Elfriede Brüning
Zum 100. Geburtstag
Am 8. November 2010 feiert Elfriede Brüning ihren 100. Geburtstag. Die Redaktion der "Mitteilungen" und der Sprecherrat gratulieren von ganzem Herzen. Von Frauen hat Elfriede Brüning immer wieder erzählt, so auch in dem im Mitteldeutschen Verlag erschienen Erzählband "Altweiberspiele und andere Geschichten" (2. Aufl., Halle-Leipzig 1986). Darin finden sich auch autobiografische Reminiszenzen, so über ihren antifaschistischen Kampf im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller:
Das einzige Konkrete also, was mir die Gestapo nachweisen konnte, war meine Teilnahme an der Zusammenkunft am Havel-Ufer. Sie gleichfalls abzuleugnen, wäre sinnlos gewesen, denn der Gestapomann konnte sich auf die Aussagen seines bewährten Spitzels stützen. Als er mir aber vorhielt, daß bei jener Gelegenheit auch von meinem geplanten Buch über "Die Frau im dritten Reich" gesprochen worden sei, fiel mir blitzschnell ein, daß ich gerade einen Artikel über eine meiner Freundinnen, eine Architektin, geschrieben hatte, der im Berliner Tageblatt sowie in mehreren großen Provinzzeitungen erschienen war. Ich erwiderte also prompt, ihn korrigierend, ich wolle kein Buch, sondern lediglich Frauenporträts für die Presse schreiben; der Artikel über die Architektin sei der erste dieser Art. Mein Gegenüber stutzte; offenbar war er aus dem Konzept geraten und wandte sich zunächst seiner Schreibkraft zu. In ihrem leise geführten Zwiegespräch fing mein Ohr plötzlich einen Namen auf: Herta Block. "Die", sagte der Gestapo-Mann auf eine Frage seiner Sekretärin ärgerlich, "die ist uns doch ins Ausland entwischt. Die sitzt in Kopenhagen!" – Ich lauschte mit allen Sinnen. Herta Block war im Ausland? Mein Gehirn arbeitete fieberhaft: Wenn Herta, die Bibliothekarin, im Ausland war, konnte sie meine Aussage nicht widerlegen. Auf eine neue, schon dringlichere Frage des Kommissars, wen alles aus der Runde ich denn nun kenne, erwiderte ich daher gelassen: "Ich kenne nur Herta Block. Sie ist Bibliothekarin, und ich wollte sie für meine Artikelserie interviewen. Darum hatten wir uns verabredet. Um die anderen, die in unserer Nähe waren, haben wir uns nicht gekümmert."
Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat. Doch selbst der Vernehmungsrichter, dem wir nach etwa zwei Wochen zugeführt wurden, hatte sich meine Version zu eigen gemacht und eröffnete mir, daß er gegen mich keine Anklage erheben werde, da ich "nur zufällig in jene Gruppe geraten" sei. Vom Richter war ich also freigesprochen. Die Gestapo behielt mich noch länger "in Schutzhaft", und auch nach meiner Entlassung mußte ich mich dreimal in der Woche in der Prinz-Albrecht-Straße melden.
Was dann geschah, ist so phantastisch, daß kein Romanautor es erfinden dürfte – wollte er sich nicht dem Vorwurf aussetzen, allzu sorglos den Zufall bemüht zu haben. Ich hatte mich am ersten Sonntag nach meiner Freilassung mit einem ehemaligen Kollegen verabredet, der im Süden Berlins, in Lichterfelde, wohnte, also in einer Gegend, in die ich noch nie gekommen war. Auf dem Bahnhof Papestraße – den ich auch zum ersten Mal betrat – mußte ich umsteigen. Ich stieg die Treppe hinauf, die zum anderen Bahnsteig führte und – lief geradewegs Herta Block in die Arme! Die Bibliothekarin war nur eine kurze Woche in Kopenhagen geblieben – um an einem Sportfest teilzunehmen – und war danach sofort wieder zu ihrem Vater zurückgekehrt, dem sie seit dem Tode ihrer Mutter, wie sie uns oft erzählt hatte, den Haushalt führte. Ich zog sie hastig beiseite: "Um Himmels willen, Herta ...!" Doch sie wußte schon alles. Ihr Hauswart hatte ihr hinterbracht, daß die Gestapo bei ihr gewesen war, und sie war gefaßt darauf, daß man sie ein zweites Mal "besuchen" würde. Dennoch weigerte sie sich, etwa nach Prag zu emigrieren, wohin wir die besten Verbindungen hatten. "Was kann mir die Gestapo schon nachweisen?" sagte sie sorglos. "Ich bleibe bei deiner Aussage. Sicher sprechen sie mich dann ebenfalls von der Anklage frei."
Doch darin irrte sie leider. Zu dem Prozeß gegen Herta, der sechs Monate später stattfand, war ich als Zeugin geladen. Alles ging gut, solange von der Zusammenkunft an der Havel die Rede war; unsere Aussagen stimmten überein. Aber Herta hatte, ebenso wie der Spitzel Felix, der Gruppe West angehört, so daß die Gestapo ihr mühelos auch weitere Handlungen nachweisen konnte. Herta wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Ich geriet noch einmal in eine heikle Lage, als ich nach einigen Monaten eine Vorladung zum Untersuchungsrichter erhielt. Beklommen betrat ich das Moabiter Gerichtsgebäude. Der Richter empfing mich jedoch freundlich und wiederholte sogar meine der Gestapo gegenüber gemachte Aussage, die er mir also offenbar glaubte. Schon hoffte ich, ungeschoren davonzukommen, da streckte mir der Richter plötzlich über den Tisch hinweg ein Foto entgegen. "Kennen Sie den hier?" fragte er mich lauernd. Ich hatte sofort auf dem Bild Kurt erkannt, blieb aber dabei, jenem jungen Menschen nie begegnet zu sein. Der Richter fixierte mich lange, beugte sich dann langsam über seinen Schreibtisch und drückte auf einen Knopf, der unter der Schreibtischplatte verborgen war. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Kurt trat ein. Ich erschrak bei seinem Anblick, so sehr hatte sich sein Äußeres bereits verändert. Er war abgemagert, sein Gesicht zeigte schon die graue Gefängnisfarbe. Scheu kam er näher. "Kennen Sie die?" fragte der Richter, auf mich weisend, und Kurt erwiderte prompt, wie ein Automat: "Ja, das ist ..." Und er nannte meinen vollen Namen. Dann wurde er wieder hinausgeführt.
Der Richter sah fragend, etwas spöttisch zu mir herüber, und ich erfaßte im selben Augenblick, daß mich nur größte Kaltblütigkeit aus der Situation würde retten können. Daher erwiderte ich mit einer Dreistigkeit, die einem nur in der Jugend zu Gebote steht: es sei schon möglich, daß jener mich kenne, ich sei schließlich eine nicht unbekannte Journalistin! Ich aber könne mich nicht an ihn erinnern. – Der Richter war offenbar zu perplex, um etwas erwidern zu können. Ich war "in Gnaden" entlassen, er begleitete mich sogar bis zur Tür. Wieder einmal hatte ich den Kopf aus der Schlinge gezogen, die schon für mich geknüpft worden war.