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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Euthanasie« – ein guter Tod?

Dr. Ilja Seifert, Berlin

 

Neubau-Wohnungen, die auch für Menschen gut nutzbar sind, die sich im Rollstuhl fortbewegen, waren bis in die beginnenden 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der DDR unbekannt. Einer derjenigen, die das änderten, war Ulrich Ringk, ein verhältnismäßig kleiner Mann mit schlohweißem Haar. Er arbeitete im »Waldhaus« des Klinikums Berlin-Buch, einem der Zentren der Querschnittgelähmten-Rehabilitation. Seinerzeit betrachtete man Behinderung noch sehr stark als medizinisches Problem. Aber immerhin fand der fast 60jährige, der von Geburt an körperlich beeinträchtigt war (damals sagte man noch »geschädigt« dazu), dort Arbeitsbedingungen vor, unter denen er seine Fähigkeiten entfalten konnte. Und er fand – unter Ärzten und sonstigem medizinischen Personal, aber auch unter Patientinnen und Patienten – Aufmerksamkeit, wenn er davon erzählte, wie seine Familie ihn vor der »Euthanasie« rettete. Da war nachwirkende Angst spürbar. Die Erinnerung daran wurde zum Teil seiner Persönlichkeit. Sie trieb ihn an, stets noch »besser«, noch »nützlicher«, noch »effektiver« sein zu wollen als all seine Kolleginnen und Kollegen.

Er kam mir am 2. September d. J. bei der feierlichen Einweihung einer zentralen Gedenk- und Informationsstätte für die Opfer der Nazi-»Euthanasie« wieder in den Sinn. Sie vervollständigt die Reihe der Erinnerungs- und Mahnorte, an denen der faschistischen Verbrechen an »Minderheiten« gedacht wird. Weder der Ort in der Tiergartenstraße 4 in Berlin (»T4«) noch der Zeitpunkt sind Zufall. Hier stand seinerzeit die Stadtvilla, in der am 9. Oktober 1939 der als »Wohltat« verbrämte Massenmord an »Krüppeln«, »Idioten« und anderen »Erbkranken« beschlossen und anschließend bürokratisch-routiniert organisiert wurde. Es ist also ein Ort der (Schreibtisch-)Täter. Und dieser »Euthanasie«-Erlaß wurde nachträglich – man sagt, von Hitler persönlich – auf den 1. September 1939 rückdatiert. Der Überfall auf Polen, mit dem der verheerende II. Weltkrieg begann, und die systematische Vernichtung »unwerten Lebens« waren zwei Seiten einer Medaille.

Ewiges Leid?

Wir gedenken aller Opfer des Faschismus. Und wir halten jedes einzelne in Ehren. Das gilt für jedes Individuum. Das gilt für jede Gruppe. Deshalb ist es gut, daß – neben den Gedenkstätten für die europäischen Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen – auch die barbarische, systematische Ermordung von rund 300.000 Menschen mit Behinderungen angemessen und würdig in mahnender Erinnerung gehalten wird. Die neue, gläserne Gedenk- und Informationsstätte wird dem Anliegen – auch die systematische Vernichtung von rund 300.000 Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen in Erinnerung zu halten – viel stärker gerecht als die schwer auffindbare Bronzetafel, die dort seit Ende der 80er Jahre in den Bürgersteig eingelassen ist.

Ulrich Ringk sprach das Wort »Euthanasie« nicht rückwärtsgewandt aus. Nein, er warnte davor, daß der Gedanke, »unwertem Leben« durch diesen »guten Tod« sogar noch etwas »Gutes« zu tun, durchaus noch nicht überwunden sei. Er machte uns Jüngere auf den euphemistischen (beschönigenden) Charakter des Wortes sehr nachdrücklich aufmerksam.

Wenn wir aller Ermordeter gedenken sowie Jede und Jeden ehren, verwischen wir nicht die Unterschiede, die sie zu Opfern machten. Bei Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Republikanhängern war es die politische Haltung. Bei Juden – ähnlich wie bei »Zigeunern« – die »Rasse«. Homosexuelle wurden wegen ihrer sexuellen Identität verfemt, verfolgt und vernichtet.

Menschen mit Behinderungen hingegen wurden von Ärzten, Juristen und Ökonomen von ihren »ewigen Leiden befreit«. Die theoretische »Begründung« dafür legten der Arzt (Psychiater) Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding schon kurz nach dem I. Weltkrieg mit dem Buch »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« (1922). Die Nazis verbrämten die Ermordung sogar zur Wohltat: Wenn diese »Mißgeburten« für medizinische Experimente mißbraucht wurden – z.B. indem man an ihnen Medikamente »testete«, ohne irgendeinen therapeutischen Nutzen zu erwarten –, sollten sie »froh« sein, auf diese Weise den »Ariern« wenigstens irgendwie »nützlich« sein zu können.

Gleichzeitig diskreditierten Nazis sie als »unnütze Esser«, die der »Volksgemeinschaft« nur »Kosten« bescherten und die »Volksgesundheit« insgesamt beeinträchtigten. Glück könnten sie ohnehin nicht empfinden. Ihr Leben sei »unwert«. Damit wandten sie ein probates Mittel an: Zuerst stigmatisiert (kennzeichnet) man, dann macht man verächtlich; und so wird es oft leicht zu diskriminieren. Die Nazis scheuten dann auch nicht vor der massenhaften Ermordung (sie sprachen von Ausrottung, Ausmerzung, Unschädlichmachung) zurück. Bei Juden, bei Kommunisten, bei Sinti und Roma, bei Sozialdemokraten, bei Homosexuellen, bei Nicht-Ariern (z.B. in den besetzten Gebieten), nicht zuletzt also auch bei Menschen mit Behinderungen. Indem letzteren auch noch Etiketten wie »geisteskrank« angeheftet wurden, konnte sogar mit einer hohen »Verständnisrate« gerechnet werden.

Als in der Georg-Benjamin-Straße in Berlin-Buch die ersten »Rollstuhlfahrer«-Wohnungen im Rahmen des komplexen Wohnungsbau-Programms entstanden, hatte Ullrich Ringk einen beachtlichen Anteil daran, daß der soziale Blick auf Behinderung (und die Menschen, die mit ihren Beeinträchtigungen leben!) die medizinische Dominanz zurückdrängte. Immerhin führte das u.a. dazu, daß in den 80er Jahren 10 Prozent aller Neubauwohnungen »behindertengerecht« errichtet wurden. Ihr Standard verbesserte sich mit zunehmender Erfahrung. Auch setzte sich die Erkenntnis rasch durch, daß gehbehinderte Menschen nicht automatisch immer nur im Erdgeschoss wohnen wollen.

Umfassendes Teilhabebedürfnis

Dennoch blieb die caritative Geste, das Gutmeinen bzw. »Gönnen« von ein bißchen Freude durchaus noch lange dominierend. Das Leben mit Behinderung blieb – trotz einiger Aufklärung, die das UNO-Jahr der Behinderten (in der DDR: das Jahr der »Geschädigten«) brachte – etwas »Fremdes«, etwas zu Vermeidendes, etwas zu Heilen- bzw. zu Reparierendes. Diese Haltung ist bis heute durchaus noch weit verbreitet.

Das Selbstbewußtsein behinderter Menschen wuchs. Verbesserte Wohnbedingungen ließen – vor allem im Zusammenhang mit verhältnismäßig guten Arbeitsmöglichkeiten und einem hohen Beschäftigungsgrad von Menschen mit Behinderungen – das Bedürfnis nach Mobilität und Teilnahme an andren Lebensbereichen rasch ansteigen, so daß auch Bordsteinabsenkungen in Neubaugebieten zur Normalität und auf großen Alt-Straßen eingeführt wurden. Überall war Ullrich Ringk einer der sachkundigsten Berater für Stadtplaner und Bauleute.

Die T4-Gedenkstätte allein vermag das Ausmaß des Verbrechens und die kalte Routinemäßigkeit ihrer Ausführung nur teilweise zu zeigen. Hier werden Einzelschicksale deutlich. Ähnlich arbeitet die Topographie des Terrors. Indem den Ermordeten ihr Name, ihre Lebensgeschichte und auch ihre Familie wiedergegeben wird, entreißen wir sie der Anonymität der großen Masse. Aber erst in Verbindung mit den Orten der Taten – den Vernichtungsanstalten – kommt uns die ganze Perversität des Vorgangs ins Bewußtsein. Hier seien nur die gut geführten – leider durchaus unterfinanzierten – Gedenkstätten in Pirna-Sonnenstein und Hadamar genannt. Aber auch die Geschichte der »Reichsärzteführer-Schule« im idyllischen Alt Rehse, an der medizinisches Personal systematisch auf die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« vorbereitet wurde, kann uns die unglaubliche Verrohung und Verdrehung ethischer Werte begreifen lehren.

Unser heutiges Menschenbild ist von der UN-Behindertenrechtskonvention geprägt. Es lobt die Vielfalt, kennt Behinderungen und chronische Erkrankungen als selbstverständliche und gleichberechtigte Bestandteile der Gesellschaft. Sie will freie Persönlichkeitsentfaltung durch volle Teilhabe auf der Basis solidarischen Handelns.

Illusionäre Verheißungen

Aber die Gefahr ist längst nicht gebannt. Heute fühlen Menschen mit Behinderungen sich von neuesten »medizinischen Fortschritten« und den damit verbundenen Veränderungen des Menschenbildes bzw. illusionären Verheißungen des »Machbaren« bedroht. Die hehren Ziele der Behindertenrechts-Konvention sind längst noch nicht erreicht. Im Gegenteil: Auch heute noch engen reine »Kosten-Nutzen-Rechnungen« freie Entfaltungsmöglichkeiten ein. Auch heute noch wird der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile nicht selten als »Luxusbonus« bezeichnet, den wir (die Gesellschaft) uns »nicht leisten« könnten. Auch heute noch wird der »Wert« mancher Menschen an ihrer »wirtschaftlichen Verwertbarkeit« gemessen. Das macht uns (den Menschen mit Behinderungen und unseren Angehörigen) – auch, wenn es sich nur um »Einzelmeinungen« handeln sollte – Angst. Desgleichen können die immer wieder auflebenden Debatten um »Sterbehilfe« – in denen von »Lebensverlängerung durch Drähte und Schläuche« über »assistierten Suizid« bis zu »Tötung auf Verlangen« nahezu alle Varianten von »nicht mehr lebenswert« durcheinandergewürfelt werden – unser So-Sein im Da-Sein akut gefährden.

Eine der Konsequenzen, die Ulrich Ringk aus seinem Überleben im Faschismus zog, war, daß er sich denen anschloß, die am konsequentesten gegen die Nazis kämpften: Er wurde Kommunist.

Unsere heutigen Debatten über genetische Untersuchungen und Therapien lernte er nicht mehr kennen. Aber ich bin sicher, daß er sie sehr argwöhnisch begleiten würde. Verheißungen von »ewiger Gesundheit«, »ewiger Schönheit«, womöglich von »ewigem Leben« durch vorgeburtliche Genmanipulation wären ihm gewiß ebenso suspekt wie Präimplantationsdiagnostik (PID) oder invasive bzw. nicht-invasive Gentests, die keinen anderen Sinn haben, als »Normabweichungen« zu diagnostizieren. Als wenn es eine »Norm für Mensch« gäbe! Erst recht erhöbe er gewiß seine Stimme sehr lautstark gegen Äußerungen wie »Das (ein Kind, das mit Behinderung geboren wird) müßte heute doch nicht mehr sein.« und die daraus abgeleitete Schlußfolgerung, daß die Solidargemeinschaft (z.B. die Krankenkasse bzw. das Sozialamt) dafür nun wirklich nicht (mehr) aufkommen müsse bzw. könne.

Es gibt Länder in unserer Nachbarschaft, in denen »Euthanasie« durchaus wieder einen positiven Klang zu bekommen beginnt. »Assistierter Suizid« wird in manchen Debatten plötzlich zum höchsten Grad freier Selbstbestimmung. Daß solche »Sterbehilfe-Debatten« sehr schnell einen erheblichen (moralischen und materiellen) Druck erzeugen können, diese tollen »Angebote« auch zu nutzen, wenn man – im höheren Lebensalter oder lebenslang – auf fremde Hilfe bzw. den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile angewiesen ist, wird dabei gern überhört.

Die Erinnerung an die »Euthanasie« – die alles andere als ein »guter Tod« ist – mahnt uns: Wachsamkeit tut Not!

Ilja Seifert ist Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN.