Eine Frage - Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Thomas J. Richter und Heike Friauf
Eine Frage, liebe Genossinnen und Genossen: Wer von Euch findet die Zeit und die Begründung, Mickel zu lesen, Hacks, Kirsch? – Programmdiskussionen, Sitzungen, Beschlüsse: Wie viel Kraft und Zeit habt Ihr, wenn Ihr ehrlich seid, für die Dinge, die eigentlich erst offenbar werden lassen das Ziel einer anderen Gesellschaft? Für die Kunst? Ob Ihr über den täglichen Zerspaltungen noch auf das achten könnt, was Euch an die wesentlichen Menschheitsfragen gemahnt? Habt Ihr noch Zeit, den nicht-entfremdeten Menschen zu sehen? Die Schönheit?
"Ohne Kunst", schrieb der Dichter Karl Mickel, "ohne Kunst sähen wir nur 1/10 des Wirklichen."
Vor zehn Jahren, am 20. Juni 2000, starb Karl Mickel. Vor 75 Jahren, am 12. August 1935, wurde er geboren. Wenn wir uns an Mickel erinnern, tauchen mit ihm die Dichterkollegen und -freunde auf. Das ist nicht selbstverständlich in der deutschen Kulturlandschaft, in der Dichter und Denker gern als Einzelgrößen gehandelt werden, vom Hohen Paar Goethe und Schiller vielleicht abgesehen. Doch für Mickel wie für die gesamte deutschsprachige Literatur, die in der DDR entstand, war der Austausch unter Freunden charakteristisch, und zwar nicht nur zum Zweck des Saufens, sondern ganz besonders zum Reden über Literatur. Die Sächsische Dichterschule, der die großartigen Schriftsteller Volker Braun, Sarah Kirsch, Rainer Kirsch, Heinz Czechowski, Adolf Endler, Bernd Jentzsch, Richard Leising und B. K. Tragelehn zugeordnet werden und nicht zuletzt Mickel, muß auch deshalb Schule genannt werden, weil sich die Dichter untereinander schulten, weil sie sich austauschten im Streben nach höchster literarischer Qualität. Dazu gehörte ein hoher Anspruch an Genauigkeit im Inhalt und damit an Übereinstimmung von Inhalt und Form. Arbeit war das, und Mickel war ein akribischer Arbeiter.
Zunächst hatte er Wirtschaftsgeschichte studiert, unter anderem bei Jürgen Kuczynski in Berlin. Helene Weigel engagierte ihn am Berliner Ensemble, wo er bis zur Abberufung von Ruth Berghaus blieb. Danach arbeitete er als Dozent, später als Professor an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", was ihn nicht von Theaterarbeit an den Staatsopern Berlin und Wien, am Hamburger Thalia Theater und anderswo abhielt.
Hierin liegt auch ein Grund für die geringere Bekanntheit Mickels. Ein neues Stück von Volker Braun wurde weithin besprochen, Mickels Wirken auf die Inszenierungsarbeit von Ruth Berghaus erkannten vergleichsweise wenige. Während die Kolleginnen, Kollegen und Freunde – zum Ausgleich für die oben angeführten mehrheitlich männlichen Namen seien hier genannt Elke Erb und Kerstin Hensel – wesentlich häufiger gelesen wurden und eine quer durch die Gesellschaft gehende Anhängerschaft hatten, blieb Mickel vielen unbekannt. Sein strenges, schmales Werk erreichte deutlich weniger Menschen – eine Ausnahme bildet vielleicht der Lyrikband "Odysseus in Ithaka", 1976 erschienen –, unterhalb der Ebene der Öffentlichkeit jedoch hatte er einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das Literaturschaffen und das Theater- und Musikleben seines Landes. Da sich nun vieles behaupten läßt, besonders über einen Freund, sei ein der Wahrheit und der Kunst verpflichteter Literaturkritiker zitiert, der Mickels gesamtes Wirken und Werden begleitet hat, der Dichterkollege Rainer Kirsch.
"Karl Mickel gehört" zu den drei, vier seiner Generation in der DDR, "deren beste Arbeiten höchstem Anspruch standhalten". "Ihrer Methode gemeinsam ist Genauigkeit in der Behandlung des Gegenstands – das Charakteristische regiert das Ästhetische –, scharfes, am Marxismus geschultes Reflektieren der Epoche und das bewußte Weiterarbeiten klassischer poetischer Techniken. Wenn deren Hauptkategorien Strenge und Einfachheit sind, und wir einräumen, daß Einfachheit nicht an umlaufenden Vorstellungen von Verständlichkeit, sondern an der Durchleuchtung des Gegenstands zu messen sei, ist Mickel ein klassischer Dichter." Da wir nun diesen präzisen Gewährsmann haben, nutzen wir noch ein wenig die Beschreibung des Künstlerkollegen. Welcher Dichter schreibt heutigentags noch derartig uneitel und fachkundig über Kollegen? "Mickel ist 1,77 cm groß, er wird 41 und wiegt 62 Kilo. Er ist Zigarrenraucher, als Getränk bevorzugt er Rotwein, ist aber darauf nicht festgelegt. Verabredungen hält er mit sicherer Intuition entweder ein oder nicht ein. Er gehört zu den wenigen Menschen, mit denen man eine Nacht verreden kann, ohne sich je zu langweilen. Er fährt ein Diamant-Rennrad und spielt mit Vehemenz Tischtennis, erfolgreiche Schläge des Gegners bedenkt er mit Beifall, erfolgreiche eigene erklärt er. Sein Lesekonsum ist enorm; er teilt daraus mündlich, gelegentlich in Essays mit, die ebenso stringent wie voll verdeckter Überrumpelungen sind. Die Vorstellung, nur gelesen zu haben, was er an Büchern besitzt, entsetzt ihn. Er weiß viele eigene Gedichte auswendig und bietet sie im geselligen Kreis ohne Zögern; eine Professur über deutschen Versvortrag könnte er konkurrenzlos ausfüllen, doziert aber in diesem Jahr nur gastweise an der Friedrich-Schiller-Universität Jena über Probleme des Erbes." Rainer Kirsch 1976.
Zu ergänzen wäre, daß Mickel jederzeit mit jedem in jeder Berliner Kneipe ins Gespräch kommen konnte. Er ging mit Vorliebe an Orte, an denen es etwas zu erfahren und vom Leben zu lernen gab. Obendrein recherchierte er detailbesessen. Sollte etwa ein Hufschmied in seinem Text auftreten, las er über Hufschmiede und ihre Arbeit, was er finden konnte, und suchte womöglich noch einen auf, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Kunstfertigkeit seiner Gedichte darf uns nicht täuschen, schon gar nicht von der Lektüre abhalten. Zur sozialen Beobachtungsgabe trat die Verantwortung gegenüber den Menschen, ihrem Leben und ihrer Arbeit. Wenn Mickel Marxist war – woran kein Zweifel ist, dann ein tätiger.
Auch ein sinnlicher. Zwei sehr verschiedene Stücke versammelt Band 4 der Werksausgabe: die Komödie "Weiberherrschaft" von 1971 und "Die Gebeine Dantons", eine auf Wunsch des Komponisten Friedrich Schenker 1987 entstandene "Radio-Oper nach Büchner". Diese vom Dichter beabsichtigte Zusammenstellung zweier unterschiedlicher Werke zeigt anschaulich Mickels dialektische Arbeitsweise und seine bis ins Kleinste durchdachte Art, dem Theaterbesucher ein Fenster zur Welt zu öffnen: "Eine Komödie und eine heroische Oper verhandeln Revolutionen; Mickel setzt Aristophanes und Büchner an einen Tisch und stiftet sie zum Dialog an. Der alte Pornograph A. gesteht seinen sittlichen Ernst, und der blutjunge Melancholiker B. reißt fortwährend Witze von der unanständigsten Art." Solches verrät der Klappentext zum vierten Band, der dabei die Feder Mickels verrät.
Im in Halle und Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Verlag erschienen sechs von sieben geplanten Bänden einer Werkausgabe, darunter Gedichte aus den Jahren 1957 bis 1988. Im Jahr 1991 erschien als fünfter Band der Roman "Lachmunds Freunde", über den der junge Schriftsteller Ronald M. Schernikau schrieb: "Den Stoff bilden der 17. Juni so selbstverständlich wie Boxkämpfe, Mozart, Kartoffelernten, das Studium der frühen DDR sowie die intensiv gelebte Heterosexualität der drei Helden. Allein die Analyse der Namen ergäbe eine sehr amüsante Magisterarbeit. Hier werden Errungenschaften Goethes für das Heute behauptet: was ein Buch ist, ein Text, was Literatur. Die Behauptung erzeugt einen großen deutschen Epochenroman."
Schernikau ergänzte allerdings auch: "Mal sehen, wie lange die DDR-Autoren solche Höhe noch halten können, ohne DDR."
Zunächst konnten sich viele DDR-Verlage nicht oder nur schlecht halten. Mickels Werke drohten im Lager zu verstauben. Mit Hilfe des Literaturwissenschaftlers Klaus Völker und viel Geduld fand sich ein angesehener neuer Verlag. 2006 legte der Göttinger Wallstein Verlag den Roman "Lachmunds Freunde" neu auf, diesmal mit dem (von Mickel nicht mehr vollendeten) zweiten Teil.
Zwei Jahre vorher erschien bei Wallstein bereits eine bemerkenswerte Sammlung, die "Geisterstunde". Die "Geisterstunde" war ursprünglich ein Privatdruck, den Mickel selbst 1999 – wie wir heute wissen: in seinem letzten Lebensjahr – in wenigen Exemplaren veröffentlichte. Hierin versammelte er vor allem Gedichte, die von 1963 bis zuletzt entstanden waren und ihm offensichtlich besonders viel bedeuteten. Enthalten ist auch die Goldberg-Passion, das Libretto, das Mickel 1996 schrieb und zu dem Friedrich Schenker 1998/99 komponierte. Die Musik bezieht sich auf J. S. Bach, natürlich, und der Text beruft sich auf soziologisch-historische Untersuchungen von Regina Goldmann. Uraufgeführt wurde die Passion schließlich 1999 in Leipzig. Wir erwähnen das in dieser Ausführlichkeit, um das Ausmaß des Verlustes wenigstens anzudeuten. Zurück zum nun öffentlich zugänglichen Privatdruck. Gedichte und Libretto, neu von Mickel in vier Zyklen angeordnet, bilden ein wahres Herzstück in Mickels gesamtem Werk. Zumindest die in "Geisterstunde" enthaltenen Gedichte sollte man von Mickel gelesen haben, wenn man von deutscher Dichtung im 20. Jahrhundert spricht.
Dazu gehört auch "Gescheiterter Plan zum Ewigen Frieden":
"Die Hoffnung auf Ewigen Frieden / Im schlimmen 90er Jahr / Ist auf Nimmerwiedersehn geschieden / Da Alles doch so greifbar war:" So beginnt dieses vielstrophige Gedicht, und es endet: "Sperma, Wodka und Camel: / Die Säulen stehn dreieiniglich / Als wie ein dreibeiniger Schemel. / Ein solcher Schemel kippelt nicht. // Das wär’s gewesen. / Perfektes Kalkül! / Nur, wie Figura zeigt, sind die / Imperien fragil."
Für den Schriftsteller Mickel, 1935 in Dresden geboren, wie für viele Künstlerinnen und Künstler seiner Generation bildet die Bombardierung Dresdens ein Schlüsselerlebnis. Um einen einfachen Satz zu formulieren: Vor diesem Erlebnishintergrund ist Mickels gesamtes Werk zu sehen. Eines der bekannten Gedichte, "Die Friedensfeier", bringt ein kindliches Schutzbedürfnis zum Ausdruck, zeigt die Verletzlichkeit des Menschen, verdammt den Krieg. "Wers kann, kann auf ausgeblasnen Raketen / Wie auf Taminos Zauberflöte flöten / Mit U-Booten fangen wir Haie und andere Fische / Die Frauen decken die Generalstabstische / An Schlagbäumen werden Ochsen und Hammel gebraten / Von nackten Männern, die waren Soldaten / Und besser als die Uniformen können / Wärmt sie das Feuer, drin die Uniformen brennen."
Bei einem der spektakulären Lyrikabende, als die Akademie der Künste noch eine solche war, 1962, trug Mickel seine "Friedensfeier" vor. Ihm habe, so sagte er später, Wolf Biermann am heftigsten widersprochen. Zwanzig Jahre später komponierte Friedrich Schenker die "Friedensfeier", dieses "Hohelied auf eine nützliche Zerstörungsarbeit" (so Stefan Amzoll), als Gesangsarie. Bei anderen Gelegenheiten folgte die Vertonung schneller, war sie bereits mitgeplant. Mickel schrieb wichtige Libretti, für Paul Dessau ("Einstein", die 1974 uraufgeführte Oper), für Schenker (1987 "Die Gebeine Dantons", 1993 "Gefährliche Liebschaften oder Der kalte Krieg", uraufgeführt in Ulm 1997).
Alles ist endlich. Doch womit enden? Mit einer Episode. Als Bert Papenfuß, der von Mickel hochgeschätzte junge Dichter, wieder einmal mittellos und beinahe barfuß in Mickels Friedrichshagener Wohnung vorbeikam, schenkte der ältere Kollege ihm ein Paar Sportschuhe. Warum erzählen wir das? Lest Mickel, einen der Unsrigen.