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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Eine Hoffnung für Bulgarien

Janeta Mileva

 

Eine Hoffnung für Bulgarien

Von Janeta Mileva

Wenn ich mir heute die Frage stelle „Wie bin ich zu dem geworden, was ich heute bin?!“, so scheint es mir, daß meine gesamte politische Prägung sich vielleicht am einfachsten mit vier Worten zusammenfassen läßt: „Ein Kind des Realsozialismus.“ Andeuten möchte ich damit nicht nur die Zeit, in der ich zur Welt gekommen bin, sondern vielmehr die Zeiten, die auf meine Wahrnehmung der mich umgebenden Welt und auf die Formierung meiner politischen Überzeugungen einen entscheidenden Einfluß genommen haben. Die retrospektive Darstellung meines „politischen Weges“ mag möglicherweise eine sich in die Geschichte einflechtende Geschichte sein, für mich ist sie jedoch der Versuch einer kritischen Reflexion dessen, was meine Weltanschauung – die Weltanschauung einer Teenagerin aus dem Jahr 1989 – maßgeblich geformt hat.

Geboren und aufgewachsen bin ich in Bulgarien in einer Familie überzeugter Sozialistinnen und Sozialisten, so daß „links sein“ und „links denken“ für mich in meiner Kinder- und Jugendzeit ein Selbstverständnis waren. Politische Gespräche gehörten zum Alltag meiner Familie. Zu dieser aus dem Elternhaus resultierenden politischen Grundeinstellung kam meine Sozialisation in den Jahren vor 1989 hinzu. Meine Schul- und Pionierzeit war auf eine Erziehung in Werten wie Gleichheit, kollektives Denken, Solidarität und gegenseitige Hilfe ausgerichtet. Dabei wurde mir schon früh durch meine Eltern und Großeltern vermittelt, daß die für mich als Normalität empfundene unentgeltliche Ausbildung, kostenfreie Gesundheitsversorgung und vollständige Integration von Minderheiten im gesellschaftspolitischen Leben und im Produktionsprozeß einen riesigen historischen Fortschritt darstellten. Ich erlebte in dieser Zeit, daß alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft – zur Schule gehen konnten, ohne daß sie für ihre Ausbildung bezahlen mußten. Kostenlose ärztliche Versorgung und regelmäßige Impfungen in den Schulen gehörten zum Alltag. Studieren konnte jede und jeder, wenn die einzige Voraussetzung dafür – die jeweiligen Aufnahmeprüfungen erfolgreich abzulegen – erfüllt wurde. Gebührenfreie Urlaubsmöglichkeiten in den Schulferien konnten von jeder Familie in Anspruch genommen werden: ob Pionierlager am Schwarzen Meer oder Wandertouren in den Bergen – jedes Kind konnte jedes Jahr auch ohne seine Eltern Urlaubszeit genießen. Aber auch jeder Familie war die Möglichkeit gewährt – aufgrund der preiswerten Urlaubsstätten, die die Betriebe selbst gebaut und gepflegt hatten – alljährlich in Urlaub zu fahren. Über 80% der Bevölkerung besaß eine Eigentumswohnung und ein eigenes Auto.

Infolge der starken wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Entwicklung des Staates erfolgte ein Aufschwung im Aufbau insbesondere der Dörfer und der kleineren Städte, zu denen auch meine Heimatstadt Karlovo gehörte. Im Produktionsprozeß wurde Vollbeschäftigung erreicht, und durch die intensive Industrialisierung war sogar Mangel an Arbeitskräften zu spüren. Schülerinnen und Schüler wurden im Rahmen sogenannter „Sommer-“ oder „Herbstbrigaden“ in der Landwirtschaft als Aushilfe eingesetzt. Auch wenn mir abends der Rücken schmerzte und die zerkratzten Hände weh taten, kam es mir unglaublich wichtig vor, mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern im Juni um 4 Uhr – noch bei Morgendämmerung – durch die riesigen Rosengärten zu gehen und die noch nicht aufgegangenen Rosenblüten zu pflücken oder im September auf den Weinbergen bei der Traubenernte dabei zu sein.

Ich war 14, als ich eines Tages zu Hause meine Eltern von der Absetzung von Todor Zhivkov als Generalsekretär des ZK der Bulgarischen Kommunistischen Partei habe reden hören. Womöglich haben meine Eltern geahnt, daß dieses „Ereignis“ eine grundlegende Veränderung des gesamten gesellschaftlich-politischen Lebens mit sich bringen würde, da wir Kinder erstmal aus den vertraulichen Gesprächen der Erwachsenen herausgehalten wurden. Plötzlich war ich Zeitzeugin der sogenannten „demokratischen“ Wende, die in Bulgarien leise und friedlich eintrat. Damals war es mir kaum bewußt, weder was darunter zu verstehen ist noch, welches Ausmaß die tiefgreifenden Konsequenzen dieser „friedlichen Revolution“, die uns die westeuropäischen Wertevorstellungen bringen sollte, für den Staat und für die Bevölkerung in den kommenden Jahren erreichen sollten. Der umfassende Zerfall der Staatlichkeit war bald in jeglicher Hinsicht zu spüren. Anfang der 90er Jahre wurde eine massive Umstrukturierung der Wirtschaft forciert, was fast zur Halbierung der Arbeitsplätze in der Industrie geführt hat. Die bis dahin unbekannte enorme Arbeitslosigkeit, die niedrigen und unregelmäßig ausgezahlten Löhne sorgten für eine allgemeine soziale Unsicherheit. Die Beschäftigung in der Industrie ging von 45,3% im Jahr 1989 auf 27,6% im Jahr 2003 zurück. Von 1989 bis 1993 ging das Bruttonationalprodukt (BNP) jährlich zwischen 3% bis 8,45% zurück. Hiervon betroffen war vor allem die Industrieproduktion, die sich von 57,6% am BNP im Jahr 1989 auf 28,61% bis zum Jahr 1992 reduzierte. Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden vollständig zerschlagen und die Agrarflächen an die früheren Besitzer restituiert. Infolgedessen gibt es heute in Bulgarien nach offiziellen Angaben über 700.000 landwirtschaftliche Betriebe. Dabei handelt es sich oft um sogenannte Subsistenzbetriebe, die lediglich die Nahrungsmittelproduktion für die eigene Familie oder für kleine Verkaufsstellen ermöglichen. Der hohe Anteil gerade von Frauen an den Beschäftigten in diesem Bereich wie auch in anderen Formen der informellen Ökonomie (zwischen 30 und 40%), hat ihre gesellschaftliche Teilhabe dramatisch verschlechtert.

Aus der massenhaften Privatisierung und Schließung von Betrieben sowie aus der Zerstörung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften entstand eine verzweifelte Perspektivlosigkeit für die Menschen, die in den kleineren Städten oder auf dem Land lebten. Dies setzte wiederum einen erheblichen Migrationsprozeß in Gang – von den kleineren Städten und Dörfern hin zu den größeren Städten, dabei insbesondere zur Hauptstadt, und ins Ausland. Die Zeit der sogenannten Transformation hat den Staat bereits zu einer demographischen Katastrophe geführt: Zwischen 1989 und 2009 verließen nach inoffiziellen Daten ca. 1.700.000 Menschen Bulgarien, was ca. 20% der gesamten bulgarischen Bevölkerung ausmacht. Dabei handelt es sich insbesondere um junge und gut ausgebildete Menschen, die im eigenen Staat keine persönliche und berufliche Perspektive mehr sehen. Hinzu kommt, daß innerhalb der Europäischen Union Bulgarien zur Zeit der Staat mit dem höchsten negativen „natürlichen Bevölkerungszuwachs“ ist: -4,3‰: Für das Jahr 2008 lag die Differenz zwischen neugeborenen und gestorbenen Personen bei über 30.000.

Parallel zur Zerstörung der Wirtschaft und zum Abbau von Arbeitsplätzen verlief eine umfangreiche politische „Säuberung“ in den Betrieben, im öffentlichen Dienst und im gesamten Staatsapparat. Menschen verloren ihre Arbeitsplätze nur wegen ihrer Parteimitgliedschaft und wurden einer rücksichtslosen und vernichtenden Verunglimpfung öffentlich ausgeliefert. Wer in diesen Zeiten dennoch den Mut aufgebracht hat, linker Gesinnung treu zu bleiben und sich offen dazu zu bekennen, setzte sich und seine/ihre ganze Familie einer kompletten beruflichen und Lebensperspektivlosigkeit, öffentlichem Terror bis zu anonymen Morddrohungen aus. Die zwischenmenschlichen Beziehungen waren von politischem Haß und Intoleranz geprägt. Dies machte sich bis in die Schule bemerkbar, wo Schülerinnen und Schüler in härtesten Auseinandersetzungen untereinander die unterschiedliche Erfahrung und Einstellung ihrer Eltern austrugen. In dieser Zeit erlebte ich auch in meinem unmittelbaren Umfeld, wie ehemalige überzeugte Parteifunktionärinnen und -funktionäre – zum Teil im Zeitraffertempo – sich der neuen Zeit und der neuen Ideologie anpaßten.

Die soziale Polarisierung wurde immer deutlicher: auf Grund der neuen Umverteilung und Kapitalakkumulation entstand eine kleine Schicht sogenannter „Neuer Reicher“, und die frühere Gleichheit wurde ziemlich schnell durch eine fest verankerte Ungleichheit und eine weitgehende, den größten Teil der Bevölkerung umfassende Verarmung ersetzt. Neu gegründete Privatbanken gingen Mitte der 90er Jahre massenhaft bankrott und die lebenslangen Ersparnisse vieler Menschen verschwanden von heute auf morgen spurlos. Eine riesige Inflation blühte und erreichte im Jahr 1996 über 300% im Jahr. Den Rentnerinnen und Rentnern wurden beschämend niedrige Renten zuerkannt, so daß viele ihre Wohnungen verloren und nur durch Betteln oder Mülleimerdurchwühlen gegen den Hunger kämpfen konnten.

Minderheiten, insbesondere die Roma, die heutzutage zwischen 4 und 6% der Bevölkerung Bulgariens ausmachen, wurden aus der Gesellschaft ausgegliedert und an deren Rand gedrängt. Von der höchsten Arbeitslosigkeitsquote betroffen, ohne Ausbildung und immer häufiger als Analphabeten auf niedrigste Sozialhilfe angewiesen, verfielen sie allmählich aber fest in klanartige soziale Strukturen aus der vordemokratischen Zeit.

Bildung und Gesundheit wurden zur Ware, die sich nur diejenigen leisten konnten, die das Geld dafür hatten. Urlaub wurde für die Mehrheit der Menschen in Bulgarien zum Luxus. Die breite Verarmung der Bevölkerung förderte die flächendeckende Ausbreitung von Korruption und Kriminalität in der Gesellschaft und im Staatsapparat. Mit einer verheerenden Beharrlichkeit zerstörte die neue politische Elite die vielen Denkmäler, die dem Widerstand gegen den Faschismus gewidmet waren. Denkmäler und Gedenkstätten zur Ehrung der Sowjetischen Armee wurden geschändet. Dieser zerstörerische Prozeß gipfelte im gewaltsamen Überfall auf das bulgarische Parlament und im Brand des zentralen Parteihauses in Sofia.

Als ich 2001 im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms für fünf Monate nach Deutschland kam und anschließend daran ein Praktikum bei der damaligen PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag absolvieren konnte, gewannen auf meine politische Entwicklung neue Faktoren Einfluß. Vor allem die Präsenz der deutschen Linken im alltäglichen politischen Leben und die Breite der politischen Debatte in linken Kreisen haben mich tief beeindruckt. Anders als in Bulgarien, wo jegliche öffentliche linke Diskussionen zum Erliegen kamen und sich eine kritische Gegenöffentlichkeit gegen die neoliberale Umwandlung des Staates nicht herausbilden konnte, erlebte ich in Deutschland offene und auch öffentlich wahrnehmbare linke Diskurse. Dieser große Unterschied zwischen dem Verlauf der politischen Diskussionen in Deutschland und Bulgarien, die Möglichkeiten zur politischen Arbeit, die wichtige Rolle der deutschen Gewerkschaften, die pluralistischen linken theoretischen Debatten und die vorhandene linke politische Bildungsarbeit waren für mich eine völlig neue Erfahrung.

Ende 2002 kam ich dann zu einem Promotionsstudium wieder nach Berlin und lernte die rohe Seite des westeuropäischen Kapitalismus unmittelbar kennen. Um mein Studium selbständig finanzieren zu können, nahm ich schichtweise gleichzeitig drei unterschiedliche Jobs auf und erlebte hautnah die lange Arbeitszeit und die vielen Überstunden, die ungerechte Bezahlung, die schnelle Kündigung als Konsequenz von Krankwerden, die Gefahr von Kündigung, wenn man Interesse an der Gründung von gewerkschaftlichen Strukturen zeigte und vieles Ähnliche. Zum Studieren blieb mir fast keine Zeit mehr. 2003 konnte ich dank eines Promotionsstipendiums der Rosa-Luxemburg-Stiftung mein Studium erst richtig aufnehmen. Aber es war gerade auch die ideelle Förderung durch die Stiftung und die politische Bildungsarbeit, die für die nächsten Jahre mein politisches Wissen weiter formte.

Durch die Arbeit an meiner Dissertation im europäischen Verfassungsrecht ergab sich meine fachliche Spezialisierung im Bereich der Europapolitik, der ich auch meine politische Arbeit im Wesentlichen gewidmet habe. Seit 2007 arbeite ich als Referentin für Europapolitik bei der Bundestagsfraktion DIE LINKE. Über die WASG bin ich auch Mitglied der Partei DIE LINKE geworden und versuche meine Überzeugung, daß eine andere Europäische Union, eine andere bessere und gerechtere Zukunft möglich ist, auch durch parteipolitische Arbeit weiterzutragen.

Ich lebe und arbeite – sowohl im beruflichen als auch im politischen Sinne – zwar in Deutschland, bleibe aber – vielleicht unter anderem auch, weil ich eine gebürtige Bulgarin bin – sehr stark internationalistisch orientiert. Mit großem Schmerz sehe ich, wie schwer es die linken Kräfte in den Staaten Mittel-, Ost- und Südeuropas in der heutigen Zeit haben und wie die extreme Rechte immer mehr an Kraft gewinnt. Um so mehr wächst meine Hoffung, daß mit der im April dieses Jahres gegründeten neuen Partei „Die Bulgarische Linke“ die fast zwanzig Jahre lang vorhandene Lücke im politischen Raum Bulgariens mit einer linken Kraft gefüllt wird, die den dort lebenden Menschen neue Hoffnung gibt und für ihre Rechte und Interessen kämpft. Heute versuche ich durch meine Arbeit bei der Partei DIE LINKE, im Vorstand des Vereins „Helle Panke“ und bei den „NaturFreunden“ meine sozialistischen Überzeugungen einzubringen und umzusetzen und bemühe mich – soweit es mir möglich ist – den Aufbau der Bulgarischen Linken zu unterstützen.