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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Fünfundzwanzig Jahre "Historikerstreit"

Georg Fülberth, Marburg

Zur Tradition der westdeutschen Historikerdebatten nach 1945

Vor fünfundzwanzig Jahren löste der Sozialphilosoph Jürgen Habermas durch einen Artikel in der "Zeit" den vierten westdeutschen Historikerstreit aus.

Ja, den vierten. Debatten über die Vergangenheit gehörten in der Bundesrepublik zum Versuch ihrer Selbstverständigung, bedingt durch die Kriegsniederlage 1945.

Die erste dürfte heute weitgehend unbekannt sein. 1953 veröffentlichte der Frankfurter Althistoriker Hermann Strasburger einen Aufsatz zu "Caesar im Urteil seiner Zeitgenossen". Es handelte sich um eine Dekonstruktion des Herrscherkultes, der bis dahin mit dem römischen Diktator getrieben worden war. Strasburger, der wegen der jüdischen Abstammung einer Großmutter 1934 Berufsverbot erhalten hatte und im zweiten Weltkrieg als Frontsoldat schwer verwundet wurde, war früher ebenfalls ein Bewunderer Caesars gewesen. Zum Kult gehörte die in der deutschen Bourgeoisie seit ihrem Einschwenken auf Bismarcks Politik 1866 vertretene "realpolitische" Auffassung, daß dort, wo das Genie hobele, eben Späne fallen. Den Gipfel erreichte dieser Opportunismus der Macht im deutschen Faschismus und in seiner Akklamation durch die Mehrheit des deutschen Volkes. Strasburger brach damit, indem er, auf Quellenstudien gestützt, Caesar als skrupel- und verhängnisvollen Abenteurer porträtierte. Damit stieß er auf Widerspruch bei seinem Lehrer Matthias Gelzer, der in seiner ersten Replik auf Beunruhigung hinwies, die der Angriff unter Geschichts- und Lateinlehrern hervorgerufen habe. So benannte er den kaum noch verdeckten politischen Bezug der Debatte.

Der zweite westdeutsche Geschichtsstreit wurde durch den Hamburger Neuzeithistoriker Fritz Fischer ausgelöst. In einem Aufsatz 1958, dann in seinem Buch "Griff nach der Weltmacht" (1961), widersprach er der bis dahin in Deutschland herrschenden, ursprünglich sogar von dem britischen Politiker Lloyd George aufgestellten Behauptung, die großen Mächte seien in den Ersten Weltkrieg "hineingeschlittert". In Wirklichkeit habe Deutschland den Waffengang gezielt angestrebt, um schon lange vorher formulierte ökonomische und geopolitische Ziele seiner Machthaber durchzusetzen. Fischers Thesen, die er in den Büchern "Krieg der Illusionen" (1965) und "Bündnis der Eliten" (1969) erhärtete, lösten eine heftige Kontroverse aus. Er konnte sich unter seinen Fachkollegen letztlich nicht durchsetzen, erzielte aber durchaus politische Wirkungen: ein Teil der in den sechziger Jahren rebellierenden studentischen Jugend bezog sich auf ihn, und indem er die "Alleinschuldthese" des Versailler Vertrags von 1919 stützte, trug er zu einer weiteren Westorientierung der öffentlichen Meinung – in Abkehr von einer vom deutschen Bürgertum 1871 bis 1945 betriebenen Politik der (das Umfeld beherrschenden) Mitte, die zugleich in Opposition zu den Werten der Aufklärung stand – bei.

Befreiung oder Niederlage?

1985 kam es zu einer Auseinandersetzung in der CDU und ihrem intellektuellen Umfeld darüber, ob die Teilung Deutschlands hinzunehmen oder immer noch für überwindbar zu halten sei. Letztere Position vertrat unter anderen der Vorsitzende der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag Alfred Dregger. Der Historiker Michael Stürmer und der CDU-Politiker Volker Rühe hielten dagegen. Ihrer Meinung nach sei in Zukunft Deutschland nicht mehr als Nationalstaat, sondern nur noch als Kulturnation denkbar. Dieser Konflikt verband sich mit der Frage, ob die deutsche Kapitulation eine Niederlage (Dregger) oder eine Befreiung gewesen sei.

Als der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan 1985 in die Bundesrepublik kam, wurde er von Kanzler Kohl genötigt, gemeinsam mit ihm den Soldatenfriedhof in Bitburg zu besuchen, wo auch gefallene Angehörige der Waffen-SS liegen. Der deutsche Regierungschef legte damit den Gedanken nahe, als sei der Zweite Weltkrieg nur eine Zwischenstation in einer Auseinandersetzung (mit dem Kommunismus) gewesen, deren Ende noch offen sei.

Am 8. Mai 1985 erklärte Bundespräsident v. Weizsäcker in einer Gedenkrede vor dem Bundestag, die Kapitulation sei eine Befreiung gewesen. Diese Aussage wurde von vielen begrüßt, schien damit doch der Streit gegen die so genannte "Stahlhelm-Fraktion" um Dregger entschieden. Zugleich enthielt Weizsäckers These eine deutsche Lebenslüge: Aktuell waren 1945 nur die wenigen überlebenden Verfolgten und Gegner des Naziregimes befreit worden. Wer bis zum letzten Augenblick zu Hitler gehalten hatte, wurde besiegt. Erst im Nachhinein, insbesondere mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der fünfziger Jahre, werden auch die Mitläufer den Eindruck gewonnen haben, es sei letztlich doch alles gut gegangen und sie seien befreit.

Habermas und seine Gegner

Am 6. Juni 1986 veröffentlichte der Historiker Ernst Nolte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland" einen Aufsatz mit dem Titel "Vergangenheit, die nicht vergehen will". Hier behauptete er – rhetorisch in Frageform, aber so suggestiv, daß eine bejahende Antwort nahe lag – Stalins Verbrechen seien "ursprünglicher als Auschwitz", Hitlers Politik sogar nur eine Reaktion darauf gewesen. Habermas griff diese Position am 11. Juli 1986 mit seinem Artikel "Eine Art Schadensabwicklung" in der "Zeit" an. Er beschränkte seine Kritik nicht auf Nolte, sondern bezog auch Stürmer, den Bonner Historiker Klaus Hildebrand und Andreas Hillgruber (Köln) mit ein. Letzterer hatte in einem Buch mit dem Titel "Zweierlei Untergang" zwei ursprünglich getrennt erschienene Aufsätze publiziert. Der eine untersuchte das quantitative Ausmaß der Judenvernichtung, der andere widmete sich der von ihm als positiv eingeschätzten Rolle der Wehrmacht und der unteren Funktionäre der NSDAP an der Ostfront im Winter 1944/45, als die Rote Armee dort durchbrach: sie hätten objektiv die Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen versucht. Der Tatsache, daß sie dadurch zugleich noch ein längeres Funktionieren der Vernichtungslager ermöglichten, war sich Hillgruber bewußt, sah dies aber als ein letztlich unauflösbares Dilemma. An Michael Stürmer, der immerhin ein Berater Helmut Kohls war, kritisierte Habermas, daß er Deutschland als ein Land der "Mitte" verstand, einen vorgeschobenen Posten der NATO, der diese Funktion nur wahrnehmen könne, wenn er ein positives Verhältnis zur eigenen Geschichte habe. Hildebrand war durch eine positive Behandlung von Noltes Position in einer Rezension in den Kreis der von Habermas Angegriffenen geraten. Im Laufe der Debatte schlug sich auch der Hitler-Biograf und FAZ-Herausgeber Joachim C. Fest auf deren Seite. Die Debatte erstreckte sich bis ins Jahr 1987. In ihrem Verlauf erfuhr Habermas auch Unterstützung von Vertretern der sozialgeschichtlich orientierten Richtung der westdeutschen Geschichtswissenschaft. Die veröffentlichte Meinung in der Bundesrepublik dürfte am Ende ihm zugeneigt haben.

Der Kontext

Die erste Voraussetzung des vierten Historikerstreits lag wohl im Jahr 1983, als der Bundestag der Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen und Cruise Missiles zustimmte. Unmittelbar danach schrieb der FAZ-Redakteur Karl Feldmeyer, diesen Schlag werde die Sowjetunion nicht mehr parieren können. Nunmehr wurde eine Revision von "Jalta" – der Teilung Europas – diskutiert. Die Debatte in der Union über den Charakter des 8. Mai 1945 und die Perspektiven eines deutschen Nationalstaates oder einer Kulturnation reagierte bereits auf die Veränderung des Kräfteverhältnisses. Für die Eventualität, daß die DDR nicht mehr von der Sowjetunion gehalten werden könnte, bestand dennoch ein Hindernis für eine kapitalistische Wiedervereinigung: die Vergangenheit 1933-1945. Es war denkbar, daß ein neues Gesamtdeutschland in Westeuropa und in den USA als Bedrohung aufgefaßt wurde. Dies hat sich in abgeschwächter und wirkungsloser Weise 1989/90 bestätigt: der französische Staatspräsident Mitterand äußerte sich zunächst skeptisch über die sich abzeichnende Wiedervereinigung, die britische Premierministerin reagierte sogar sehr heftig. Auch der Grünen-Politiker Joschka Fischer lehnte den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zunächst ab und nannte als Grund: "wegen Auschwitz".

Intellektuelle sind oft politisch wetterfühlig. Als Ernst Nolte 1986 den Stalinismus, aber auch den türkischen Massenmord an den Armeniern gegen den Hitlerfaschismus aufrechnete, war diese Relativierung der Versuch, die Nazi-Verbrechen in eine historische Kontinuität einzubetten, die es als nicht mehr plausibel erscheinen lassen sollte, die Sicherheitsverwahrung, in die Deutschland durch seine Teilung genommen wurde, fortzusetzen. Die Position der "Stahlhelmer" wurde dadurch implizit gestützt. Kompliziert war die Haltung Michael Stürmers: sein Kulturnation-Konzept war ja nur eine Art Notlösung, solange Wiedervereinigung machtpolitisch nicht möglich war. Wenn er zugleich auf einer historischen Identität Deutschlands als des Landes der Mitte bestand, sicherte er jenes Maß an nationalem Selbstbewußtsein, das unter verändertem Kräfteverhältnis auch zur staatspolitischen Ressource werden konnte.

Richard von Weizsäcker veröffentlichte 1983 eine Sammlung von Reden und Aufsätzen unter dem programmatischen Titel "Die deutsche Geschichte geht weiter". Sein Auftritt vom 8. Mai 1985 vor dem Bundestag hatte die objektive Funktion, den Völkern die Furcht vor einem wiedervereinigten Deutschland zu nehmen. Habermas hatte gewiß nicht diese nationalpolitische Absicht, doch geriet seine Intervention letztlich doch ebenfalls in den Sog der ideologischen Vorbereitung der deutschen Wiedervereinigung. In seinem publizistischen Wirken nach 1990, insbesondere auch in seinem 2003 gemeinsam mit Jacques Derrida verfaßten Aufsatz "Die Wiedergeburt Europas", versuchte er diese gleichsam transnational aufzuheben und blieb damit in der Kontinuität seiner Aktion gegen die von ihm als "geschichtsrevisionistisch" und nationalistisch aufgefaßten Positionen seiner Gegner im Historikerstreit. Dies verband sich nun mit einer Frontstellung gegen die damalige Politik der USA und entsprach dem Kurs der Schröder-Regierung, deren Beteiligung am Überfall auf Jugoslawien Habermas 1999 – unter Berufung auf die Menschenrechte – verteidigt hatte.