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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Kommt man ohne Politik durchs Leben?

Günter Herlt, Berlin

 

 

Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.

(August Bebel)

Kaum – eher unter die Räder!

Eine Begründung von Thomas Mann, die er 1945 an seinen Schriftsteller-Kollegen Hermann Hesse schrieb, lautet:

»Ich glaube, nichts Lebendes kommt heute ums Politische herum. Die Weigerung ist auch Politik; man treibt damit die Politik der bösen Sache.«

Wie kamen diese bekannten Nobelpreisträger zu diesem Urteil? Das lag wohl daran, dass sie mit wachem Bewusstsein miterlebt hatten, wie der fanatische Gefreite Hitler nach einer Rede im Düsseldorfer Industrie-Club, zwölf Monate später, im Januar 1933 zum Oberbefehlshaber des Deutschen Reiches ernannt wurde. Und wie er dann, begleitet von jubelnden Massen, alle Lichter und 70 Millionen Menschenleben in Deutschland und Europa mit Bomben, Granaten und Giftgas-Krematorien ausblies.

Wie kam diese tiefste Schmach unseres Volkes mit dem Düsseldorfer Industrie-Club als Vater und Hebamme zustande?

Der Club hatte vor und nach beiden Weltkriegen etwa 1.200 Mitglieder. Das sind sehr einflussreiche und verschwiegene Leute, die zur Elite der Großindustrie oder zum Mittelstand und zum öffentlichen Leben dieses Unternehmerstaates gehören. Diese Herrschaften schreiben übers Jahr mehr als 100 DENKSCHRIFTEN. Die sind praktisch für die Regierenden BEFEHLE!

Was jedes Mitglied natürlich bestreiten würde. Sie fühlen sich als ein »Debattier-Club«. Der Zutritt verlangt drei Bürgen. Ihre Schreiben sind Ratschläge. »Sie verkörpern ein Stück Demokratie fürs Gemeinwohl!«

WER dreht WIE an den ganz großen Rädern?

Zum Glück hat uns Karl Marx schon erklärt, dass sich die Bourgeoisie in etliche Flügel teilt. Da gibt es tüchtige Handwerksmeister und Erfinder, die sich eine Existenzbasis aufbauen. Die kümmern sich wenig um Politik und Propaganda. Manche sind gar »weiße Raben«, die Gewinnbeteiligung und friedfertiges soziales Engagement fördern. Doch ein anderer Teil zählt zum »konzeptionellen Flügel« der Bourgeoisie. Das sind vorrangig die Vertreter der Schwerindustrie und der Banken, der Chemie und Elektroenergie, der Rüstung und Forschung. Das sind die Bestimmer!

Schauen wir doch mal, was die Herren – Damen dürfen erst seit 1977 (!) Mitglied im Industrie-Club werden – also was die Herren dieses Clubs vor 100 Jahren von den »Notregierungen« jener Zeit verlangt hatten:

Als 1929 die Weltwirtschaftskrise ein Drittel der deutschen Produktions-Kapazität erdrosselte, verlangten die Monopolherren: »rigorose Kürzungen der Löhne und Sozialleistungen«. »Gerade die Weltkrise gestattet eine ökonomische Offensive auf den Außenmärkten!« »Die Streiks gegen soziale Kürzungen verlangen ein härteres Durchgreifen von Polizei und Justiz. Dabei helfen Notverordnungen besser als endlose Debatten im Reichstag.«

Man merkt den alten Groll des deutschen Großkapitals, als ökonomischer Riese ein außenpolitischer Zwerg zu sein. Durch die Fesseln des Vertrages von Versailles. Aber auch durch die Angst vor dem wachsenden Linksdruck. Das ließ die Gefühle der Weichensteller kochen.

Im Sommer 1931 verschärfte sich die Weltwirtschaftskrise. Worauf die Gruppe der Schwerindustriellen »mehr Steuernachlässe und Subventionen« forderte. Eine  »Stillhaltepolitik der Gewerkschaftsführer« sei dringend nötig. Sonst wird »ein entschlossener, schärferer Mann« gebraucht.

Die expansiven Kreise wählten Gustav Krupp von Bohlen und Halbach im September 1931 zum neuen Club-Vorsitzenden. Fritz Thyssen begrüßte den Wahlsieg der Nazis im September 1930.

Die Gruppe der Großagrarier verlangte mehr Unterstützung, um in den Grenzprovinzen Ostpreußen, Pommern und Schlesien mehr Spielraum für »national gesinnte Kräfte« zu sichern. Alle reaktionären Kräfte bestellten den nächsten Gastredner im Club.

Am 27. Januar 1932 spricht Hitler im überfüllten Saal des Düsseldorfer Industrie-Clubs vor über 700 Großindustriellen und deren Gefolge.

Der Beifall in diesem Haus wurde zu Wahlspenden, denn:

Hitler verspricht, das »Privateigentum zu schützen«, den »Bolschewismus mit Stumpf und Stiel zu vernichten« und neuen »Lebensraum im Osten« zu erobern.

Die Herrschaften sehen nun mehrheitlich keine Bedenken, einen »dritten Weg« durch Einbeziehung der Nazipartei in eine Regierungskoalition einzuschlagen. Der Weg zur autoritären Herrschaft des Großkapitals war damit geöffnet. Im Thüringer Landtag gelang der Durchbruch.

Seit den Reichstagswahlen 1930 hatten die KPD mit 4,5 Millionen und die SPD mit 8,7 Millionen Wählern zusammen 220 Sitze im Parlament der Weimarer Republik. Und das bei zunehmender Aktionseinheit! Thälmann verlangte bei seiner Rede im Berliner Sportpalast u.a.: 300.000 neue Wohnungen zu sozialen Mieten jährlich. Die Annullierung des Raubfriedens von Versailles. Die Vergesellschaftung der Konzerne, Banken und Großhändler. Die Erhöhung der Mindestlöhne. Die Gleichberechtigung der Frauen und Jugendlichen. Ein Bauern-Hilfsprogramm. Die Verhinderung einer faschistischen Diktatur und enge Zusammenarbeit mit der UdSSR.

(Bestehende Ähnlichkeiten mit der Gegenwart können kein Zufall sein.)

Doch die Nazipartei plus drei-vier gleichgesinnte Parteien kamen 1930 nur auf rund 200 Sitze im Reichstag. Umso härter schlugen ihre Terror-Kolonnen auf die Linken ein. Es gab 7.000 politische Gefangene aus dem Proletariat.

Bei alledem dürfen wir nur nicht vergessen, dass die Welt von heute anders aussieht. Die globalen Verflechtungen sind undurchsichtiger. Die Erde ist verletzlicher. Ihre Nervenstränge sind aus Glasfasern gemacht. Riesige Profite entstehen nicht nur in den Produktionshallen, sondern an der Börse.

Aber wieder feiert der Antisemitismus schaurige Mordserien. Wieder rühren die Regierenden die braune Sülze von den zwei deutschen Diktaturen an. Wieder sind Hass und Hetze gegen die LINKEN, gegen MOSKAU und PEKING zur Grundmelodie der Medien geworden!

Und was macht der Industrie-Club heute?

Er mault, wenn er nur Autos, Schienen und Bratpfannen verkaufen kann. Es ist viel profitabler, wenn hier und da auf der Welt kleine Kriege bei der Erprobung neuer unbesiegbarer Waffen toben. Da gehen dann auch viele Autos, Schienen und Bratpfannen im Sekundentakt kaputt …

Doch die Kriege der Neuzeit werden nicht mehr durch Kanonen und Panzer gewonnen, sondern durch elektronische Lenkwaffen wie Kampfdrohnen und Raketen, die mit der Radaraufklärung »chirurgische Aktionen« gegen einzelne Häuser, Bunker oder Personen unternehmen können. Kleinere Kernwaffen sollen künftig dabei helfen.

Solche Waffensysteme entstehen kaum noch an Rhein-und-Ruhr, sondern vornehmlich im Süden wie in Bayern. Damit prahlt man nicht auf Messen und in Katalogen. Das verlangt Codierung und Geheimhaltung. Die Entwickler und deren Kundschaft treffen sich nicht in Palästen, sondern in der Stille exklusiver Golfplätze, in einer halbdunklen Sauna tief in den finnischen Wäldern oder auf einer flinken Yacht in der Ägäis.

Und noch immer helfen die Denkschriften des Großkapitals, kleine Hilfen für große Weltprobleme zu vergeben und große Verwüstungen für den Profit der Waffenschmiede auszulösen. Doch 100 Jahre sind genug!

Wir müssen ihnen auf die Finger schauen und hauen, ehe sie wieder die Freiheit am Hindukusch, in Afrika oder im Pazifik in Flammen ersticken und uns zur Zielscheibe der Gegenschläge machen. Diese Welt braucht Frieden.

Doch immer öfter werden Frieden und Fortschritt nicht mehr erbettelt, sondern ertrotzt! Auf allen Kontinenten formieren sich starke Bewegungen: Schülerstreiks für Klimaschutz, Studenten für mehr Mitbestimmung, Ärzte ohne Grenzen, »Graue Panter« für Altern in Würde, die Anti-Atom-Proteste, Bildung für alle statt Bildungsprivileg für Reiche, Frauen für gleichen Lohn bei gleicher Leistung, Journalisten gegen Lügen-Meldungen und viele andere. Sie erzwingen Wandel durch Widerstand!

Aus der Macht dieser Bewegungen erwächst die neue Ohnmacht der allmächtigen Weltkonzerne. So wird auch – manchmal erst nach 20 Jahren wie in Afghanistan – Umkehr erzwungen und Leben gerettet. Wer dabei mit Wort und Tat mithilft, hat nicht umsonst gelebt.

                           Günter Herlt, Jahrgang 1933, Berliner. Volksschule, Zimmermannslehre, ABF-Studium in Weimar. Ab 1954 Radioreporter, dann Direktor am Sender Schwerin, später Autor und Leiter im Bereich dramatische Fernsehkunst in Berlin-Adlershof, danach bei der TV-Unterhaltung. Ab 1968 Kommentator und Korrespondent des DDR-Fernsehens, zuletzt Chefredakteur für Auslandsreportagen. Autor von Hör- und Fernsehspielen, Kabarettszenen und zahlreicher Bücher zum Kichern und Grübeln.

(Aus: www.eulenspiegel.com/autoren)

2018 erschienen im Verlag am Park: Aus meinem Zettelkasten, Über unsere Jahre, 146 S., 12,- Euro, brosch., ISBN 978-3-947094-32-5.

 

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2021-06: DIE JUNGE GARDE und die »alten Krankheiten«

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