Freiheit oder Sozialismus
Zum Freiheitsbegriff nach dem Grundgesetz - Prof. Dr. Erich Buchholz
Der Wahlslogan "Freiheit oder Sozialismus" ist nicht neu. Ich erinnere mich daran, ihn erstmalig bei den ersten Wahlen nach 1945, so in West-Berlin, gelesen und gehört zu haben. Es waren regelmäßig die konservativen Parteien, die für Freiheit einzutreten versprachen – gegen Sozialismus. Gysi konterte diesen Wahlslogan mit "Freiheit und Sozialismus".
Welche Freiheit meinen die konservativen Parteien, meint Gysi? Vielleicht hilft der Freiheitsbegriff nach dem Grundgesetz. Wenn dieser hier untersucht werden soll, so vermeide ich die üblichen Kommentierungen, insbesondere zum Art. 2 GG, wiederzugeben. Ich möchte diesen Freiheitsbegriff als kritischer Jurist hinterfragen. Nach dem Grundgesetz, nach den Vorstellungen der Väter des Grundgesetzes stehen die Freiheitsrechte – nach dem im Art. 1 GG vorgesehenen Schutz der Menschenwürde – an vorderster Stelle, sie nehmen einen hervorragenden Rang ein.
Art. 2 verkündet in seinem Abs. 1: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Individuums ist somit – von der zitierten Einschränkung abgesehen – unbegrenzt.
Im Abs. 2 dieses Art. 2 wird ergänzend bestimmt: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden."
Hier geht es nicht mehr um den allgemeinen Freiheitsbegriff, um das allgemeine Freiheitsrecht auf Entfaltung der Persönlichkeit, sondern spezifisch um das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit der Person, in die nicht ohne eine gesetzliche Grundlage eingegriffen werden darf.
Im weiteren wird die Freiheit auf bestimmten Gebieten grundgesetzlich weiter präzisiert, so im Art. 4 die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, im Art. 5 die Meinungs- und Pressefreiheit, die Freiheit der Kunst und Wissenschaft, im Art. 8 die Versammlungsfreiheit, im Art. 9 die Vereinigungsfreiheit, im Art. 10 das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, im Art. 11 die Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet, im Art. 12 die Freiheit der Berufswahl, im Art. 13 die Unverletzlichkeit der Wohnung und im Art. 14 das Eigentumsrecht und das Erbrecht. Sie zählen als spezifische Ausprägungen des Freiheitsrechts, des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Ein Recht auf Auswanderung und überhaupt ein Recht auf Ausreise ist im GG nicht zu finden. (Daß in den Jahren nach Kriegsende auch in der Bundesrepublik ein Auswanderungsrecht grundgesetzlich nicht verankert wurde, ist nachvollziehbar. Denn gerade die zur Auswanderung bereiten jüngeren Arbeitskräfte wurden im Lande benötigt, um das durch Krieg zerstörte Land wieder aufzubauen.)
In diesem Katalog grundgesetzlich verbürgter Freiheitsrechte vermisse ich vor allem die Freiheit von Armut, Not, Obdachlosigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung. Ebenso vermisse ich die Freiheit von Faschismus und Kriegsgefahr, was 1949 noch sehr aktuell war, die Freiheit von Kriegspropaganda, Völker- und Rassenhaß und auch die Freiheit davon, in einen Krieg oder militärische Unternehmungen einbezogen zu werden.
Auch den freien Zugang zur Bildung bis in die höchsten Ausbildungsstätten und den freien Zugang zur Kultur für jedermann als Möglichkeit der Entfaltung der Persönlichkeit sind im Grundgesetz in keiner Weise zu finden.
Gerade aufgrund der auch im Jahre 1949 bereits ausgeprägten ökonomischen Verhältnisse wäre es angezeigt gewesen, auch Freiheitsrechte von Mißbrauch ökonomischer Vormacht zu fixieren.
Immerhin ist im Abs. 2 des Art. 14 festgelegt "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen." Auch ist von Enteignung und im Art. 15 von der Möglichkeit der Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln, also eine Sozialisierung dieser, die Rede.
Indessen sind diese Bestimmungen nur als allgemeine politische Forderungen abgefaßt und entbehren der gebotenen Verbindlichkeit. Vor allem enthalten sie keine Freiheit von dem Mißbrauch ökonomischer Vormacht, Unterwerfung und Ausbeutung, von Unterdrückung.
Auch eine Freiheit von dem Mißbrauch der Wissenschaft wäre am Platze gewesen und ebenso eine Freiheit von Mißbrauch medialer Macht, der Macht von Presse und anderen Medien.
In diesem Sinne könnte der Katalog der fehlenden oder zumindest nicht ausdrücklich genannten Freiheitsrechte vermehrt werden.
In den Kommentierungen zum Art. 2, dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen, werden die Versäumnisse des Ausbleibens des Fehlens solcher Freiheitsrechte nicht erwähnt. Somit ist der Freiheitsbegriff nach dem Grundgesetz schon nach dem Wortlaut der Grundrechte unvollkommen. Denn wenn der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes den Grundvorstellungen von Freiheit nicht genügt, sie ausklammert und außer acht läßt, ist eher mangelhaft.
Auch nach meiner persönlichen Erfahrung geht es bei Freiheit und also auch dem Begriff der Freiheit stets um Freiheit von wem oder von was und Freiheit für wen und für was. Eine Freiheit an sich gibt es nicht. Schon deshalb ist der Wahlslogan "Freiheit oder Sozialismus" ob der Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs volksverdummend, zumindest irreführend.
Was Freiheit ist, auch was Befreiung darstellt, habe ich, wie viele andere auch, nach Kriegsende 1945 ganz unmittelbar erlebt: Es war die Befreiung vom Krieg und vom Faschismus. Plötzlich waren wir frei von Bomben und Granaten, von Kriegs- und Todesgefahr; auch waren wir frei von und vor den Nazischergen. Wer diese Zeit unmittelbar wach miterlebt hat, weiß, was Freiheit und Befreiung in diesem Sinne bedeutet.
Einige Jahre später erlebte ich in West-Berlin aufgrund einer willkürlichen Entlassung als Dienstanwärter Unfreiheit, Verletzung meiner Freiheitsrechte. Demgegenüber erlebte ich in Ost-Berlin, später in der DDR, im Anschluß an die vorgenannte Entlassung die Freiheit, unentgeltlich studieren zu dürfen und damit meine Persönlichkeit – auch im Sinne des Art. 2 GG – entfalten zu können.