Eine Flasche Wein für Thomas
Reinhard Loeff
Eine Flasche Wein für Thomas
Von Reinhard Loeff
Im Juli 1963 bin ich geboren, mein Bruder kam im Dezember 1965 zur Welt. Meine Eltern, beide Jahrgang 1937, erlebten als Kinder den 2. Weltkrieg und hassen ihn deshalb. Mein Bruder und ich konnten in Ruhe lernen in einer friedlichen guten Kindheit. Im Reichsbahn-Ausbesserungs-Werk Cottbus erlernte ich von 1980 bis 1982 den Beruf des Triebfahrzeugschlossers – oft Lokschlosser genannt, ab Ende 1982 war ich Lehrfacharbeiter.
Im Sommer 1981 kamen junge Leute aus Namibia ins RAW. Dunkelhäutig fielen sie auf, sangen und lachten gerne. Von „den Neuen“ wußten wir, sie wurden von der SWAPO zur Lehre zu uns geschickt. Ich war Lehrling im 2. Lehrjahr und neugierig auf die lustigen Jungs. Manchmal redete ich mit ihnen. Lachend erzählten sie, deutscher Schnee ist kalt und naß, der Sommer habe Sonne, aber „keine Hitze“.
Im April 1984 fragten mich mein Meister, der zuständige Lehrmeister und der Parteisekretär, ob ich auch die Namibier ausbilden würde. Man habe mich beobachtet, viel Gutes über mich gehört. Die Namibier sollten später selbst Ausbilder sein. „Bist richtig dafür, wir brauchen Dich!“
Tags darauf sagte ich zu, alle in Familie und Betrieb wollten helfen und haben mich später nicht allein gelassen. Unvergeßliche 9 Monate kamen. Zwei Wochen darauf stand ein kleiner junger Mann vor mir und stellte sich vor: „Ich bin kleiner Thomas – okaschona Thomas, bei uns noch langer Thomas – bumbo Thomas, da bei Kurbelwelle.“ Rübergucken und vergleichen – paßt. „Und wer bist Du?“ Ich stellte mich vor, erzählte, wofür reparierte Abgasturbolader da sind, was die Meisterei mit den riesigen 3000-PS-Dieselmotoren zu tun hat. Er staunte.
Ich fragte, was er schon alles kann, er hatte vieles parat. „Aber noch nicht Meßschraube messen, Gewinde schneiden und wechseln, Toleranz einbauen.“ Dazu: „Hammer mit Stiel neu und Meißel neu kann ich, aber nicht gut, muß ich machen. Aber Werkzeug putzen gut, da hab ich Eins.“ Alles wie aus der Pistole geschossen. Er fragte weiter: „Was ich nicht kann – kann ich bei Dir machen? Dabei viel aufschreiben für zu Hause?“ Imponierend, diesen Elan suchte ich bei DDR-Lehrlingen oft vergebens. Da kommt okaschona Thomas, fordert mich gleich voll. Er hatte also fachliches Vertrauen. Noch war ich skeptisch, ob ich in neun Monaten bis zur Prüfung mit ihm alles hinkriege. Thomas war stolz, daß er in der DDR überhaupt Schreiben, Lesen und Mathe bis zur sechsten Klasse gelernt hatte. Er will die Facharbeiterprüfung mit meiner Hilfe mit Zwei schaffen. Klares Ziel – klare Ansage, mit dem Willen mußte es gehen. Gleich am ersten Tag zeigte er, was er kann, dabei fragte er immer wieder und schrieb. Abends rauchten wir geschafft und zufrieden die erste Kollegen-Zigarette.
Mit Thomas wurde es anstrengender und schöner. Er und der später dazugekommene Axel wollten alles wissen. Von der Bahn, alles von der DDR und ihrem Alltag. Dabei arbeiteten wir weiter, ich beantwortete die Fragen, so gut es ging. Thomas wurde beim Thema Frauen still und sagte: „Bei den Partisanen dürfen wir keine Freundin oder Frau haben. Wenn wir tot sind, wer sorgt dann für die Freundin oder die Frau und das Kind, wenn eins kommt?“ So sah ich das vorher nie, ich war ja im Frieden groß geworden. Thomas kam aus der SWAPO-Guerilla, er erzählte mir Details über Sprengladungen, und daß er damit 1980 in Namibia Züge voller Bodenschätze in die Luft jagte. Daß er im Kampf gewesen war, konnte ich an Armen und Beinen voller Narben von Granatsplittern und Schüssen sehen. Solche Narben kannte ich von alten Männern bei uns.
Langsam taute Thomas auch privat auf, er erzählte mir seine schlimme Geschichte. Seine Eltern waren von Südafrikanern im Heimatdorf erschossen worden, das Dorf war verdächtig, mit der SWAPO zusammenzuarbeiten. Da war er 14, konnte sich verstecken, er flüchtete voller Angst nachts mit Schwester und Bruder weiter nach Norden. Da sollte es in Angola gute Weiße aus Kuba geben, die helfen und die Apartheidarmee bekämpfen. Irgendwann sind die drei dann einer kubanischen Militärstreife in Süd-Angola in die Arme gelaufen, die sie ins Flüchtlingslager brachte. Da gab’s erst mal Essen und Trinken, danach viele Fragen. Kubanische Ärzte haben Thomas’ Alter nach Tests bestimmt, er konnt’s selbst nicht sagen. Sie fanden, er muß im Februar 1964 geboren sein. So etwas war für mich unfaßbar. Bei den Kubanern sah er erstmalig Ärzte. Weiße, die ihm gütig halfen. Das erzählte ich auch daheim. Nach einigen Wochen lud unsere Familie Thomas und Axel ein.
Am nächsten Samstag waren sie da, mit Blumen für Mutter, Bier für die Männer der Familie, sehr praktisch. Sie stellten sich vor, erzählten von der Arbeit, was sie können, was sie mit mir lernen, was sie schaffen wollen – sie schwitzten jetzt wie DDR-Kollegen, erzählten sie lachend. Sie fragten Eltern und Bruder aus nach der Arbeit, eben nach allem, wie bei mir im Reichsbahn-Ausbesserungswerk. Als sie von meiner Mutter hörten, daß sie Lehrerin und Vater Arzt ist, haben beide meine Eltern lange umarmt. Sie sagten damit Danke für das, was sie lernten und an Hilfe bekommen haben. Im Lager in Angola und in der DDR ginge alles immer so schnell ohne Zeit zum Dank, erzählten sie. Wir waren gerührt. Meinen Bruder, einen Offiziersschüler, schlossen sie als Waffenbruder ins Herz. An diesem Abend gab es viel zu erzählen, viel zu hören, viel zu lachen. Thomas meinte nach Mitternacht zum Abschied zu meinen Eltern, sie seien wie seine, er fühle sich zu Hause. Da hatten wir Weißen feuchte Augen. Wir trafen uns danach oft zum Feiern.
Außerhalb des Lehrplans brachte ich den Jungen Sabotagetricks gegen Dieselloks bei, nützlich für den Untergrundkrieg. Ab 1986 las ich in Medien öfters über technische Probleme, die die Südafrikaner mit den Bahnen in Namibia hatten.
Im Herbst 1984 war ich auf einem Lehrgang, wo ich mir den rechten Knöchel brach. Mist, wegen dem Gips kann ich Thomas nicht mehr helfen, dachte ich. Aber uns allen fiel dazu was Passendes ein. Mit dem Dienstwagen wurde ich oft ins Wohnheim und zurück gebracht. Da konnte ich mit Thomas und Axel lernen, meistens paukten wir bis dreie nachts. Im Januar 1985 war ich wieder fit. Die Prüfung war im Februar fällig. Von den Kollegen gab’s für beide Namibier viel Lob, weil sie hilfsbereit und eifrig waren und viel dazulernten. „Scheiße, daß sie wieder weg müssen, mit denen ist’s schön.“ meinten sie. Anfangs waren ihre Vorbehalte nicht gering. Stolz war ich auf meine Jungs, auf Vorschlag der Kollegen besorgten wir für beide Prachtkerle eine Sonderprämie.
Zur letzten SWAPO-Versammlung Ende Januar 1985 sollte ich kommen. Da waren sie alle. Die Gäste wurden zu Beginn vorgestellt, auch ich – Getuschel. Der SWAPO-Parteisekretär verlas die Tagesordnung: Aufnahme eines Mitgliedes. Der Cottbuser Zugführer der SWAPO-Kämpfer verkündete, daß ehrenhalber der „Comrade Reinhard Loeff“ in die SWAPO und in die „Army“ mit Dienstgrad aufgenommen werden soll. – Ich war fertig. Ich hatte doch nur meine Arbeit getan. Daß die Familie und ich viel mit den Jungs, vor allem mit Thomas, machten, gehörte dazu. Ich war betreten: soviel Ehre für eine harte, aber schöne Zeit? Ich lernte dabei ja auch viel.
Der Vize-Botschafter fragte, ob ich diese Wahl und Auszeichnung annehme. Mit Kloß im Hals sagte ich ja. Einstimmig beschlossen sie die Ehrung und sangen für mich die SWAPO-Hymne. Ich bekam das T-Shirt, das SWAPO-Mitgliedsabzeichen und die SWAPO-Zeitung. Vize-Botschafter und ein mitgereister SWAPO-Kommandeur ernannten mich im Auftrag der Führungen zum Ehren-Leutnant der SWAPO-Volksbefreiungsarmee. Thomas begründete: „Du bist ein guter Freund, Deine Familie und Deine Freunde sind lieb zu uns. Du hast mit uns gearbeitet, gefeiert, und die Zeit war Dir egal. Ich habe bei Dir arbeiten und feiern gelernt. Hast dafür gesorgt, daß wir uns besser verstehen mit guten Weißen. Du gehörst zu uns! Sag das Deinen Leuten!“ Klar, die Ehrung wurde dort auch gleich gefeiert. Und ich merkte, die schöne Zeit geht zu Ende.
Das Beste, die Prüfung, kam: In der Theorie eine 2, in der Praxis „Ausgezeichnet“ und die Lehrfacharbeiter-Urkunde. Bei Axel dasselbe. Super! Am späten Abend nach der Prüfung brachte Thomas mich heim. Vor Glück hatten wir „gesoffen wie Eisenbahner“. Er war da besser als ich. Der Abschied in Berlin-Schönefeld Ende Februar 1985 war verdammt schwer, wir bauten beide am Wasser. Ich suche ihn übers Internet bis heute. Ich werde ihn finden, zum Feiern – oder sein Grab. Mit ihm verbindet mich viel, wir stehen auf derselben Seite.
Wenn ich mit meinen Freunden an diese Monate zurückdenke, öffne ich eine Flasche Wein – auf Thomas, der auch gern Wein trank. Und wir stoßen auf Thomas an und sind still. Wie sagte er zum Schluß an der Gangway? „Hab beim Leutnant arbeiten, Sabotage, trinken und Kommunismus gelernt – so in der Reihe.“ Ich schmunzelte damals. 1990 wurde Namibia frei. Heute frag ich mich, wo er ist.