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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Europa-Freunde - Europa-Feinde?

Sabine Lösing, Göttingen

 

Das Jahr 2009 ist nicht nur ein Superwahljahr, es ist das Jahr des Anlaufs der größten Wirtschaftskrise seit dem 2. Weltkrieg, welche die wirtschaftliche Existenz sehr vieler Menschen bedroht, einer Krise, deren Auswirkungen unser Vorstellungsvermögen übersteigen könnten.

Die Fragen der Gründe für diese Krise im Zusammenhang mit europäischer Politik werden selten gestellt. Wo werden die vielbeschworenen Chancen europäischer Politik ergriffen, um die Krise wirksam zu bekämpfen? Dies zu fragen ist genauso wenig Europa-feindlich wie die Kritik unserer niedersächsischen Landtagsfraktion an vielen Maßnahmen der Landesregierung niedersachsenfeindlich ist.

Wenn der gesundheitspolitische Gestaltungsspielraum in Ländern mit einer vergleichsweise guten Versorgung nicht zugunsten einer Unterwerfung der Gesundheitsversorgung unter die Prinzipien des Binnenmarktes vermindert werden soll, so ist das nicht nationalistisch. Wenn ein Land die Verschreibungspraxis von Medikamenten etwa zur Verhinderung von Antibiotika-Resistenzen in eigener Zuständigkeit durchaus restriktiv regulieren muß und Verschreibungen nicht länderübergreifend liberalisiert werden sollen, dann ist das nicht rückwärtsgewandt, dann ist das kein Ansinnen von Blockierern, sondern es ist verantwortungsbewußt.
Wenn wir in unserem Stadtteil mehr Selbstverwaltung fordern, so richtet sich das auch nicht gegen unsere Stadt, allerdings durchaus zuweilen gegen aktuelle bürgerferne Maßnahmen der Verwaltungen.

Während man zur Zeit keine spezifisch linksgerichteten Zeitungen aufschlagen muß, um die Fragen zu lesen, ob der Kapitalismus die letzte Phase der Ökonomiegeschichte bleiben muß – besonders die neoliberale Ausrichtung eines Kapitalismus "Pur" – gibt es in Bezug auf die Europa-Politik die vorgetäuschte Konfliktlinie Europa-Feinde – Europa-Freunde. Dabei war und ist die Losung linker Politik immer internationalistisch, und die Antwort der Linken auf ein Europa, das ein neoliberales Projekt ist, ist nicht die Fixierung auf die Nation, wie es so gerne unterstellt wird, sondern die Antwort ist ein sozialistisches Europa. Die Aufgabe einer europäischen Linken für die Zukunft ist eine internationalistische Zusammenarbeit der Arbeiterbewegung, die selbstverständlich nicht an den Grenzen einer Festung Europa halt machen kann, und ein Eintreten gegen nationalistische und neoliberale Visionen.

Doch Europa in seiner derzeitigen Ausprägung ist ein Projekt der Wirtschafts- und Bildungseliten. So ist es nicht verwunderlich, daß es diese Teile der Gesellschaft sind, die sich am ehesten mit dem Projekt identifizieren können. Es sind gutbezahlte Manager und Angestellte, junge Menschen, Studierende aus der oberen Mittelschicht (und überwiegend Männer), die aktiv die europäische Integration umsetzen. Sie haben das Geld, die Zeit, die Bildung (Mehrsprachigkeit), um Europa zu bereisen, eine europäische Identität zu entwickeln – sie profitieren am meisten von der Deregulierung des Binnenmarkts, von Reisefreiheit und den zahlreichen Programmen zur Förderung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls.

Dies wird in der geplanten Richtlinie zur Förderung der grenzüberschreitenden Patientenmobilität sehr deutlich. Die qualifizierte Auswahl und Inanspruchnahme von sogenannten "Gesundheitsdienstleistungen" als frei verkäufliche Ware in anderen Ländern bei Selbstbezahlung der Reise und Unterkunftskosten und Vorleistung der Kosten für eine Operation kommt nur für wenige Menschen in Frage, im Grunde nur für gut ausgebildete Menschen mit finanziellen Spielräumen.
Die medizinische Versorgung vor Ort, die Versorgung derjenigen, welche die genannten Bedingungen nicht erfüllen können, bleibt auf der Strecke, es einsteht eine "2-Klassen-Medizin": Die der EU-ReisepatientInnen und die derjenigen, die sich das nicht leisten können.

Es ist nicht verwunderlich, daß es gerade die gut bezahlten und gebildeten Menschen der oberen Mittelschicht der europäischen Gesellschaften sind, die gegenwärtig dem herrschenden Modell einer europäischen Integration am positivsten gegenüberstehen und es aktiv mitgestalten. Die neoliberal ausgerichtete EU ist ein Projekt von und für die Eliten der europäischen Gesellschaften.

Zur Bestürzung der ProtagonistInnen eines solchen EU-Projekts wird dies von sehr vielen Menschen auch so durchschaut und wahrgenommen, die Bereitschaft, sich zu Europa, zur EU zu bekennen, bleibt marginal. Arbeiter und Geringverdienende, ältere und sozial ausgegrenzte Menschen sind zu Recht am wenigsten davon überzeugt, daß die jetzt herrschende neoliberale EU-Politik in ihrem Namen durchgeführt wird.

So sind die sozialen Standards in Deutschland und Europa in den letzten Jahren immer mehr unter Druck geraten. Ein gnadenloser Konkurrenzkampf um niedrige Löhne und Steuersätze führte zu wachsendem Sozialabbau, zu niedrigen Löhnen, zu längeren Arbeitszeiten, zu mehr Armut. Das ärmste Viertel der Beschäftigten in Deutschland verdiente bereits im Jahr 2006 knapp 14 Prozent weniger als vor zehn Jahren.

Das viel beschworene und diskutierte "Europa der zwei Geschwindigkeiten” existiert tatsächlich. Es hat aber weniger geographische Hintergründe, es ist Ergebnis der sozialen Frage.

Während die Eliten der europäischen Gesellschaften mehr und mehr europäisch handeln und denken, bleiben breite Teile der europäischen Bevölkerungen äußerst EU-skeptisch. Die ProtagonistInnen eines neoliberalen Europas der Eliten reagieren auf diese Diskrepanz in einer spezifisch prä-europäischen Art und Weise – sie versuchen die Loyalität der Nicht-Profitierenden durch das Erschaffen einer abstrakten europäischen Identität zu forcieren. In ganz ähnlicher Weise wie es die nationalistische Propaganda im Bezug auf den National-Staat versuchte, so versuchen die Akteure eines neoliberalen Elite-Europas ihr Europa-Projekt – die neoliberale und kapitalfreundliche EU – als den Garant für Frieden, Freiheit des Individuums und der Menschenrechte darzustellen. Diejenigen, die offensichtlich nicht von einem so ausgerichteten Projekt EU profitieren, sollen so zum Mitmachen bewegt werden.

Eine solche Darstellung ist für das Europa der Eliten – die neoliberale EU – in doppelter Hinsicht von Vorteil. Zum einen soll ein positiver Bezug zu diesen europäischen Idealen eine europäische Identität erzeugen, welche die offensichtlichen Ungerechtigkeiten und Widersprüche im EU-Europa überwinden helfen und die Interessenlage des neoliberalen EU-Projekts verschleiern soll – in ganz ähnlicher Weise wie der identitäre Bezug zu einer Nation. Zum anderen kann so Kritik an der neoliberalen EU als Kritik an den proklamierten Idealen umgedeutet und delegitimiert werden.

Wer, wie es eine Linke immer getan hat und es auch heute tun sollte, die Interessenwidersprüche in einer Gesellschaft ans Licht bringen möchte und sich weigert, die soziale Frage hinter einer künstlichen Identität – sei es Heimat, Nation oder eben einer EU – verschwinden zu lassen, wurde früher zum "Vaterlandsverräter" erklärt und wird heute zum "Feind Europas" erklärt.

Eine solche Verzerrung linker Kritik an einer neoliberalen EU der Eliten als anti-europäisch oder gar nationalistisch, wiegt besonders schwer und ist besonders wirksam, da die proklamierten Ideale der EU – Frieden, Völkerverständigung, Gleichbehandlung der Geschlechter, Kernbestandteil linker Politik sind und waren.

Um die propagandistische Wirkungskraft dieser Denunziation einer Analyse der neoliberalen EU des Lissabon-Vertrages als ein Interessenprojekt der Reichen und Mächtigen als anti-europäisch, rechtspopulistisch etc. zu entkräften, müssen daher zwei Dinge geschehen: Zum einen muß eine Linke ihr Copyright an diesen Idealen betonen. Das Eintreten für Frieden und Völkerverständigung, Menschenrechte und Diskriminierungsfreiheit ist ja keine originär europäische Idee, sondern diese Ideale beziehen sich auf linke Konzepte und Projekte. Wenn diese Ideale aber die Ideale einer internationalen und internationalistischen Arbeiterbewegung waren (weit über die EU hinaus), wie können sie dann die Ideale europäischer kapitalistischer Eliten sein?

Dies zeigt auch schon den zweiten Schritt auf, nämlich aufzuzeigen, daß die von den Eliten vorgeschobenen Ideale nicht wirklich ihre Ideale sind. Dazu bedarf es der deutlichen Analyse der Interessen, die der EU-Politik zugrunde liegen.

Die europäische Integration zur Wahrung von Frieden und Menschenrechten ist nach der Katastrophe von zwei Weltkriegen von den Bevölkerungen Europas forciert worden, die erfahren haben, welchen Konsequenzen ein kapitalistisches und auf nationalen Egoismen basierendes Europa hat.

Wie kann die derzeitige EU, die ohne Wenn und Aber auf deregulierten Kapitalismus gesetzt hat (dies mag sich jetzt vielleicht ein wenig ändern) und auf internationaler Ebene nicht weniger egoistisch und rücksichtslos im Sinne europäischer Interessen agiert wie es europäische Nationalstaaten taten, Ausdruck eines idealistischen Projektes der europäischen Integration sein?

In den 1950ern wurde als eine der ersten konkreten Umsetzungen einer europäischen Integration die zwischenstaatliche Kontrolle und gemeinschaftliche Gestaltung der europäischen Kohle-und-Stahl-Produktion im Rahmen der EGKS beschlossen – in der berechtigten Hoffnung, daß eine Denationaliserung dieser kriegswichtigen Industrien einen weiteren Krieg innerhalb Europas unmöglich machen würde.

Es ist nicht zu übersehen, daß zwischen diesem Ansinnen und der Aufrüstungsverpflichtung im jüngsten EU-Verfassungsentwurf ein grundsätzlicher Widerspruch besteht.
Der gleiche Widerspruch besteht auch zwischen der Bewegung junger Menschen in Europa zur Überwindung der Schlagbäume und Grenzen, die sie von den Menschen in ihren Nachbarländern trennten, zu dem Aufbau einer EU der Grenzbefestigungen mit Hilfe der menschenverachtenden Grenzschutzagentur FRONTEX.
Wie verträgt sich die Losung "Nie wieder Krieg" mit weltweiten Kampfeinsätzen europäischer Mitgliedstaaten?
Wenn es einer linken Bewegung gelingt, der Propaganda der europäischen Eliten einig entgegenzutreten, kann sie sich auf ihr Kernanliegen, nämlich für einen Richtungswechsel in der EU-Politik einzutreten, konzentrieren.

Im Gegensatz zum neoliberalen EU-Europa von und für Eliten, Gutverdienende, Gesunde, Junge muß es Aufgabe einer Linken sein, die Interessen der Ausgebeuteten zu vertreten. Es ist darüber hinaus wichtig, herauszuarbeiten, daß der Gegenentwurf zu der herrschenden EU-Politik nicht das Stärken nationaler Identitäten sein kann, sondern das Stärken von Klassenbewußtsein. Es mag viele Menschen auf der Verliererseite der EU geben, die auf Grund der negativen Auswirkungen der EU-Politik Konzepten der Nation den Vorrang geben. Dies ist eine Gefahr, die eine Linke bekämpfen muß. Diese Gefahr ist jedoch nicht Konsequenz linker Kritik an der neoliberalen EU, wie es zum Beispiel etwa manche FDP-Mitglieder glauben machen wollen, sondern, diese Gefahr ist eine direkte Konsequenz dieses neoliberalen EU-Projekts.
Die Legitimationskrise der gegenwärtigen neoliberalen EU ist eine Folge der Vehemenz, mit der die Eliten Europas den Großteil der Menschen von den Gewinnen ihres Projekts ausschließen. Nicht zuletzt hierdurch wird es bewußt in Kauf genommen, daß nationalistische und rassistische Ressentiments in Europas Gesellschaften wieder an Zuspruch gewinnen, wenn sie zum Beispiel die Beschäftigten verschiedener europäischer Gesellschaften gegeneinander ausspielen.

Wenn wie vor einigen Wochen britische Arbeiter unter der Losung "british jobs for british workers" gegen ihre italienischen Kollegen demonstrieren, die auf Grund der europäischen Deregulierung von englischen Arbeitgebern zur Umgehung der Lohnstandards eingesetzt werden können, ist das doch nicht Konsequenz linker Kritik an der EU, sonder Konsequenz eines Europas, das einzig und allein im Interessen der Eliten agiert.

In der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Situation stellt sich die Notwendigkeit eines grundlegenden Wechsels der neoliberalen Ausrichtung der EU in aller Deutlichkeit. Linke Politik muß Europa als zentrales Handlungsfeld nutzen, um einen Wechsel zu einer friedlichen und sozialen Politik zu befördern. Wer weiter machen will wie bisher, tritt im Grunde gegen die europäische Idee an.

 

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