Leisewitz (Hg.), Fortschritt in neuen Farben? Umbrüche, Machtverschiebungen und ungelöste Krisen der Gegenwart. Köln 2022, S. 187.