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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Einebnung statt Vertiefung des Gedenkens

Hans Canjé, Berlin

 

Anmerkungen zur Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung

 

Der Titel des Autors kommt so gespreizt daher wie das Papier, das er am 26. Juni 2007 der Öffentlichkeit übergeben hat: Der Autor Bernd Neumann (CDU) ist "der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien". Und sein Papier, als "Entwurf" deklariert, ist überschrieben: "Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. (Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption gemäß Koalitionsvertrag vom 11. 11. 2005 zur Vorlage an den Ausschuß für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages)". Die Konzeption umfaßt 27 Schreibmaschinenseiten und soll erklärtermaßen die derzeit noch gültige Konzeption "fortschreiben und überprüfen". Die von dem Papier "Betroffenen" werden aufgefordert, ihre Meinung zu artikulieren. Unter deren Einbeziehung werde er einen endgültigen Entwurf vorlegen, der dann den parlamentarischen Gremien zugeleitet werden und fortan die staatliche Richtschnur für zeitgemäße deutsche "Erinnerungskultur" vorgeben soll.

Nun ist es ja keinesfalls so, daß in dieser Richtung bislang nichts geschehen ist. Mit den "Empfehlungen" der Enquete-Kommission des Bundestages "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" ist da schon manches an "Aufarbeitung" zur Delegitimierung des DDR und ihrer Gleichsetzung mit der faschistischen Herrschaft auf den Weg gebracht worden. Zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit für die Robustheit, mit der hier Geschichte vergewaltigt wird:

Die heutige Hallenser Gedenkstätte "Roter Ochse" hatte ab 1935 als Zuchthaus für "Schutzhäftlinge" gedient. In der Hinrichtungsstätte sind in den Jahren von 1942 bis 1945 mindestens 549 überwiegend Gegner des faschistischen Regimes hingerichtet worden. Im Juli wurden in der dortigen Dauerausstellung "Politische Justiz 1933–1945 – 1945–1989" steckbriefartige Karteikarten mit den Namen, Fotos, Schulbildung usw. von Vernehmungsoffizieren des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ausgelegt, die ab 1952 in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums tätig gewesen waren. Es könne nicht sein "daß in der Gedenkstätte die Täter aus der NS-Zeit benannt werden, die aus der Stasi-Zeit aber nicht", hieß es zur Begründung. "Das sind wir den Opfern schuldig."

Auch in Brandenburg will man ab 2009 in einem neuen, vier Millionen Euro teuren Dokumentationszentrum, "beide Diktaturen zusammendenken". Noch gibt es hier die Gedenkstätte auf dem Gelände der einstigen faschistischen Hinrichtungsstätte im Zuchthaus Brandenburg-Görden, in der von 1940 bis 1945 nach unvollständigen Unterlagen 1.700 politische Gegner aus Deutschland und fast allen europäischen Ländern durch das Fallbeil oder den Strick hingerichtet worden sind. Eine der ersten Tötungsanstalten für als "lebensunwert" abqualifizierte Kranke und Behinderte im Rahmen der "Aktion T 4" befand sich in Brandenburg-Görden. 10.000 fielen hier der "Ausmerze" zum Opfer. Unter dem neuen Dach sollen dieser Massenmord und das, so die Schweriner Volkszeitung vom 3. August 2005, "Justizunrecht in Brandenburg/Havel zur NS-Zeit und während der DDR, als das dortige Gefängnis eine große Rolle bei der Inhaftierung politischer Häftlinge spielte", zusammengefaßt werden. "Inhaltliche Erweiterung" des Gedenkens, wird das genannt.

Vorgaben zur "Fortschreibung"

Das Papier soll diskutiert werden, sagt Neumann. Allerdings soll die Phantasie der "Betroffenen", (KZ-Gedenkstättenleiter, Vertreter der NS-Opferverbände) gelegentlich auch abfällig als "Gedenkstättenprofis" (dis)qualifiziert, bei den Reizwörtern "Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen" nicht zu üppig ins Kraut schießen. Darum hat der "Kulturstaatssekretär" fürsorglich einige Schwerpunkte der "Fortschreibung" vorgegeben. Sie betreffen sowohl den Umgang mit den KZ-Gedenkstätten in den alten und neuen Bundesländern als auch jene Einrichtungen, die an das "SED-Unrecht", an das also erinnern sollen, was da als "zweite Deutsche Diktatur" bezeichnet wird. Wobei die aufgeführten Schwerpunkte eine Verschiebung in Richtung "Zweite Diktatur" deutlich machen, was auch durch die quantitative Gewichtung im Entwurf erkennbar ist. Hier einige der Leitlinien, wie sie im Entwurf vom 22. Juni 2007 aufgeführt sind:

"Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 11. November 2005 sieht vor, die Gedenkstättenkonzeption mit dem Ziel der angemessenen Berücksichtigung der beiden Diktaturen in Deutschland fortzuschreiben."

"Die vollständige und vorurteilsfreie Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die sich nicht nur auf die neuen Länder beschränken darf. Die Geschichte der SBZ und der DDR ist Teil der gesamtdeutschen Geschichte und muß als solche erkennbar sein. Auch die westdeutschen Länder sind deshalb aufgefordert, ihren Teil zur Bewältigung dieser gesamtdeutschen Aufgabe zu leisten."

"Ziel der Bundesregierung ist es, die erinnerungspolitische Aufarbeitung des SED-Unrechts zu verstärken und in diesem Zusammenhang Widerstand und Opposition besonders zu würdigen. Hierzu soll die Zusammenarbeit aller Einrichtungen zur Geschichte der SBZ und der DDR im Rahmen eines Geschichtsverbundes des SED-Unrechts( Hervorhebung im Original) gefördert werden."

"Das Thema ‚Alltag in der DDR’ wird berücksichtigt, um einer Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder ‚Ostalgie’ entgegenzuwirken. Bei der Behandlung dieses Themas müssen Begrifflichkeiten geklärt werden. Darstellungswürdig sind nicht die vermeintlichen ‚Bindungskräfte’ der DDR, sondern das ‚Angst-Anpassungssyndrom des Alltags’ (Joachim Gauck). Dazu ist das alltägliche Leben notwendigerweise im Kontext darzustellen. Es muß deutlich werden, daß die Menschen in der DDR einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterlagen und einem massiven Anpassungsdruck ausgesetzt waren."

"Zum historischen Erbe des wiedervereinigten Deutschland zählt seit 1990 auch die kommunistische Diktatur in der ehemaligen SBZ/DDR. So wie die Erfahrung mit der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg die demokratischen Parteien im antitotalitären Grundkonsens verband, verbindet sie heute auch das Wissen um das Geschehen in der SED-Diktatur. Darauf beruht unsere gemeinsame Verantwortung, das Geschehen an unsägliches menschliches Leid der Opfer wachzuhalten."

Totalitarismusdoktrin pur

Die ursprünglich schon für den Oktober 2006 angekündigte Konzeption ist die Vollstreckung der Totalitarismusdoktrin in Reinkultur. Bernd Neumann ist, daran soll hier erinnert werden, auf diesem Gebiet ja kein unbeschriebenes Blatt. Gemeinsam mit dem heute als "Beauftragten für Menschenrechtsfragen" agierenden und sich immer noch mit dem Titel "Bürgerrechtler" schmückenden CDU-Bundestagsabgeordneten Günter Nooke hatte er bereits 2004 unter Rot/Grün ein "Plädoyer für eine Neukonzeption unserer nationalen Erinnerung" mit dem Titel "An beide Diktaturen erinnern" formuliert. Als es am 17. Februar 2005 im Kulturausschuß des Bundestages Gegenstand einer Anhörung war, sprach die TAZ von einem "Gedenkbrei", der "sowohl die braune Diktatur und ihre Massenmorde bis 1945 wie die rote und ihre Verbrechen behandelt". Im Juni 2004 brachte die CDU/CSU den Entwurf im Bundestag ein, nachdem er zuvor zweimal zurückgezogen worden war. (Die Christdemokraten waren durch die antisemitischen Ausfälle ihres Abgeordneten Martin Hohmann ins Zwielicht geraten. In Sachsen hatte ein Gedenkstättengesetz im Sinne der Gleichsetzung von Faschismus und DDR-Politik zu dem Eklat geführt, daß die Vertreter der NS-Opferverbände, wie die Zentralräte der Juden und der Sinti und Roma sowie die VVN die Stiftung unter Protest verlassen hatten und bis heute nicht in das Gremium zurückgekehrt sind.)

Das hatte über die Grenzen hinaus hohe Wellen geschlagen. Von einem "erinnerungspolitischen Paradigmenwechsel" war angesichts solcher Thesen wie "Beide Diktaturen standen jeweils auf ihre Weise einem demokratischen Rechtsstaat diametral entgegen und bekämpften diesen" und von "offenkundigen Zusammenhängen" gesprochen worden. Diese unverhohlene Gleichsetzung der faschistischen Völkermordpolitik mit der "SED-Diktatur" führte schließlich zur Nichtbehandlung des CDU/CSU-Antrags im Bundestag.

Nun also mit dem Koalitionsvertrag auf ein Neues zur, wie es darin heißt, "angemessenen Berücksichtigung der beiden Diktaturen in Deutschland". Die SPD-Spitzenpolitiker Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident, und Monika Griefahn, Sprecherin der SPD-Bundestags-Arbeitsgruppe Kultur und Medien, finden, hier liege ein "interessanter Diskussionsbeitrag" auf dem Tisch. Die Historische Kommission beim Parteivorstand der SPD übte sich in einer Erklärung vom 22. Juni 2007 im fast preiswürdigen Spagat: "Es ist – von welcher Seite auch immer betrieben – unverantwortlich, die Opfer der verschiedenen Vergangenheiten (welch eine Wortschöpfung! – H. C.) gegeneinander auszuspielen. Die herausragende Rolle der NS-Vergangenheit, insbesondere der Holocaust, steht außer Zweifel, doch kann dies nicht bedeuten, daß nicht andere Komplexe wie die kommunistische Diktatur und ihre Opfer ebenfalls eine angemessene Würdigung finden."

Protest der "Gedenkprofis"

Die Reaktion der "Gedenkprofis" auf das unzüchtige Ansinnen Neumanns ließ nicht lange auf sich warten. Samuel Korn, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, wählte für seine Antwort den blutgetränkten Boden des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. Beim Gedenken zum 70. Jahrestag der Errichtung des Lagers auf dem Ettersberg am 15. Juli protestierte er gegen die Pläne, die Geschichte des NS-Regimes und der SED "parallel aufzuarbeiten". Beide hätten nichts miteinander zu tun. "Jeder Versuch, Parallelen herzustellen, ist eine Relativierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik." Die Bundesregierung plane offensichtlich eine staatlich verordnete Gedenkstättenpolitik, indem er Opferverbände und Wissenschaftler von der Mitarbeit ausschließe. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, wandte sich als Vertreter dieser im öffentlichen Bewußtsein immer noch weitgehend "vergessenen" Opfergruppe gleichfalls gegen alle Versuche, "die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen zu leugnen oder zu relativieren".

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) habe nichts gegen eine kritische Aufarbeitung der DDR-Geschichte, sagte deren Vorsitzender Heinrich Fink im Gespräch mit der "jungen Welt". "Sie muß allerdings der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein." Jeder Versuch einer Gleichsetzung mit dem Völkermordregime des Faschismus "kommt einer Verharmlosung der Untaten der deutschen Faschisten gleich". Als Sprecher der größten deutschen Vereinigung von NS-Opfern "fordere ich nachdrücklich: Dieses Konzept muß vom Tisch. Es ist eine Verhöhnung aller Opfer des Faschismus." (junge Welt, 4./5. August 2007)

"Verschleifende Rede"

Moralischen Ohrfeigen gleich kommt die in zehn Punkten zusammengefaßte gemeinsame Erklärung der Leiter der größten deutschen KZ-Gedenkstätten (Buchenwald, Dachau, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen, Flossenbürg, Mittelbau-Dora) und des Geschäftsführers der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. Die "verschleifende Rede von den ‚beiden totalitären Systemen’ trage zur Klarheit nicht bei", heißt es unter Bezug auf die geforderte "Parallelisierung der Erinnerung an DDR-Kommunismus und Nationalsozialismus". Gerade in diesem Punkt "sind eine den historischen Tatsachen entsprechende unzweideutige Sprache und Haltung erforderlich". Kategorisch wird gefordert: "Der Entwurf muß entsprechend überarbeitet werden."

Diese Forderung bezieht sich auch auf den bereits vom Generalsekretär des Zentralrats der Juden Samuel Korn zurückgewiesenen unüberhörbaren Anspruch der Bundesregierung, allein darüber zu bestimmen, wie deutsche Gedenkkultur künftig zu gestalten sei. Der Entwurf verzichte auf die im bisher geltenden Gedenkstättenkonzept explizit betonte "inhaltliche Autonomie und politische Selbständigkeit" als "Kernmerkmal demokratischer Erinnerungskultur". Dies falle um so mehr auf, "weil der Entwurf sich parteilicher Geschichtsdeutungen nicht enthält, etwa wenn dort festgelegt wird, in welcher Weise das Thema ‚Alltag in der DDR’ inhaltlich zu behandeln ist." In der Tat fällt gerade bei diesem Punkt (siehe weiter oben) der autoritäre Weisungsstil und der Umfang der Beschreibung dessen auf, was da detailliert als Beispiel für das Ausmaß der "SED-Diktatur" aufgelistet wird.

"Strukturell unterfinanziert"

In den alten Bundesländern wäre mancher Leiter einer KZ-Gedenkstätte glücklich gewesen, wenn der Staat sich ein wenig intensiver um die Bewahrung dessen gekümmert hätte, was das faschistische Regime in Gestalt der einstigen Konzentrationslager hinterlassen hat. Wenn da überhaupt in den Nachkriegsjahren Erinnerung und (Substanz der) Gelände gepflegt worden ist, geschah dies meist im Ergebnis bürgerschaftlichen Engagements, meist angeregt durch deutsche und ausländische Verbände der Opfer des Faschismus. In Hamburg (hier sei nur auf das Beispiel der KZ-Gedenkstätte Neuengamme verwiesen) und anderenorts nicht selten in Auseinandersetzungen mit den Amtsträgern, für die diese Orte im neudeutschen Sprachgebrauch als "standorthemmend" angesehen wurden. Die Gedenkstättenleiter von Dachau und Neuengamme, erst recht die der kleinen Gedenkstätten, wissen ein schaurig Lied davon zu singen.

Erst mit den Ergebnissen der ersten Enquetekommission zur "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur", deren Hauptzweck in der Delegitimierung der DDR bestand, gerieten die KZ-Gedenkstätten der Alt-BRD in den Blickpunkt der Regierung. Sie erhielten staatliche Fördermittel, die jedoch im Wesentlichen für die Erhaltung der Substanz oder Neugestaltungen zweckgebunden waren. Das war zweifellos segensreich für die Gedenkstätten. Nicht gelöst aber ist bis heute die Finanzierung der unmittelbaren Arbeit in den Gedenkstätten. So wird in der Stellungnahme der Leiter der KZ-Gedenkstätten dann auch wieder auf die "Strukturelle Unterfinanzierung der Gedenkstätten" hingewiesen. Ein Ergebnis "seit Jahren gedeckelter Haushalte und der allgemeinen Entwicklung der Kulturhaushalte".

Im Ergebnis dieser Politik mußten pädagogische Mitarbeiter entlassen, Führungen eingeschränkt werden. Bei der Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Dachau beklagte der Präsident des Internationalen Lagerkomitees Dachau (CID), Pieter de Loss, daß für die rund 800.000 Besucher pro Jahr nur sechseinhalb Personalstellen zur Verfügung stehen; es sei nicht möglich, neue Mitarbeiter einzustellen. Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg konnte Mitte Juli 2007 in Anwesenheit bayerischer Politprominenz eine neue Dauerausstellung eröffnen, muß aber auch Mitarbeiter entlassen. Flossenbürg hat keinen pädagogischen Mitarbeiter für die historisch-politische Aufklärung. "Dachau hat immerhin eine pädagogische Stelle", sagte Thomas Lutz vom Gedenkstättenreferat der Berliner Stiftung Topographie des Terrors.

Die "Süddeutsche Zeitung" kam bei einer Betrachtung der gegenwärtigen Situation zu dieser alarmierenden Bilanz: "Allerorten werden in den KZ-Gedenkstätten die Mittel knapp, selbst in den vergleichsweise gut ausgestatteten in Ostdeutschland, wo sich der Bund bereits an den Betriebs- und Personalkosten beteiligt. Von ‚großer Finanznot’ bei den Dauerausgaben spricht etwa der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch. (...) ‚Da hat sich über Jahre die Schere geöffnet’, sagt Morsch, der für die Gedenkstätten Sachsenhausen, Ravensbrück und Brandenburg zuständig ist. Er spricht von ‚Unterbesetzung’ beim Personal. In diesem Jahr habe die Stiftung den Stellenplan um fünf Prozent kürzen müssen. (...) ‚Einem Drittel bis zur Hälfte der Nachfragen von Führungen und pädagogischer Betreuung können wir nicht nachkommen’. (...) Ähnliche Klagen kommen aus Buchenwald. (...) Bei der Konzeption neuer Ausstellungen und beim betreuungsintensiven Jugendaustausch ‚sind wir nicht mehr aktionsfähig’, sagt der stellvertretende Stiftungsdirektor Rikola-Gunnar Lüttgenau." (Süddeutsche Zeitung, 31. 5. 07)

Bereinigte Lehrpläne

Angesichts dieser Lage ist die eindeutige Orientierung der Bundesregierung auf eine noch intensivere "Aufarbeitung" der "Verbrechen der SED-Diktatur" eine Herausforderung für alle, die mit Sorge die allerorts zu beobachtende Relativierung der Verbrechen des NS-Regimes und die Massierung der Bemühungen zur Darstellung der Deutschen als das "eigentliche Opfervolk" verfolgen. Hinzu kommt noch, daß in der Gedenkstättenarbeit engagierte Pädagogen parallel zu dieser staatlichen getragenen Offensive sorgenvoll eine andere Entwicklung konstatieren: Mit den neuen Lehrplänen an den Schulen des Landes scheint, wie der GedenkstättenRundbrief der Berliner Stiftung Topographie des Terrors im Ergebnis einer umfangreichen Untersuchung resümiert, grundsätzlich weniger Zeit für die Behandlung des Nationalsozialismus zur Verfügung zu stehen". In den Lehrplänen Hessens, Mecklenburg-Vorpommerns, Niedersachsens, Rheinland-Pfalz’, Sachsen-Anhalts, Schleswig-Holsteins und Thüringens werde "weder auf die SS noch auf andere NS-Organisationen namentlich eingegangen". Es ergebe sich insgesamt "der Eindruck eines verbrecherischen Staates ohne eigentliche Handlungsträger". Und:

"In den Lehrplänen werden vor allem jüdische Opfer genannt. Ferner Sinti und Roma, sowie die Opfer der ‚Euthanasie’-Verbrechen, seltener ‚andere Opfergruppen’ wie Homosexuelle, politische Oppositionelle, ‚Andersdenkende’, in Schutz- oder Sippenhaft Genommene, kaum die große Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangnen. ‚Asoziale’ Verfolgte kommen in keinen Lehrplänen vor. Dagegen nehmen deutsche Opfer, sowohl der alliierten Luftangriffe als auch von ‚Flucht und Vertreibung’ in den Beschreibungen viel Raum ein." Ebenfalls eine "untergeordnete Rolle" spielten "die juristische Verfolgung der Täter nach der NS-Zeit sowie Aufarbeitung, Vergangenheitsbewältigung, Gedenken und Erinnern im Allgemeinen in den Lehrplänen, was auch eine selten obligatorische Aufforderung zu Gedenkstättenbesuchen im Unterricht erklären bzw. bestätigen würde.

Also auch hier eine neue, mit der Gedenkstättenkonzeption übereinstimmende Entwicklung. In der Untersuchung wird das so auf den Nenner gebracht: "Besonders in den neuen Lehrplänen werden immer häufiger Vergleiche von NS- und SED-Regime angestellt und totalitäre Regime gleichgesetzt" ("GedenkstättenRundbrief" Nr. 134/12, 2006, und Nr. 135/2, 2007).

Für die Fraktion der Linken im Bundestag hatten Ulla Jelpke und Luc Jochimsen zu Neumanns Ankündigung einer neuen Gedenkstättenkonzeption am 23. November 2005 erklärt, die Linke werde "sehr genau darauf achten, inwieweit Intentionen und Inhalt dieses Unionsantrages nun die Politik der neuen Bundesregierung und ihres Staatssekretärs prägen, und, wenn notwendig, parlamentarisch und außerparlamentarisch Widerstand dagegen leisten". Nun liegt das Papier vor. Mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, Bertrand Herz, wird die Linke bei ihrem Widerstand einen guten Verbündeten aus der internationalen antifaschistischen Bewegung haben. Zur diesjährigen Befreiungsfeier Buchenwalds sagte er am 15. Juli auf dem Ettersberg: "Die Politiker, die Historiker und die Kämpfer für den Erhalt des Gedenkens haben noch viel gemeinsame Arbeit vor sich, damit der ‚fruchtbare Schoß’ nicht mehr gebären kann."