Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Eiszeit im Sommer: Deutsch-russische Beziehungen am Gefrierpunkt

Wolfgang Gehrcke, MdB

 

Viele Menschen reden sorgenvoll darüber, dass wir in Zeiten drohender Kriegsgefahr leben. Die Wahrheit ist grausamer. Wir leben in Zeiten real stattfindender Kriege. Der Krieg ist wieder gegenwärtig: Durch Waffen, Soldaten, neue Militärtechnik, durch Auslandseinsätze der Bundeswehr, durch Rüstungsexporte, aber auch durch Flüchtlinge, die vor diesen Kriegen nach Europa und auch in unser Land fliehen. 60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. 80 Prozent von ihnen fliehen vor Krieg und terroristischer Gewalt.

Der Krieg wütet derzeitig in Syrien, im Jemen, in Libyen und im Irak. Krieg herrscht in Mali ebenso wie in der Zentralafrikanischen Republik. Immer mehr Länder Afrikas werden in den Strudel der Kriege gerissen.

Krieg herrscht in Afghanistan, Pakistan und nunmehr ist er auch nach Europa zurückgekehrt. Mehr als Zehntausend Menschen sind mittlerweile im Krieg in der Ukraine ums Leben gebracht worden.

Die Begründungen für die Kriege waren und sind unterschiedlich; mal sprachen die Kriegsbetreiber vom Krieg gegen den Terror, von einem Krieg für Demokratie. Mal wurde Abrüstung zum Kriegsgrund gemacht, mal war der angebliche Wunsch, Diktatoren zu stürzen, der Auslöser für militärische Gewalt und Zerstörung. Krieg hängt aber immer mit Waffentechnik, mit dem Verkauf von Waffen und Waffensystemen, mit der Verschiebung von Grenzen zusammen. Häufig geht es um Naturressourcen. So zum Beispiel um den Zugriff auf Öl oder Gas. Es geht um den Verlauf von Pipelines. Und immer öfter geht es auch um Wasser. Die Kriegsbegründungen erinnern in Vielem an den »Neusprech aus Georg Orwells Farm der Tiere«; aus Krieg wird Frieden, aus Gewalt Demokratie, aus der Ausplünderung von Naturressourcen humanitäre Hilfe.

Bei Strategen vergangener Zeiten hieß es immer: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. Heute nennt man es Friedenseinsätze, wenn Krieg gemeint ist, Diktatorensturz und friedliche Revolution, wenn eine Neuaufteilung der Welt vorgenommen wird oder werden soll.

Deutschland hat viele Freunde in der Welt, gute und weniger gute. Damit wir uns richtig verstehen: Ich rede nicht von Völkern, sondern von Staaten. Deutschland, so höre und lese ich immer wieder, ist befreundet mit der Türkei, mit Saudi-Arabien und Katar, um nur einige zu nennen. Diese drei Länder sind enge Verbündete Deutschlands. Sie erhalten aufmunternde Worte und vor allem Waffen. Dass in Saudi-Arabien Menschen gefoltert, geköpft oder zu Tode gepeitscht werden, hindert die deutsche Politik nicht, gute Beziehungen zu diesem Regime zu unterhalten und von Saudi-Arabien als einem Stabilitätsanker im Mittleren Osten zu sprechen. Die Freundschaft unseres Landes zu Diktaturen in aller Welt zeigt, dass die deutsche Außenpolitik eine Politik der Heuchelei ist.

Eine solche Politik nennt sich dann Realpolitik. Auf solche Realpolitik kann die Linke pfeifen. Linke Politik sollte auch das derzeitig »Nichtreale« verfechten, sodass es irgendwann real wird.

Deutsche Großmachtansprüche – in engster Zusammenarbeit mit den USA

Real ist derzeit, dass Deutschland seinen Platz in der Weltpolitik neu sortiert. Dies dauert an und ist längst noch nicht abgeschlossen. Klar ist aber, bedauerlicherweise, dass das Prinzip der militärischen Zurückhaltung, welches bis 1990 galt, keine Gültigkeit mehr hat. Deutschland-Ost war an keinen militärischen Aktionen des Warschauer Paktes direkt beteiligt. Die NVA war die einzige deutsche Armee, die zwar für Kriege geübt hat, aber an keinem einzigen beteiligt war.

Auch für die Bundeswehr war es seinerzeit unvorstellbar, dass sie in Kriegen der Welt Verwendung sucht. Bereits die Wiederbewaffnung war hart umkämpft. Die Bundeswehr verstand sich als »Nicht-Einsatz-Armee« und Helmut Kohl führte Wahlkämpfe mit der Losung »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen«.

Die westdeutsche Friedensbewegung wuchs im Kampf gegen den deutschen Griff nach Atomwaffen, gegen die einseitige Westbindung Deutschlands, gegen die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO. Erst mit dem Einschwenken der SPD auf den Westkurs, auf die NATO-Bindung, konnte der Widerstand der Mehrheit der Bevölkerung gegen diese Politik gebrochen werden. Leider.

Die deutsche Politik strebt einen führenden Platz in der Welt an. Das wird umschrieben mit den Worten »Deutschland sei eine Mittelmacht im Werden«. Zynisch erklärt der deutsche Außenminister Steinmeier, »Deutschland sei eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren«. Das ist vor dem Hintergrund des Völkerrechts unerträglich. Damit ist Steinmeier bei Strauß, der seinerzeit immer wieder bedauerte, dass Deutschland ökonomisch ein Riese, aber militärisch ein Zwerg sei. Strauß wollte die Atombombe. Er hat sie nicht erhalten; aber US-Atomwaffen sind in Deutschland-Büchel stationiert, und zur offiziellen Militärstrategie der Bundeswehr gehört das Konzept der atomaren Teilhabe. Die Strategie von Franz-Josef Strauß war eine Doppelstrategie, gerichtet auf nationale Stärke und – daraus resultierend – einen bestimmenden Einfluss in internationalen Organisationen. Deutsche Großmachtansprüche werden heute nicht mehr nationalstaatlich, sondern mit und über internationale Organisationen betrieben. Diese Tatsache hat auch einen Einfluss auf aktuelle Gegenstrategien. So richtig die Einschätzung von Karl Liebknecht ist, dass der Hauptfeind im eigenen Lande steht, so notwendig ist auch die Fortschreibung dieser Feststellung, dass Deutschland nämlich seine weltweiten Ansprüche nur im Rahmen eines Militärbündnisses oder in der EU und in engster Zusammenarbeit mit den USA realisieren kann.

Der Ausrichter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, bezeichnet es als eine strategische Aufgabe, der Mehrheit der deutschen Bevölkerung einen, wie er meint, übertriebenen Pazifismus auszureden. Ischinger hat Recht. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für Kriege nicht zu begeistern. Genau diese Einstellung, das Nein zu Kriegs- und Militäreinsätzen, müssen wir immer wieder bestärken und bekräftigen. Auf die großartigen Sätze des russischen Poeten Jewgeni Jewtuschenko »Glaubst du die Russen wollen Krieg?«, habe ich immer wieder geantwortet: Nein, die Russen wollen keinen Krieg und die Deutschen in ihrer Mehrheit wollen ihn auch nicht. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, von zwei furchtbaren Kriegen, vor dem Hintergrund dramatischer Aufrüstung und der Blockspaltung Europas, ist die Einschätzung, dass der Pazifismus in der deutschen Politik tief verankert ist, vielleicht der größte Fortschritt der letzten Jahrzehnte.

An die Bundesregierung: »Macht uns die Russen nicht zu Feinden!«

Viele Menschen im unserem Land erleben Kriege durch die Bilder in den Medien und durch die Flüchtlinge, die zu uns kommen. Es scheint so, als ob der Krieg weit weg sei. Aber: Einige hundert Kilometer weiter östlich, in der Ukraine, ist der Krieg mit all seinen Folgen sehr real und alltäglich brutal. 2,5 Millionen Menschen sind aus der Ukraine nach Russland geflüchtet, einige Zehntausend in Richtung Westen. Polen allerdings und andere Staaten – insbesondere die baltischen Länder – sind nicht bereit, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen. Stattdessen fordern ihre Regierungen eine dauerhafte Stationierung von NATO-Einheiten in ihren Ländern – an der Westgrenze Russlands. Und die Bundeswehr erhält eine neue strategische Ausrichtung im Osten Europas. Es sollen neue Waffentypen, darunter Kampfdrohnen und große moderne Panzerverbände, stationiert werden. An der Grenze zwischen West- und Osteuropa wird ein Raketenabwehrsystem installiert und damit ein System geteilter Sicherheit in Europa geschaffen.

Die Bundesregierung, CDU/CSU, SPD und Grüne, bauen auf die NATO. Die LINKE muss entschieden Kurs halten. Sie muss alles tun, um ein gesamteuropäisches, ziviles Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands zu befördern. Sie muss bei der Forderung bleiben, dass Deutschland sich zunächst einmal aus den militärischen Strukturen der NATO zurückziehen sollte. Zum Profil linker Friedenspolitik gehört nicht minder die Forderung nach Auflösung der NATO, nach der Schließung von US-Stützpunkten in Deutschland und gehört die Zusicherung, NATO-Militäraktionen niemals zuzustimmen. Ebenso müssen wir dem Ziel der NATO – jeweils zwei Prozent des BIP für Rüstung auszugeben – Widerstand entgegensetzen. Das wichtigste »Argument« gegen diesen programmatisch festgelegten Kurs der LINKEN, sowohl von der SPD als auch von den Grünen vorgetragen, aber auch aus unserer eigenen Partei kommend, lautet: Mit einer solchen Politik ist die LINKE nicht regierungsfähig. Man erwartet also von den Linken, so zu werden, wie es die Sozialdemokraten nach ihrem Einschwenken auf die Westbindung und die Grünen nach ihrer Akzeptanz der NATO-Politik zum Kosovo-Konflikt wurden. Das ist eine Null-Summen-Strategie. Für die LINKE bedeutete diese Strategie ihren Selbstmord und für die Wählerinnen und Wähler den weiteren Verlust einer erkennbaren Alternative.

Die Strategie einer sozialistischen Partei soll Zusammenarbeit einschließen und die Stärkung der Friedensbewegung auch als Bindeglied zwischen Mitgliedern und Aktiven verschiedener Parteien vorantreiben. Für die Partei DIE LINKE muss es heißen, dass der Grundsatz »Von deutschem Boden darf kein Krieg ausgehen.« auch die Teilhabe an Kriegen ausschließt, die von internationalen Koalitionen und Allianzen wie zum Beispiel der EU und der NATO geführt werden.

Die LINKE will eine andere Russlandpolitik, eine Politik der gemeinsamen Sicherheit. Auch deshalb können wir auf die NATO verzichten. Die Bundesregierung will eine Militarisierung der Europäischen Union, will statt nationaler Rüstung eine europäische Rüstungsagentur und mittelfristig die Ersetzung der Bundeswehr durch eine EU-Armee. Mit einer Armee der Europäischen Union wird aber kein politischer Fortschritt erreicht, sondern werden Kriegs-, nicht Friedensszenarien weiter internationalisiert. Eine EU-Armee ist keine Alternative zur NATO.

Die Alternative zur jetzigen Armee ist nicht eine besser ausgebildete und aufgestellte, sondern die Abschaffung von Armeen. Entspannungspolitik in Europa ist mehrheitsfähig und mit einer neuen Ostpolitik, die an Erfahrung und Tradition der Brandt-Regierung anknüpft, können Wahlen gewonnen werden.

Der stellvertretende Chefredakteur des Stern hat dies der SPD in einem Leitartikel vorgeschlagen und geraten, 2017 zu den Bundestagswahlen das Konzept einer neuen Ostpolitik ins Zentrum zu stellen. Ich glaube, dass er Recht hat. Allerdings mit einer Einschränkung: Ich möchte, dass die LINKE diese Idee aufgreift und wir zusammen mit allen gesellschaftlichen Kräften, die an der Idee der europäischen Sicherheit festhalten, diese befördern.

Diese Politik hat auch und nicht zuletzt eine moralische Seite. Wir haben zur Begründung unserer Friedenspolitik im Nahen Osten und in unserem Verhältnis zu Israel immer in Rechnung gestellt, dass Deutschland die Schuld an der Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden trägt und dies ein besonderes Verhältnis begründet. Ebenso begründet die deutsche Schuld an der Tötung und Ermordung von 27 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion, darunter viele Millionen Russinnen und Russen, ein besonderes Verhältnis zu Russland. Ein Minimum an Einsicht in dieses historische Verhältnis wäre, sich auch aktuell konsequent am Schwur von Buchenwald »Nein zu Krieg und Faschismus« zu orientieren und in diesem Sinne von der Bundesregierung zu fordern: »Macht uns die Russen nicht zu Feinden!« Noch nie seit der deutschen Vereinigung war das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland so schlecht, wie es heute ist. Das darf nicht so bleiben und auch deshalb brauchen wir eine grundlegend andere Russlandpolitik.

 

Mehr von Wolfgang Gehrcke in den »Mitteilungen«: 

2014-04: Abu Ghraib – das ist das Gesicht der Folter, der Verachtung, der Entwürdigung