Europa schottet sich ab
Initiative gegen Abschiebehaft Berlin
Europa schottet sich ab – weit außerhalb seiner Grenzen durch das Aufrüsten von Polizei und Militär, zum Beispiel in Libyen und Marokko, oder durch die Schaffung sogenannter "sicherer Drittstaaten".
Europa schottet sich ab – an den europäischen Außengrenzen durch immer perfektere Grenzüberwachung oder durch die Androhung von Strafzahlungen für Fluggesellschaften, die Passagiere ohne anerkannte Papiere nach Europa bringen.
Europa schottet sich ab – innerhalb Europas durch Asylsysteme, die auf Abwehr statt auf Schutz vor Verfolgung ausgerichtet sind.
Abschiebehaft ist nur die Spitze des Eisbergs und zugleich der Gipfel der Unmenschlichkeit: in der Abschiebehaft manifestiert sich der Mechanismus der Überwachung, Kontrolle, Isolation und Diskriminierung in Form von realer Gefangenschaft.
Angesichts dieses enormen Eingriffs in die Freiheit und Würde von Menschen erscheint es unbegreiflich, daß die Inhaftierung in Deutschland lediglich eine Verwaltungsmaßnahme ist – ähnlich dem Abschleppen von Autos oder dem Erteilen einer Baugenehmigung.
Der Abschiebegewahrsam Berlin-Köpenick, vor dem wir heute stehen, war zu Zeiten der DDR ein Frauengefängnis. Das Gefängnis hat für 214 Menschen Platz, derzeit sind rund 70 Personen inhaftiert. Sie sitzen in kleinen Gemeinschaftszellen mit Innengittern. Innengitter sind in Gefängnissen äußerst selten und hindern die Gefangenen daran, die Fenster selbständig zu öffnen oder zu schließen. Erst 2003 wurden die Besucherzellen mit Trennscheiben abgeschafft.
Wie kommen Menschen in dieses Gefängnis, und was bedeutet es, hier inhaftiert zu sein?
Ich möchte dies an der Geschichte eines Häftlings darstellen, den wir Anfang dieses Jahres besucht haben. In ihr kommen alle wesentlichen Punkte, die auch für viele andere gelten, zur Sprache. Außerdem wird auf diese Weise deutlich, daß hinter den abstrakten Zahlen und Fakten konkrete Menschen und Schicksale stehen.
Ich werde von ihm als Paul sprechen – in Anlehnung an das derzeitige Plakat der Bundesregierung mit dem Spruch: "Für Paul von Deutschland" [Rente mit 67]. Vielleicht kommt die Absurdität dieses Systems auch dadurch zum Ausdruck, daß ich diesen "Musterhäftling" nicht Rachid, Kola oder Chi Huy nenne. Zu einem Rachid, Kola oder Chi Huy könnte der folgende Bericht – den gängigen Stereotypen zufolge – "passen", zu Paul, dem blonden Wonneproppen mit den Seifenblasen, "paßt" er nicht.
Was hält Deutschland also für Paul bereit?
Zunächst einmal ein rassistisches Kontrollsystem: Paul wird im Dezember 2006 auf der Durchreise von Polen nach Frankreich am Berliner Hauptbahnhof aufgegriffen. "Natürlich" wird er nach seinen Papieren gefragt, er hat ja dunkle Haut.
Paul hat keine Papiere. Das ist für die Ausländerbehörde Grund genug ihn einzusperren. Denn hierfür muß lediglich der Verdacht bestehen, daß er sich einer Abschiebung entziehen könnte.
Paul spricht eine afrikanische Sprache und Französisch, die Beamten sprechen Deutsch. Niemand erklärt ihm, warum er verhaftet wurde. Er bekommt keinen Pflichtverteidiger – es handelt sich schließlich nur um eine Verwaltungsmaßnahme.
Obwohl Paul von Anfang an sein Heimatland – wie sich später bestätigt – wahrheitsgemäß angibt, wird ihm nicht geglaubt und er wird mehreren Botschaften vorgeführt. Zwischen den Botschaftsvorführungen liegen einige Wochen. Dadurch wird die Haft unnötiger Weise in die Länge gezogen.
Paul bekam Blasen und Entzündungen im Mund und schwere Magenkrämpfe. Gegen seine Beschwerden werden ihm Tabletten verabreicht, von denen er weder weiß, welche Inhaltstoffe sie haben noch wogegen sie helfen sollen. Die Magenschmerzen werden schlimmer, die Entzündungen auch.
Allgemein ist die medizinische Versorgung in Abschiebegefängnissen unzureichend. Zu externen Ärzten werden Gefangene – wie Schwerverbrecher – in Handschellen gebracht, was eine weitere Demütigung darstellt. Außerdem werden die Inhaftierten nicht sozial oder psychologisch betreut, obwohl viele von ihnen traumatisiert sind oder durch die Haft traumatisiert werden.
Paul war der einzige Gefangene, der Französisch sprach. Er konnte sich mit niemandem unterhalten, die Fernsehsender waren alle deutsch, lesen und schreiben kann er nicht. Bis auf die 90 Minuten pro Tag, in denen er mit den anderen im Hof Fußball spielen darf, gibt es für Paul keine Beschäftigungsmöglichkeiten und keinen sozialen Kontakt.
Die Angst fraß an ihm. Die Ungewißheit machte ihn müde und zittrig. Die Sorge um seine Frau und die beiden Kinder unruhig, später apathisch.
Den stetigen körperlichen und seelischen Verfall mußten wir von Besuch zu Besuch mit ansehen, ohne gegen die unmenschliche bürokratische Abschiebemaschinerie angehen zu können.
Andere in seiner Situation haben versucht, sich umzubringen, haben sich Verletzungen zugefügt oder Hungerstreik begangen. Für Berlin sind seit 1993 bereits acht Todesfälle dokumentiert. Zu Beginn des Jahres 2003 kam es zu einer beispiellosen Welle von Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen.
Paul war sechs Monate in Haft, obwohl sein Sachbearbeiter wußte, daß die zuständige Botschaft [Zitat] "ewig braucht". Danach ist er, von einem Tag auf den anderen, freigelassen und in die Motardstraße gebracht worden.
Die Haft hat hier offensichtlich nicht den Zweck der Abschiebung erfüllt, obwohl dies der einzige gesetzlich festgeschriebene Grund für die Verhaftung sein darf. Ebenso wurde das Gebot der Verhältnismäßigkeit gebrochen. Die Willkür und die Verantwortungslosigkeit, mit der der Fall behandelt wurde, waren sogar für uns erschreckend [obwohl wir aus jahrelanger Erfahrung mit der alltäglichen Praxis vertraut sind].
Menschen können und werden nach einer kurzen Anhörung bis zu 18 Monate lang eingesperrt. In 40% der Fälle werden sie nach monatelanger Haft wieder freigelassen ohne abgeschoben zu werden. Dies deutet darauf hin, daß die verantwortlichen Richter fahrlässig entscheiden und daß die Inhaftierung mehr der Abschreckung und weniger der Abschiebung zu dienen scheint.
Paul lebt seit einigen Monaten in der Motardstraße. Für seinen Aufenthalt im Abschiebegewahrsam Berlin-Köpenick wird ihm bald eine Rechnung ausgestellt. Bei einem Tagessatz von 65 Euro und einer sechsmonatigen Haftzeit verlangt Deutschland von Paul 11.895 Euro.
Natürlich wird Paul diese absurde Summe nicht zahlen können. Er war über ein Jahr unterwegs, um in Europa Geld zu verdienen und seiner Familie zu schicken. Sein Heimatland ist durch Kämpfe zwischen ethnischen Gruppierungen lahmgelegt und bietet keine Perspektive.
Europa schottet sich ab – gegen die Folgen von Kolonialismus, von unfairen Handelsbeziehungen, von Ausbeutung, Krieg und Bürgerkrieg.
Europa schottet sich ab – gegen Armut und deren Folgen und gegen diejenigen, die von diesen Folgen am stärksten betroffen sind.
Abschiebehaft ist keine Lösung, sie ist Teil des Problems.
Deshalb fordern wir die sofortige Abschaffung des unmenschlichen deutschen Abschiebesystems.
Redebeitrag auf der Demo am 4. Novmber 2007 ab 16:00 Uhr vor dem Abschiebegewahrsam Köpenick
Kontaktinformationen und Bankverbindung für Spenden siehe: www.initiative-gegen-abschiebehaft.de/kontakt.html